Trotz Massensterben: Polen beendet Lockdown

Die polnische Regierung beendet schrittweise den Lockdown, obwohl die Pandemie weiter grassiert und jeden Tag hunderte an Covid-19 sterben.

Bereits seit dem 1. Februar dürfen Museen, Kunstgalerien und Einkaufszentren wieder öffnen. Bereits zuvor wurde der Präsenzunterricht für die erste bis dritte Klasse wieder aufgenommen. Ab 12. Februar dürfen Hotels, Kinos, Theater, Philharmonien und Opern mit 50 Prozent ihrer Kapazitäten und auch Sportplätze, Skipisten und Schwimmbäder wieder öffnen.

Polnische Bergarbeiter in der Grube Wujek in Katowice (AP Photo / Czarek Sokolowski)

Die Zahl der Neuinfektionen ist seit dem Höchststand im November zwar zurückgegangen, liegt aber seit Januar weiterhin über 5000 am Tag. Zugleich sterben täglich Hunderte an den Folgen von Covid-19. Mit rund 36.000 Neuinfektionen in einer Woche liegt die 7-Tage-Inzidenz je 100.000 Einwohner nur knapp unter 100 und damit weit jenseits der Marke, ab der das Infektionsgeschehen kontrollierbar oder einzudämmen wäre.

Laut dem polnischen Gesundheitsministerium hat die Sterblichkeit 2020 um 67.000 zugenommen, der entscheidende Faktor waren die Covid-19-Erkrankungen. Die Bevölkerungszahl des Landes, die seit der Einführung des Kapitalismus zurückgeht, schrumpfte im vergangenen Jahr um 115.000.

Die Ausbreitung von Virusmutanten erhöht die Gefahren der Pandemie. Die britische Mutation ist spätestens nach den Weihnachtsfeiertagen auch in Polen angekommen. Über 800.000 Polen arbeiten in Großbritannien, sie sind nach den Indern die zweitgrößte Minderheit in dem Land. Nur in Deutschland arbeiten noch mehr Polen.

Im tschechischen Trutnov (Trautenau) im Dreiländereck zwischen Polen und Deutschland enthielten rund 60 Prozent der sequenzierten Proben die neuartige Corona-Mutation. Erschwerend kommt hinzu, dass Polen im europäischen Vergleich besonders niedrige Testraten aufweist. Aktuell liegt die Anzahl der täglichen Tests bei rund 40.000.

Für Polen mit seinen etwa 40 Millionen Einwohnern ist das schlicht ein Witz. Deutschland mit etwas mehr als doppelt so vielen Einwohnern testet täglich rund 140.000 Menschen, Tschechien mit 10 Millionen Einwohnern 20.000. 

Obendrein ist die Impfkampagne in Polen, wie auch in Deutschland, das reinste Debakel. Zurzeit werden täglich rund 80.000 Impfdosen verteilt. Bei gleichbleibendem Tempo würde es demnach fast zwei Jahre dauern, bis die gesamte Bevölkerung geimpft ist. Aufgrund des Massensterbens im Winter nahm auch die zuvor verhaltene Impfbereitschaft sprunghaft zu und stieg von 43 Prozent im Herbst auf 70 Prozent im Januar.

Dies hat zum Zusammenbruch der offiziellen Hotlines für die Vergabe der Impftermine geführt. So wählten sich nach dem Beginn der Impfung für über 70-Jährige phasenweise bis zu 300.000 Menschen gleichzeitig ein.

Zugleich gibt es mehrere bekanntgewordene Fälle von illegal bevorzugten Impfungen. Das Ausmaß zeigt eine Kontrolle des Warschauer Universitätskrankenhauses. Dort stellte sich heraus, dass fast die Hälfte von 450 Impfdosen, die die Einrichtung erhalten hatte, 200 Menschen zugutekamen, die in keinerlei Beziehung zum Klinikum standen, darunter Promis und Politiker.

In der ersten Jahreshälfte 2020 war Polen noch relativ glimpflich durch die Pandemie gekommen. Grund war eine rigide Eindämmungspolitik mit umfangreichen Ausgangssperren, so dass sich das Infektionsgeschehen vor allem auf die weiterhin laufenden Betriebe konzentrierte. So entwickelte sich die schlesische Bergbauregion zeitweise zu einem Hotspot, im Juni kam jede zweite Neuinfektion aus dieser Region. Schon damals zeigte sich, wie gleichgültig die Regierung der tödlichen Gefahr für die Arbeiter gegenübersteht.

