Perspektive

Wofür die Reichen an Thanksgiving dankbar sind

Für die meisten Amerikaner wird dies das schlimmste Thanksgiving sein, an das sie sich erinnern können. Eine Viertelmillion Menschen in Amerika sind an Covid-19 gestorben. Dutzende Millionen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Unzählige andere hungern oder stehen kurz davor, aus ihren Häusern vertrieben zu werden. Monatelang wurden Arbeiter im ganzen Land täglich dazu gezwungen, russisches Roulette zu spielen – jedes Mal, wenn sie in einer Fabrik, einem Lager oder einem Geschäft ihre Schicht antreten.

Die Aussicht aus den Luxuswohnungen der „Billionaires‘ Row“ in Manhattan ist da weitaus angenehmer. Am Dienstag erreichte der Dow Jones Industrial Average einen Rekordstand von 30.000 Zählern, was einem fast 70-prozentigen Kursanstieg seit März entspricht. Die Börsenrallye hat wiederum die Vermögen der Superreichen beflügelt. Ein Bericht des Institute for Policy Studies, der kürzlich veröffentlicht wurde, vermittelt einen Eindruck von der gewaltigen Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, die seit dem Ausbruch der Pandemie stattgefunden hat:

Zehn Milliardäre verfügen zusammen über ein Vermögen von 433 Milliarden Dollar und verzeichneten seit Beginn der Pandemie Mitte März einen Vermögenszuwachs von 127 Milliarden Dollar, was einem Anstieg um 42 Prozent entspricht. Diese zehn sind Jeff Bezos (Amazon), Alice, Rob und Jim Walton (Walmart), Apoorva Mehta (Instacart), John Tyson (Tyson Foods), Stephen Schwarzman (Blackstone), Henry Kravis und George Roberts (KKR) und Steve Feinberg (Cerberus).

John H. Tyson, der Milliardär und Eigentümer von Tyson Foods, hat sein persönliches Vermögen seit Beginn der Pandemie um über 600 Millionen Dollar vergrößert, während schätzungsweise 11.000 Beschäftigte von Tyson mit Covid-19 infiziert wurden.

Das Vermögen von Jeff Bezos von Amazon ist seit Mitte März um mehr als 70 Milliarden Dollar angewachsen, während schätzungsweise 20.000 Amazon-Arbeiter mit Covid-19 infiziert wurden.

Auf dieser Liste fehlt Elon Musk, der kürzlich Bill Gates überholte und zum zweitreichsten Mann der Welt aufstieg. Musks Vermögen wuchs in nur einem einzigen Jahr, in dem die Aktienkurse von Tesla und SpaceX in die Höhe schossen, um 112 Milliarden Dollar. Diese Summe übersteigt das Bruttoinlandsprodukt von Kenia.

Am 11. Mai kündigte Musk die Wiederaufnahme der Produktion im Hauptwerk von Tesla in Kalifornien unter Missachtung der staatlichen Gesetze an. Die Demokratische Partei, die in diesem Bundesstaat die Regierung stellt, war Mittäter. In der Zeit seit der Wiederaufnahme der Produktion hat sich der Aktienkurs von Tesla mehr als verdreifacht und das Unternehmen zum größten Autohersteller, gemessen an dessen Marktkapitalisierung, gemacht. In zwei Jahren konnte Musk seinen Reichtum verfünffachen.

Der Anstieg der Aktienkurse wird durch die gewaltige und beispiellose Intervention der US-Notenbank Federal Reserve angetrieben, die sich dafür verbürgt hat, dass es keinen Rückgang der Aktienkurse geben wird – in welchem Zustand die Realwirtschaft auch sein mag. Die Ökonomen Raphaële Chappe und Mark Blyth merken in der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs an, dass der Anstieg der Aktienkurse fast ausschließlich den Superreichen zugute gekommen ist.

