Hohe Haftstrafen im Abu Walaa-Prozess

Das Oberlandesgericht Celle hat den 37-jährigen Iraker Ahmad Abdulaziz Abdullah A., genannt Abu Walaa, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat und Terrorismusfinanzierung zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt.

Das Gericht hielt es für erwiesen, dass der Prediger des inzwischen verbotenen Vereins „Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim“ führender „Repräsentant“ der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland war, junge Leute radikalisierte, sie zu Terroranschlägen ermutigte und ihnen dabei half, in das Gebiet des IS in Syrien und dem Irak zu gelangen.

Drei Mitangeklagte wurden wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu acht, sechseinhalb und vier Jahren verurteilt, weil sie Männer aus dem Raum Hildesheim und dem Ruhrgebiet für den IS rekrutiert hatten.

Das Gericht blieb mit seinem Urteil, gegen das Revision eingelegt werden kann, nur knapp unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft, die elfeinhalb Jahre Haft für Abu Walaa gefordert hatte. Die Verteidigung hatte dagegen auf Freispruch oder wesentlich mildere Strafen plädiert. Sie begründete dies mit der fehlenden Glaubwürdigkeit der Kronzeugen, auf die sich die Anklage stützte.

Obwohl er dreieinhalb Jahre und 246 Verhandlungstage dauerte, wirft der Prozess mehr Fragen auf, als er beantwortet.

Der wichtigste Zeuge der Anklage, der V-Mann mit dem Decknamen Murat Cem alias VP01, der die Gruppe um Abu Walaa im Auftrag des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen jahrelang infiltriert und ausgespäht hatte, erhielt vom NRW-Innenministerium keine Aussagegenehmigung. Obwohl sich der Vorsitzende Richter Frank Rosenow mehrmals schriftlich darum bemüht hatte, konnten ihn weder das Gericht noch die Verteidigung vernehmen. Stattdessen saßen Polizeibeamte auf der Zeugenbank, die über seine Aussagen berichteten.

Terroranschlag am Breitscheidplatz (Bild: quapan/flickr/CC BY 2.0)

Dass der V-Mann vor Gericht nicht aussagen durfte, ist vor allem auch deshalb bemerkenswert, weil er in engem persönlichem Kontakt zu Anis Amri stand, der am 19. Dezember 2016 mit einem Sattelzug in einen Berliner Weihnachtsmarkt raste und zwölf Menschen tötete. Cem kannte Amri „wahrscheinlich besser als die meisten Gesinnungsgenossen des Islamisten“, schreibt der Spiegel. Oft waren die beiden tagelang zusammen.

Cem lernte Amri kennen, als er die Gruppe um Abu Walaa ausspionierte. Amri verkehrte in dieser Gruppe und kannte alle vier jetzt Verurteilten persönlich. Er nahm an Abu Walaas Seminaren teil und wohnte in Dortmund eine Weile bei Boban S., der nun zu acht Jahren Haft verurteilt worden ist.

V-Mann Cem wurde bald zu Amris engstem Vertrauten. Sie diskutierten über Anschlagspläne und die Beschaffung von Waffen. Dabei warnte Cem seine Vorgesetzten im Landeskriminalamt NRW laut eigener Aussage immer wieder vor der Gefährlichkeit Amris. Er war es auch, der Amri im Februar 2016 nach Berlin chauffierte, wo er zehn Monate später den Anschlag begehen sollte.

Die Hintergründe des Attentats vom Berliner Breitscheidplatz liegen bis heute im Dunkeln. Fest steht, dass neben dem nordrhein-westfälischen LKA auch andere Polizei- und Verfassungsschutzbehörden Amri im Visier hatten, von seinen Anschlagsplänen wussten und ihn trotzdem gewähren ließen. Der Abu Walaa-Prozess hätte wertvolle Hinweise zu den Hintergründen liefern können.

Doch er verlief nach demselben Muster, wie die großen Prozesse gegen Rechtsterroristen – der NSU-Prozess in München, der Lübcke-Prozess in Frankfurt oder (vor vierzig Jahren) die Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat in München: Sobald die dubiose Rolle der Geheimdienste und der Sicherheitskräfte in den Blickpunkt rückt, wird geblockt. Die Exekutive – die Innenminister und die Geheimdienste – bestimmen, was die Richter wissen dürfen und was nicht. Ein Hohn auf das Prinzip der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz!