Im Laufe des Sommers wurde dann klar, dass alle europäischen Regierungen im bevorstehenden Herbst und Winter nicht erneut einen harten Lockdown verhängen würden. Es galt der unausgesprochene Konsens, dass die Interessen der Wirtschaft wichtiger sind als Menschenleben, und man ging zu einer Durchseuchungspolitik über.

Prof. Andrzej Horban, der Chefberater des Ministerpräsidenten und Vorsitzende des nationalen medizinischen Rats, räumte dies gegenüber Dziennik Gazeta Prawna ganz offen ein. Er erklärte, man habe über den Sommer „absolut gewollt“ eine Durchseuchungsstrategie verfolgt: „Ein wenig schützen, ein wenig infizieren.“ Er leugnete die gesundheitlichen Risiken für jüngere Menschen rundheraus und spotte über die Möglichkeit von Langzeitschäden durch eine Corona-Erkrankung. Er stellte auch klar, dass eine große Welle erwartet wurde und bereits im September entsprechende Prognosen vorlagen.

Umso krimineller ist die Tatsache, dass die Regierung erst im November einen sogenannten Teil-Lockdown verhängte, als die Inzidenz bereits über 200 lag und täglich Zehntausende neue Erkrankte hinzukamen. Selbst ausgehend von den schönfärberischen Aussagen des Gesundheitsministeriums, dass das System bei mehr als 30.000 täglichen Infektionen zusammenbreche, war klar, dass ein Massensterben nicht mehr zu verhindern war.

Zur Schönfärberei der Regierung gehört auch das zum provisorischen Krankenhaus umfunktionierte Nationalstadion in Warschau, das großspurig als „Nationalkrankenhaus“ bezeichnet wurde. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte es kurz vor der Eröffnung selbst inspiziert.

Wie kurz darauf aber bekannt wurde, waren die rund 500 Betten, darunter etwa 50 Intensivbetten, nie ausgelastet. Über Twitter gelangten Bilder der leeren Reihen an die Öffentlichkeit, und Ende November erklärte ein Assistenzarzt in der Polityka anonym: „Ich bin hierhergekommen, um gegen die Pandemie zu kämpfen. Stattdessen wohne ich jetzt in einem Fünf-Sterne-Hotel und sitze in einem leeren Krankenhaus herum. Ich spreche deshalb darüber, weil es mir peinlich ist, daran teilzunehmen.“

Die Schaffung solcher Potemkinscher Dörfer, wie sie manche Zeitungen nannten, war nicht grundlos. Die Regierung versuchte zu vertuschen, dass das seit Jahrzehnten kaputtgesparte Gesundheitssystem eines der schlechtesten in Europa ist. So steht Polen bei der Abdeckung mit Ärzten je 1000 Einwohner unter den OECD-Staaten an fünftletzter Stelle.

Trotz der mörderischen Folgen ihrer Politik ist die polnische Bourgeoise wild entschlossen, den Lockdown zu beenden. Sie reiht sich damit in den europäischen Lockerungswettbewerb ein. Auch Italien, Deutschland und Österreich haben bereits Lockerungen beschlossen und sind dabei, sie umsetzen.

Während die PiS-Regierung weitgehende Lockerungen beschließt, hatten sogenannte Lockdown-Rebellen bereits im Januar mit der Aktion „OtwieraMY“ („wir machen auf“) begonnen. Insbesondere in der Gastronomie- und Tourismusbranche öffneten dutzende Betriebe, aber auch Fitnessstudios und Bars machten entgegen den Regierungsverordnungen wieder auf. Reichliche Unterstützung bekamen sie dabei von Kommunalpolitikern, den der Opposition nahestehenden Medien, Gerichten, die die Corona-Einschränkung der Regierung für verfassungswidrig erklärten, und dem polnischen Wirtschaftskongress („Kongres Polskiego Biznesu“). Dessen Präsident, Sławomir Mentzen, ist Vize-Chef der rechtsradikalen Korwin-Partei.

Die polnische Bourgeoise mag über die Folgen des rechtsextremen und autoritären Kurses der PiS-Regierung zerstritten sein, der erst letzte Woche wieder Zehntausende Menschen gegen das reaktionäre Abtreibungsgesetz auf die Straße trieb. In der Frage, dass Profitinteressen vor dem Gesundheitsschutz stehen, ist sie sich aber absolut einig.

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