„Nach jüngsten Untersuchungen von Goldman Sachs“, schreiben sie, „entfallen auf die unteren 90 Prozent der Amerikaner nur 12 Prozent des Werts der Aktien, die sich im Besitz amerikanischer Haushalte befinden. Der US-Wirtschaft ist es jahrzehntelang nicht gelungen, ein integratives Wachstum zu erzielen. Die Reallöhne vieler Arbeitnehmer stagnieren seit Mitte der 1970er Jahre.“ Chappe und Blyth schreiben weiter:

Die US-Notenbank selbst stellte im vergangenen Jahr fest, dass die Mehrheit der erwachsenen Amerikaner nicht in der Lage wäre, eine plötzlich anfallende Ausgabe von 400 Dollar zu decken – ein Szenario, das für Millionen Amerikaner Realität wurde, als die Pandemie das Land zur Schließung zwang.

Kurz gesagt: die Vereinigten Staaten scheinen in ein geldpolitisches Regime hinein gestolpert zu sein, das das Schicksal der Wirtschaftseliten, die den größten Teil ihres Einkommens aus staatlich geschützten Finanzvermögen beziehen, von dem der einfachen Menschen abgelöst hat, die sich auf niedrige und prekäre Löhne stützen. Ein solches Regime bietet jenen Personen dauerhaften Schutz, die über hohe Einkommen aus Geldvermögen verfügen.

In Wirklichkeit ist der US-Kapitalismus nicht in diese Politik „hinein gestolpert“. Diese Umstände sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kampagne, die darauf abzielte, den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu zerstören und gleichzeitig die Finanzoligarchie zu bereichern.

Angefangen mit der Anti-Inflations-Politik von Reagan/Thatcher/Volcker in den frühen 1980er Jahren setzten die herrschenden Klassen der Welt eine systematische Kampagne zur Senkung der Löhne und des Lebensstandards der Arbeiter in Gang. Die „Anti-Inflations“-Politik, die ursprünglich die Anhebung der Zinssätze vorsah, um zu Beginn der 80er Jahre eine künstliche Rezession herbeizuführen, wurde bald durch extrem niedrige Zinssätze für die Banken verdrängt, die über Jahrzehnte aufrecht erhalten wurden. Mit dieser Politik ging die implizite Garantie einher, dass die Zentralbanken dafür sorgen würden, dass es zu keinem wesentlichen Wertverlust der Finanzanlagen kommt.

Die herrschende Klasse reagierte auf die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, indem sie sowohl unter Bush als auch unter Obama ein massives, mehrere Billionen Dollar schweres Rettungspaket auf den Weg brachte, das im Laufe der Jahre umgesetzt wurde und den Aktienmarkt inmitten von Massenarbeitslosigkeit in die Höhe schnellen ließ.

Im Jahr 2020 nutzte die herrschende Klasse die durch die Pandemie geschaffenen Krisenbedingungen, um eine Rettungsaktion auf den Weg zu bringen, die doppelt so umfangreich war wie die von 2008. Die Maßnahmen wurden innerhalb weniger Monate umgesetzt und trieben die Aktienmärkte fast unmittelbar auf Rekordwerte.

Abgesehen von den Billionen Dollar, die ganz unmittelbar an die Wall Street flossen, entpuppten sich sogar die Gelder, die angeblich zur Absicherung der Jobs von Arbeitern gedacht waren, als Finanzpakete für die Unternehmen. Chappe und Blyth schreiben dazu: „Ein Team des MIT [Massachusetts Institute of Technology] kam zu dem Schluss, dass im Rahmen des PPP [Paycheck Protection Program] rund 500 Milliarden Dollar an Krediten vergeben, aber nur 2,3 Millionen Arbeitsplätze über etwa sechs Monate gerettet wurden. … die jährlichen Kosten des Programms belaufen sich auf etwa 500.000 Dollar pro Arbeitsplatz“

Auf die Rettungsaktion folgte die Wiederöffnung der Arbeitsstätten im April und Mai. Ende Juli ließ die Regierung die Notstandshilfe des Bundes, die einige Arbeiter erhalten hatten, auslaufen. Abgeordnete beider Parteien argumentierten, es sende einen „negativen Anreiz“ an die Arbeiter, wenn man die Arbeitslosen über Wasser halte. So würden sie keine Arbeit mehr aufnehmen.

Bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen stimmten Millionen Arbeiter gegen die Politik der „Herdenimmunität“ der Trump-Regierung sowie gegen eine Politik, bei der die Interessen der Aktienmärkte unbedingten Vorrang vor dem Leben und der Gesundheit der Bevölkerung haben.

Doch unmittelbar nach der Wahl erklärte Biden, dass es „keinen landesweiten Shutdown“ geben werde. Gleichzeitig bekräftigte er die uneingeschränkte Unterstützung der Federal Reserve (Fed) für die Absicherung des Aktienmarkts. „Unsere Zinssätze sind so niedrig wie nie zuvor in der modernen Geschichte. Und das halte ich für eine positive Sache“, erklärte Biden. Mit der Ernennung der ehemaligen Fed-Vorsitzenden Janet Yellen zu seiner Finanzministerin sandte Biden ein Signal an die Wall Street, dass die Geldflut anhalten wird.

Weder Biden noch die Kongressabgeordneten der Demokraten haben irgendein Interesse an der Wiederherstellung der Nothilfe für Arbeitslose gezeigt – und das, während die Bundesstaaten gleichzeitig Restaurants, Bars und Fitnessstudios schließen, um zu verhindern, dass die Krankenhäuser kollabieren.

Das Jahr 2020 hat die amerikanische Gesellschaft als eine Oligarchie entlarvt, in der eine winzige Gruppe von Milliardären der großen Mehrheit der Gesellschaft enormes soziales Elend zufügt, um sich persönlich zu bereichern. Wenn Hunderttausende Menschen sterben müssen, damit die Oligarchen noch reicher werden, dann möge es so sein.

Die beispiellose Bereicherung der Finanzoligarchie – inmitten der größten Krise seit den 1930er Jahren – hat die Argumente entlarvt, mit denen jahrzehntelang Arbeitsplatzabbau und die Zerstörung von Sozialprogrammen gerechtfertigt wurden. Wenn es doch kein Geld gibt, um die Unterstützung von Arbeitslosen zu bezahlen: Wie um alles in der Welt hat die Gesellschaft dann 112 Milliarden Dollar aufgetrieben, um sie an Elon Musk zu übergeben?

Millionen von Arbeitern sind diese Entwicklungen nicht entgangen. Schon vor der Pandemie waren sozialistische Stimmungen in breiten Bevölkerungsschichten auf dem Vormarsch. Jetzt wird es offensichtlich, dass die Grundbedürfnisse der Gesellschaft – einschließlich der Erhaltung des menschlichen Lebens selbst – mit der Herrschaft einiger tausend Milliardäre über die Gesellschaft unvereinbar sind.

Die Vereinigten Staaten befinden sich in einer Notsituation. Die Pandemie wütet, Millionen hungern und sind arbeitslos. Dringende Maßnahmen sind geboten. Die Eindämmung der Pandemie erfordert die sofortige landesweite Schließung aller nicht lebensnotwendigen Produktion. Dies muss mit einer vollständigen Entschädigung für Arbeiter, die keine Löhne erhielten, und für Kleinunternehmer einhergehen, deren Einkommen wegbrach.

Das Geld, das benötigt wird, um Hunderttausende Leben zu retten, liegt auf den überquellenden Bankkonten der Oligarchen. Diese Gelder müssen unverzüglich eingefroren, beschlagnahmt und dann verwendet werden, um die Pandemie zu stoppen und sicherzustellen, dass niemand infolge von Schließungen hungert oder obdachlos wird. Die Forderung nach diesen Notmaßnahmen ist eine entscheidende Komponente des Kampfs für Sozialismus und für die Reorganisation der Gesellschaft nach der Maßgabe, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, nicht private Profitinteressen.

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