Lübcke-Prozess: Gericht lässt mutmaßlichen Mordkomplizen frei

Im Prozess um die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) wurde am Donnerstag der mitangeklagte Neonazi Markus Hartmann aus der Untersuchungshaft entlassen.

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt befand, Hartmann sei „nicht mehr verdächtig, sich der Beihilfe strafbar gemacht zu haben“. Er muss zwar weiterhin an der Verhandlung teilnehmen, sich aber nur noch wegen Waffendelikten verantworten. Dafür, so das Gericht, sei die Straferwartung so gering, dass nach einer Untersuchungshaft von einem Jahr und drei Monaten deren weitere Fortdauer unverhältnismäßig wäre.

Hartmann war am 26. Juni 2019 verhaftet worden, einen Tag nachdem der Hauptangeklagte Stephan Ernst gestanden hatte, Lübcke am 1. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses in Kassel aus nächster Nähe erschossen zu haben. Dabei hatte er auch seinen Freund Hartmann belastet. Ihm wurde vorgeworfen, er habe von Ernsts Mordvorhaben gewusst, ihn darin bestärkt und angeheizt und ihm den Kontakt zu einem Waffenhändler vermittelt.

Ernst zog sein Geständnis später zurück und legte Anfang dieses Jahres ein neues Geständnis ab, in dem er Hartmann beschuldigte, den tödlichen Schuss abgegeben zu haben. Er und Hartmann hätten Lübcke gemeinsam heimgesucht, um ihn einzuschüchtern, behauptete er nun. Dabei habe sich aus Hartmanns Waffe versehentlich ein Schuss gelöst. Im Verlauf des Prozesses erfolgte dann ein drittes Geständnis, in dem Ernst erneut zugab, selbst auf Lübcke geschossen zu haben. Er blieb aber dabei, dass Hartmann in der Mordnacht mit dabei gewesen sei.

Auch Hartmanns frühere Lebensgefährtin, die mit ihm ein gemeinsames Kind hat, belastete ihn schwer. Er sei ein gefährlicher Rechtsextremist, habe Ernsts Radikalisierung vorangetrieben und ihn zum Schießtraining ermuntert, sagte sie der Polizei. Bereits ein halbes Jahr vor dem Lübcke-Mord hatte sie in einem Sorgerechtsstreit ausgesagt, Hartmann sei rechtsextrem, besitze illegale Waffen und stelle selbst Munition her. Im Lübcke-Prozess, in dem Anwälte und Beobachter aus der rechtsextremen Szene anwesend sind, relativierte sie dann ihre Aussage.

Mit diesen widersprüchlichen Geständnissen und Aussagen rechtfertigt das OLG Frankfurt nun die Freilassung Hartmanns. Der Verdacht, er habe sich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht, sei von den Angaben getragen gewesen, die Ernst und Hartmanns ehemalige Lebensgefährtin im Ermittlungsverfahren gemacht hätten, begründete es seine Entscheidung. Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung habe dies jedoch nicht bestätigt. Beihilfe setze in subjektiver Hinsicht voraus, dass Hartmann eine Tötung Lübckes durch Ernst zumindest für möglich gehalten habe. Dies sei nicht mehr in hohem Maße wahrscheinlich.

Auch Ernsts Aussage, Hartmann sei mit am Tatort gewesen, wischte das Gericht kurzerhand beiseite. Es begründete dies damit, dass Ernst drei verschiedene Varianten des Tatgeschehens beschrieben und die Rolle von Hartmann jeweils völlig unterschiedlich geschildert habe.

Im Gegensatz zum Gericht gehen sowohl die ermittelnde Bundesanwaltschaft wie die Nebenklage weiterhin von einer Mittäterschaft Hartmanns aus. Lübckes Familie zeigte sich entsetzt und erklärte, die Freilassung Hartmanns sei „kaum zu ertragen“. Man sei „fest davon überzeugt, dass die Tat von beiden Angeklagten gemeinschaftlich geplant und gemeinschaftlich verübt worden“ sei.

