Öffnungspläne von Bund und Ländern bedrohen tausende Menschenleben

Wie die World Socialist Web Site vor zwei Wochen warnte, haben Bund und Länder mit der Einleitung umfassender Schul- und Kitaöffnungen die Schleusen für eine weitere verheerende Welle der Covid-19-Pandemie geöffnet. Falls die Arbeiterklasse nicht unabhängig in das Geschehen eingreift und Fabriken, Büros, Schulen und Kitas schließt, droht die bisher schlimmste Pandemieentwicklung mit Hunderttausenden Toten allein in Deutschland. Die verfügbaren Daten und wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen daran keinen Zweifel.

Der Anteil der Coronavirus-Mutation B117 hat sich innerhalb von zwei Wochen verdoppelt und in fünf Wochen mehr als verzehnfacht. Er liegt laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) mittlerweile bei 25 Prozent. Eine gleichförmige Entwicklung zeichnet sich auch bei B1351 („Südafrika“) ab, deren Anteil innerhalb von drei Wochen von 0,3 auf 1,3 Prozent angestiegen ist. Im Einzugsgebiet Bayern wurde in der vergangenen Kalenderwoche bei 41,4 Prozent der positiv getesteten Personen eine der drei „Variants of Concern“ (B117, B1351 oder P1, „Brasilien“) festgestellt, so das zuständige Testlabor.

Führende Virologen und Epidemiologen warnen vor der Entwicklung einer „neuen Epidemie“, die das derzeitige Massensterben von mehr als 2000 täglichen Toten in Europa und 400 Todesopfern in Deutschland zusätzlich überlagert. Die Virologen Melanie Brinkmann und Christian Drosten hatten zuletzt gewarnt, dass weitgehende „Lockerungen“ der Schutzmaßnahmen im Sommer zu täglich 100.000 Neuinfektionen und bis Jahresende 180.000 Todesopfern führen könnten. Ihre vollständige Aufhebung würde Berechnungsmodellen zufolge allein in Deutschland über eine Million Menschen das Leben kosten.

Professor Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig sprach vergangene Woche gegenüber dem Tagesspiegel von „mindestens zwei Pandemien“, mit denen die Weltbevölkerung derzeit konfrontiert sei. Unter den Bedingungen unzureichender Eindämmungsmaßnahmen seien die ansteckenderen Varianten im Begriff, sich gegen den Wildtyp durchzusetzen. Die Verlangsamung des Infektionsgeschehens, so Meyer-Hermann, "zeigt an, dass die neue Variante gerade übernimmt und die dritte Welle einleitet": „Sie befindet sich in Deutschland bereits wieder in einer Phase des exponentiellen Wachstums und die aktuellen Maßnahmen reichen nicht, um diese Entwicklung auszubremsen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst war gezwungen, das drohende Massensterben anzuerkennen, das die von ihr mitverantwortete Politik hervorzurufen droht: „Wir sind jetzt in der dritten Welle“, erklärte sie gestern gegenüber Mitgliedern der Bundestagsfraktion ihrer Partei.

Doch zu Beginn dieser neuen Welle will die Kanzlerin eine umfassende Öffnung betreiben, so dass dem Virus freier Lauf gelassen wird. Nur einen Tag zuvor hatte sie den Startschuss für die Aufhebung der Shutdownmaßnahmen gegeben und bei Beratungen der CDU eine „Öffnungsstrategie für private Kontakte, Schulen, Unis, Berufsschulen, Restaurants, Sportvereine etc.“ verlangt. Die „drei Öffnungs-Cluster“, so Merkel, sollen in „vier Stufen“ systematisch geöffnet werden. Dazu solle das Bundeskanzleramt mit den Staatskanzleien der Länder eine „Arbeitsgruppe“ bilden und „die Details ausarbeiten“.

Die Öffnungspolitik wird von allen Parteien unterstützt. So stellte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) – zugleich Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz –gegenüber der Stuttgarter Zeitung einen „Stufenplan“ in Aussicht, der „ohne die Werte 25 oder 10“ auskomme und sich „nicht nur an den Neuinfektionen orientieren“ werde.

„Wichtige Kriterien für nächste Lockerungsschritte“, so Müller, seien stattdessen auch ein linear verlaufendes Infektionsgeschehen und „eine sinkende Auslastung der Intensivmedizin“. Ein solcher „Pandemieplan“, der in Wirklichkeit eine systematische Durchseuchung der Bevölkerung bedeutet, war zuvor von einer rechten Professorengruppe um den Bonner Virologen Hendrik Streeck öffentlich eingefordert worden. Nun wird er vom rot-rot-grün regierten Berlin umgesetzt.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der im Januar einen wütenden Mob von Reichsbürgern und anderen Rechtsextremisten zu einer Diskussion über das „Ende des Lockdowns“ an seinem Privatgrundstück empfangen hatte, ließ die Grundschulen bereits Anfang des Monats wieder öffnen.

