Die Schweiz in der Corona-Pandemie: „Kurz vor der medizinischen Katastrophe“

Die schlimmsten Ausbrüche der Corona-Pandemie haben sich in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern ereignet, die eigentlich über die besten Mittel zur Corona-Bekämpfung verfügen müssten. Darauf weist die World Socialist Web Site immer wieder hin. Wie sie schreibt, ist es „eine unwiderlegbare Anklage gegen den Kapitalismus“. Diese Anklage richtet sich auch gegen die reiche Schweiz.

Hier geht die zweite Corona-Welle mit einer tiefen Krise des Gesundheitssystems einher. Besonders in der Süd- und Westschweiz, in Genf, Waadt, Wallis und den angrenzenden Kantonen, sind die Fallzahlen in den letzten Tagen explodiert. Die Intensivstationen in den Krankenhäusern sind voll, und die Ärzte und Pflegeteams am Rande der Erschöpfung.

Nicolas Blondel, leitender Arzt Allgemeine Innere Medizin, Kantonsspital Fribourg (Youtube-Video)

Am 2. November richtete ein leitender Arzt aus Fribourg auf twitter einen dringenden Appell an die Bevölkerung, Masken zu tragen und die Kontaktbeschränkungen einzuhalten. „Dies ist der letzte Moment zum Handeln“, stellt Dr. Nicolas Blondel gefasst, aber eindringlich fest. „Covid-19 ist keine Grippe, und wir stehen kurz vor einer medizinischen Katastrophe. Momentan hat die Schweiz ihre Schutzpflichten verletzt.“ Einer von zwei Corona-Tests falle in Fribourg positiv aus – eine westeuropaweit einmalig hohe Rate von 50 Prozent.

„Hier im Krankenhaus ist die Situation äußerst ernst“, schildert der Arzt die Lage. „Wir haben aktuell über 185 Patienten mit Covid-19 im Krankenhaus. Vorhin in der Notaufnahme kamen die Krankenwagen alle 15 Minuten an. Wenn das so weitergeht, wird uns der Platz ausgehen.“ Nicht nur ältere Patienten um die 70 Jahre seien dabei, sondern „wir haben auch viel jüngere Patienten, sogar einige unter 40-Jährige. Und diesen Patienten geht es nicht gut, und schon jetzt können wir einige von ihnen nicht so behandeln, wie wir es wollten.“

Besorgt warnt er vor den Corona-Leugnern, die es in der Schweiz im Umfeld der SVP sehr zahlreich gibt, und kritisiert, wenn auch verhalten, die Medien und die Behörden. Er sagt: „Wir wissen nicht, was uns in den nächsten Tagen erwartet. Wenn die ganze Bevölkerung ihr Verhalten ändert, besteht vielleicht noch eine Chance, nur eine letzte Chance, anders zu enden als die Lombardei … Also jetzt: Stopp. Hört auf, denen zu glauben, die sagen, alles sei in Ordnung. Ich glaube ehrlich gesagt, die Medien hängen hinter der Entwicklung etwas hinterher, wie auch unsere Behörden hier. Das ist der letzte Zeitpunkt, um Maßnahmen zu ergreifen.“

Tatsächlich ist es höchste Zeit, dass die arbeitende Bevölkerung selbst in das Geschehen eingreift, um das Virus zu stoppen. Von den Politikern und Medien ist nichts zu erwarten, denn sie stehen voll und ganz unter dem Pantoffel der Banken und von Wirtschaftsverbänden wie Economiesuisse, die einen Lockdown aus Gründen der Profitinteressen ablehnen.

Die WSWS ruft dazu auf, unabhängige Aktionskomitees an den Schulen, Betrieben und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu bilden, um zum Schutz vor Corona alle notwendigen Maßnahmen, einschließlich der Schließung aller nicht-relevanten Betriebe und Einrichtungen, durchzusetzen. „Für einen Generalstreik! Stoppt die zweite Corona-Welle in Europa!“ lautet eine Erklärung der europäischen IKVI-Sektionen, die die WSWS am 26. September publizierte.

Es heißt darin: „Es ist dringend notwendig, die Arbeiterklasse in ganz Europa und international in einem Generalstreik zu mobilisieren, um das Wiederaufleben der Corona-Pandemie zu stoppen. Nach der verfrühten Aufhebung der Lockdowns, die in diesem Frühjahr verhängt wurden, haben die europäischen Regierungen durch die vollständige Wiedereröffnung von Schulen, Arbeitsstellen und öffentlichen Veranstaltungsorten den Weg für ein verheerendes Wiederaufflammen des Virus geebnet.“

Die vorausgesagte Katastrophe ist eingetreten. Weltweit werden bereits über 50 Millionen Fälle und 1,25 Millionen Tote registriert, was bedeutet, dass im Schnitt 2,5 Prozent der Erkrankten auch sterben. Und wie sich immer deutlicher zeigt, wirft die Pandemie nicht nur medizinische, sondern vor allem politische Fragen und Herausforderungen auf. Die bürgerlichen Regierungen einschließlich ihres angeblich „linken“ Flügels haben jegliche systematische Pandemiebekämpfung bewusst und kriminell vernachlässigt.