Darauf weisen – völlig unabhängig von den Aussagen Ernsts und der früheren Partnerin Hartmanns – unzählige Tatsachen und Indizien hin. Sie zeigen, dass hinter dem Lübcke-Mord ein rechtsextremes Netzwerk steht, in dem Hartmann eine wichtige Rolle spielte. Mit seiner Freilassung signalisiert das Gericht, dass es diese rechte Verschwörung nicht antasten wird. Es folgt damit einem bekannten Muster.

Bereits nach dem Oktoberfestattentat von 1980, dem schwersten rechtsextremistischen Anschlag der Nachkriegsgeschichte, hatten sich die Ermittler sofort auf die Einzeltäterthese festgelegt und einen politischen Hintergrund ausgeschlossen. Obwohl es zahlreiche Hinweise auf Mittäter gab, der Attentäter Gundolf Köhler Hitler verehrte und in der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann aktiv war, behaupteten sie, er habe aus Liebeskummer als Einzeltäter gehandelt. Und da Köhler beim Attentat selbst umgekommen war, gab es nie einen Gerichtsprozess.

Der Münchner NSU-Prozess folgte demselben Muster. Er konzentrierte sich ganz auf die persönliche Schuld von Beate Zschäpe, der einzigen Überlebende des Trios, das zehn Menschen aus rassistischen Motiven ermordet und mehrere Anschläge verübt hatte. Das rechtsextreme Netzwerk, das den NSU unterstützt hatte, wurde systematisch ausgeblendet, obwohl die Anwälte der Opfer immer wieder darauf drängten, darauf einzugehen. Selbst der jahrelange NSU-Unterstützer André Eminger, der mit auf der Anklagebank saß, verließ den Gerichtsaal unter dem Jubel seiner Neonazi-Freunde als freier Mann.

Der Grund für diese Nachsicht von Gerichten und Ermittlungsbehörden gegenüber rechtsextremen Netzwerken liegt darin, dass diese tief in den Staatsapparat hineinreichen. Allein im Umfeld des NSU waren mehr als zwei Dutzend V-Leute der Sicherheitsbehörden aktiv. Der Thüringer Heimatschutz, in dem sich das NSU-Trio radikalisierte, war von Tino Brandt, einem V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes aufgebaut und mit dessen Geldern finanziert worden.

Markus Hartmann (l.) und Stephan Ernst (r.) am 1. September 2018 auf einer rechtsextremen Demonstration von AfD und Neonazis in Chemnitz (Foto exif-recherche)

Ernst und Hartmann waren jahrzehntelang in denselben Neonazi-Netzwerken aktiv, in denen auch der NSU verkehrte. Hartmann selbst steht im Verdacht, dass er als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete oder dies noch tut. Das könnte auch ein Grund für seine Freilassung sein. Belegt ist, dass sich ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes 1998 zweimal mit ihm traf, um ihn anzuwerben. Der NDR berichtete im Mai dieses Jahres über entsprechende Dokumente, die er einsehen konnte. Hartmann soll damals allerdings abgelehnt haben. Das schließt nicht aus, dass es später weitere Anwerbeversuche gab.

Verdacht erweckte auch die ausweichende Antwort der Generalbundesanwaltschaft (GBA), als diese im vergangenen Januar auf einer Sitzung des Bundestagsinnenausschusses gefragt wurde, ob Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei. Sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben, antwortete die Vertreterin der GBA Cornelia Zacharias. Die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, hatte die GBA dagegen nach Angaben der antifaschistischen Recherche-Website Exif ohne Umschweife verneint.