In Baden-Württemberg sind seit Montag Grundschulen im allgemeinen Wechselunterricht und Kitas sogar im „Regelbetrieb“ geöffnet. „Der überwältigende Teil der Wirtschaft“, so Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei einem digitalen Besuch des Landesverbands des CDU-Wirtschaftsrats, sei „von den Maßnahmen derzeit gar nicht betroffen“. Bei einer Inzidenzlage unter 35 werde auch der Einzelhandel wieder geöffnet, versicherte er den Konzernvertretern.

In Thüringen hat die verbrecherische Profite-vor-Leben-Politik von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) dazu geführt, dass das Land mit 120 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mit weitem Abstand vor allen anderen Bundesländern liegt und nach wie vor eine doppelt so hohe 7-Tage-Inzidenz aufweist wie der deutschlandweite Durchschnitt.

Ramelow hatte in der Vergangenheit die Durchseuchungspolitik der schwedischen Regierung öffentlich umarmt und am Montag rund 70.000 Grundschulkinder in voller Klassenstärke und ohne Maskenpflicht zurück in den Präsenzunterricht geschickt. Präsenzunterricht ist in Thüringen bis zu einer Inzidenz von 200 möglich – ein Wert, der viermal so hoch ist wie derjenige, der zu Beginn der Pandemie als europaweiter Hotspot galt.

Stellvertretend für die Bundesregierung bezeichnete Familienministerin Franziska Giffey die mit massenhafter Ansteckung verbundene Öffnung der Grundschulen in zehn Bundesländern als „richtig, auch im Sinne der Kinder und des Kindeswohls“. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) fügte gegenüber der Presse hinzu, die Rückkehr zum Präsenzunterricht sei „durch nichts zu ersetzen“.

Dabei zeigt die erhöhte Ausbreitungsgeschwindigkeit der Virus-Mutationen bereits jetzt in mehreren Städten und Landkreisen ihre verheerende Wirkung. So schnellte die 7-Tage-Inzidenz in Fürth innerhalb von elf Tagen von unter 35 auf fast 74 in die Höhe, während der Anteil der Mutante auf zwischen 20 und 33 Prozent anstieg. Die Stadtverwaltung der Nachbarstadt Nürnberg sah sich angesichts einer Inzidenz von über 101 gezwungen, nach einem Tag Präsenzunterricht in halber Klassenstärke wieder zur „Notbetreuung“ überzugehen. In der Kleinstadt Bad Ems wurden in Verbindung mit einer einzelnen Kita 26 Coronainfektionen festgestellt. Dort und in einer weiteren Einrichtung hatte die Mutation um sich gegriffen.

In Flensburg veröffentlichte der Schulleiter der Fridtjof-Nansen-Schule einen offenen Brief an alle Eltern, den sie auf ihrer Webseite publizierte und der festhielt: „Wir halten die Entscheidung des Ministeriums, den Präsenzunterricht ungeachtet der Infektionslage in Flensburg aufrechtzuerhalten, für falsch.“ Das Bildungsministerium von Schleswig-Holstein reagierte erzürnt und verlangte von der Schulleitung eine „Klarstellung“ der „verkürzten oder unrichtigen Aussagen“, die das Kultusministerium – richtigerweise – für die Schulöffnungen verantwortlich machte.

Die Schulleitung kam diesem Einschüchterungsversuch nach, veröffentlichte jedoch gestern „nach Rücksprache mit der Schulaufsicht“ den Beschluss, „das Präsenzangebot für diejenigen Schülerinnen und Schüler zu reduzieren, die in diesem Schuljahr an einer Abschlussprüfung teilnehmen“. Man werde in den Jahrgängen 9 und 10 die Zahl der Präsenzstunden halbieren, so dass „die Schülerinnen und Schüler nur noch einmal in der Woche für ihre drei Prüfungsfächer in die Schule kommen“.

Die mutige Haltung der Flensburger Schulleitung ist Bestandteil der wachsenden Opposition, die sich unter Schülern, Lehrern und anderen Arbeitern gegen den lebensbedrohlichen Präsenzunterricht und die gesamte mörderische Pandemiepolitik der Regierung entwickelt. Das explosionsartige Anwachsen der Infektionsfälle mit den Virusmutanten „zeigt, dass die Schulen und Kitas noch nicht einmal den Regelbetrieb aufnehmen müssen, damit sich der Kram ausbreitet“, schreibt der User Quintus S. in einem populären Beitrag auf Facebook: „Die Menschen, die heute positiv sind, haben sich ja schon letzte Woche infiziert. Ich denke, ohne das Niederlegen der Arbeit werden wir das Infektionsgeschehen nicht in den Griff bekommen.“

Die Sozialistische Gleichheitspartei und die WSWS rufen alle ihrer Leser und Unterstützer dazu auf, in ihren Betrieben und an ihren Schulen unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um Schulen, Kitas und Fabriken bei vollem Lohnausgleich und umfassender Unterstützung für alle arbeitenden Familien so lange zu schließen, bis die Pandemie unter Kontrolle gebracht wurde.

Zur Finanzierung dieser absolut lebensnotwendigen Maßnahmen müssen die Vermögen der Pandemieprofiteure enteignet und die Milliardengeschenke an Banken und Konzerne zurückgeholt werden.

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