Gerade die erzkapitalistische Schweiz, die nicht nur über eine unvergleichliche Dichte an Banken und Milliardären, sondern auch über weltweit führende Pharmakonzerne verfügt und sich ein hochentwickeltes Gesundheitswesen leistet, hat in der Pandemiebekämpfung völlig versagt. Schon bei der ersten Welle wies die Schweiz Ende März die zweithöchste Steigerungsrate bei den Corona-Fällen in ganz Europa auf. Die Atempause im Sommer hat sie ungenutzt verstreichen lassen. Heute gibt es nicht einmal eine konsequente Maskenpflicht. „In Sachen Lockdown ist die Schweiz das zweite Schweden“, kommentiert die Welt lakonisch.

In der Folge sind die Inzidenzzahlen rasend schnell angestiegen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG), das alle Fälle aus der Schweiz und aus Liechtenstein registriert, meldete am Dienstagmorgen fast 6000 neue Fälle (5980) innerhalb von 24 Stunden. Weitere 107 Covid-19-Patienten sind in dieser Zeit gestorben, und 243 mussten in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Die 14-Tages-Inzidenz pro 100.000 Einwohner liegt bei schwindelerregenden 4771 Infektionen, und im gleichen Zeitraum ergaben 26,7 Prozent aller Tests ein positives Ergebnis.

Besonders betroffen ist die Süd- und Westschweiz. Im Wallis gibt es in den Intensivstationen seit zwei Wochen keine freien Kapazitäten mehr. In Genf und im Waadtland wurde erneut, wie schon im Frühjahr, die Schweizer Armee zur Unterstützung eingesetzt. Seit einigen Tagen lassen die überlasteten Kliniken und Krankenhäuser transportfähige Patienten per Rettungshelikopter in die weniger belasteten Deutschschweizer Kantone verlegen.

„Wir haben keine Reserven“, klagt Hervé Zender, Oberarzt der Intensivstation im Krankenhaus Neuchâtel, wie Euronews berichtet. Der Arzt konkretisiert: „Heute morgen wurde ich gebeten, einen weiteren Patienten aufzunehmen, hatte aber keinen Platz für ihn. Deshalb musste ich den stabilsten Patienten in der Abteilung in ein anderes Krankenhaus überführen lassen. Das ist für uns inzwischen der Alltag, wir haben keine Reserven.“

Aber was geschieht, wenn auch kein anderes Krankenhaus mehr freie Kapazitäten hat? Auch in den Deutschschweizer Kantonen sind die Fallzahlen bedenklich angestiegen.

Wie Bern am Dienstag auf der kantonalen Website mitteilte, sind allein im Kanton Bern am Montag 16 Menschen innerhalb eines Tages an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben, das sind über acht Prozent der Gesamtzahl der bisherigen Todesopfer von 193 seit März 2020. Auch mussten 29 weitere Patienten in ein Krankenhaus eingewiesen werden, wo derzeit 427 Covid-Kranke liegen, 62 von ihnen auf der Intensivstation, und 42 davon an der künstlichen Beatmung.

Alarmierend auch die Meldungen aus dem Aargau: Dort ist der Mangel an Pflegepersonal so gravierend, dass positiv getestete Krankenschwestern, die symptomfrei sind, dazu angehalten wurden, weiter zur Arbeit zu kommen.

Inzwischen wird – wie vor hundert Jahren, als am Ende des Ersten Weltkriegs die Spanische Grippe wütete – wieder öffentlich über den Begriff der „Triage“ diskutiert. Dieser Begriff bezeichnet die zwangsläufige Entscheidung bei knappen Betten, wer noch intensivmedizinisch behandelt werden kann und wer zum Sterben verurteilt wird. Am 4. November wurden die „Richtlinien für Triage bei Ressourcenknappheit auf Intensivstationen“ erneuert und um eine nationale Koordinationsstelle erweitert.

„Der Kampf um ein freies Spitalbett hat begonnen“, heißt es in einem Beitrag der nationalen Radio- und TV-Gesellschaft SRF dazu. Während der Gesundheitsminister, Bundesrat Alain Berset (SP), notgedrungen darauf besteht, dass auch in Zürich nicht-dringliche Operationen zurückzustellen seien, entgegnet die Zürcher Regierungsrätin und Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP), dass die Kliniken keinesfalls, wie im Frühling, wieder rote Zahlen schreiben dürften. Bundesrat Berset habe den „finanziellen Aspekt ausgeblendet“. Eine Verschiebung der einträglichen Knie-, Hüft- und Schönheitsoperationen sei „unverhältnismäßig“.

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