Hartmann war seit 1990 als Rechtsextremist aktiv, unter anderem in Organisationen, die später verboten wurden. Er und Ernst verkehrten in der militanten Kasseler Neonazi-Szene, die auch enge Kontakte zum NSU unterhielt. Als dieser 2006 sein neuntes Opfer Halit Yozgat in einem Kasseler Internet-Café ermordete, geriet auch Hartmann ins Visier der Ermittler. Er hatte sich verdächtig gemacht, weil er sich auffallend für eine Internetseite interessierte, auf der das BKA um Hinweise auf die Mörder bat. Er sagte der Polizei, er habe Yozgat gut gekannt, und wurde nicht weiter behelligt, obwohl er als Neonazi bekannt war.

Für die Führung von V-Leuten in der Kasseler Neonazi-Szene war damals der Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme verantwortlich, der persönlich im Internet-Café anwesend war, als Yozgat erschossen wurde – angeblich rein zufällig und ohne etwas zu merken. Mit einem seiner Schützlinge, Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“) war Stephan Ernst befreundet. Ob auch Hartmann oder Ernst selbst für Temme arbeiteten, ist nicht erwiesen. Akten, die dies nachweisen könnten, werden von der hessischen Regierung vierzig Jahre unter Verschluss gehalten. Temme verließ den Verfassungsschutz, als seine dubiose Rolle beim Yozgat-Mord bekannt wurde. Er arbeitet seither im Kasseler Regierungspräsidium, der Behörde, die Lübcke leitete.

Ernst und Hartmann kannten sich, waren eng befreundet und tauchten immer wieder gemeinsam bei Neonazi-Aufmärsche auf. So am 1. Mai 2009, als sie sich am Angriff auf eine DGB-Kundgebung in Dortmund beteiligten. Beide wurden verhaftet, doch während Ernst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, kam Hartmann ohne Strafe davon.

Im Oktober 2015 besuchten Ernst und Hartmann eine Versammlung in Lohfelden, auf der Lübcke die Aufnahme von Flüchtlingen verteidigte. Hartmann drehte ein Video und stellte einen Ausschnitt auf Youtube. Es wurde zur Grundlage einer rechtsextremen Hetzkampagne, die schließlich in der Ermordung Lübckes gipfelte. Die Behauptung, Hartmann habe nichts von Ernsts Hass auf Lübcke und seinen Mordabsichten gewusst, ist schlicht nicht haltbar.

Hartmann war es auch, der Ernst das Training an Waffen ermöglichte. Obwohl Hartmanns rechtsextreme Ansichten bekannt waren, stellte ihm die Stadt Kassel 2011 eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ aus, die ihm den Umgang mit Sprengstoffen und den Besitz von Waffen erlaubte. Er nahm darauf Ernst, der keine entsprechende Genehmigung besaß, zum Training in seinen Schützenverein mit.

Als die Ermittler nach Hartmanns Verhaftung seine Garage durchsuchten, fanden sie dort zahlreiche NS-Devotionalien, darunter Büsten von Hitler und Göring und ein metallisches Hakenkreuz. Rund 250 Chatnachrichten, die Ernst und Hartmann in den drei Monaten vor dem Lübcke-Mord ausgetauscht hatten, waren gelöscht und konnten angeblich nicht wiederhergestellt werden.

Trotzdem setzt das OLG Frankfurt Hartmann auf freien Fuss. Seine Entlassung ist ein Signal an rechte Terrornetzwerke, ihr mörderisches Treiben fortzusetzen. Sie reiht sich ein in eine ganze Serie ähnlicher Fälle. Franco A., Maximilian T., Marco G., (Nordkreuz), André S. (Hannibal) und andere, die Waffen gehortet, Feindeslisten angelegt und sich auf einen „Tag X“ vorbereitet haben, befinden sich alle auf freiem Fuß. Die Situation erinnert zunehmend an die Weimarer Republik, als rechte Milizen und Terrororganisationen, wie die Organisation Consul, ungestört morden konnten und von den Gerichten gedeckt wurden, während Linke rücksichtslos verfolgt wurden.

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