Das Aussageverbot für den Hauptzeugen Cem ist umso abwegiger, als er selbst die Öffentlichkeit nicht scheut. Bereits im März 2019 hatte er sich – ohne Wissen der Polizei – an den Spiegel gewandt, um seine Geschichte zu erzählen. Ein Team des Nachrichtenmagazins hat Cem darauf „immer wieder getroffen, Hunderte Stunden mit ihm geredet, ist mit ihm zu Einsatzorten gefahren, hat Zehntausende Seiten Akten zu seinen Fällen ausgewertet, hat mit Ermittlern, Weggefährten und Angehörigen gesprochen“.

Das Ergebnis dieser Recherchen war eine ausführliche Spiegel-Titelstory und das 320-seitige Buch „Undercover. Ein V-Mann packt aus“, das Cems 20-jährige Kariere als Polizeiinformant – einschließlich seiner Beziehung zu Amri und zu Abu Walaa – ausführlich darstellt.

Cem schilderte dem Spiegel seine eigene Rolle und Motive in den rosigsten Farben, doch der Übergang vom Informanten zum Agent provocateur ist bekanntlich fließend. Schon früh gab es den Verdacht, dass Murat Cem Amri in seinen Anschlagsplänen bestärkte. Auch im Abu Walaa-Prozess beschuldigte ihn ein Verteidiger, er sei ein Provokateur und Anstifter zu schwersten Straftaten gewesen. Cems Vorgeschichte spricht jedenfalls nicht für ihn. Er wurde von der Polizei angeworben, als er bereits über ein Vorstrafenregister von zwölf Straftaten verfügte und ihm wegen schweren Drogenhandels eine lange Haftstrafe drohte.

Anfang Dezember letzten Jahre sagte Cem auch sechs Stunden lang vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags aus, der sich mit dem Breitscheid-Attentat befasst. Er erschien zwar nicht persönlich, sondern wurde – mit verfremdetem Gesicht und Stimme – per Video zugeschaltet. Das wäre auch im Abu Walaa-Prozess möglich gewesen. Dass der NRW-Innenminister dem inzwischen abgeschalteten V-Mann trotzdem keine Aussagegenehmigung erteilte, ist ein klares Indiz, dass es hier etwas zu verbergen gibt.

Auch der zweite Hauptbelastungszeuge, auf den das Gericht sein Urteil stützte, ist alles andere als vertrauenswürdig. Der ehemalige Islamist Anil O. erschien zwar, getarnt mit Sonnenbrille und blonder Perücke, im Gerichtssaal und sagte an zwanzig Verhandlungstagen aus. Doch die Verteidigung hält den mittlerweile 25-Jährigen für einen notorischen Lügner.

Anil O. war im Sommer 2015 mit Frau und Kind ins syrische Kriegsgebiet gezogen, hatte sich aber ein halbes Jahr später vom IS abgewandt und war in die Türkei geflohen. Bereits dort hatte er mit deutschen Reportern gesprochen. Den deutschen Sicherheitsbehörden bot er sich dann als Kronzeuge gegen Abu Walaa an, den er als Nr. 1 des IS in Deutschland bezeichnete. Sie belohnten ihn dafür mit einem milden Strafmaß von zwei Jahren auf Bewährung und der Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm.

Das Gericht begründete die Glaubhaftigkeit von Anil O. unter anderem damit, dass er das komplexe Geschehen nahezu widerspruchsfrei geschildert habe und dass es „frappierende Übereinstimmungen“ zwischen seinen Angaben und jenen des V-Mannes Murat Cem gebe. Doch laut Aussage von Strafverteidiger Thomas Koll, dem Anwalt von Abu Walaa, hat O., „bevor er die Aussagen tätigte, umfassende Aktenkenntnis erhalten, unter anderem natürlich von den Aussagen dieser VP01“. Er konnte also seine Aussagen mit jenen Murat Cems abstimmen, der selbst nicht befragt werden konnte.

Koll vertritt die Ansicht, dass der Kronzeuge lediglich lieferte, was von Seiten der Ermittlungsbehörde von ihm erwartet wurde. Dass Anil O. zu so etwas fähig ist, steht außer Frage. Selbst das Gericht bescheinigte dem Ex-Islamisten, der ein Einser-Abitur abgelegt und ein Medizinstudium begonnen hatte, bevor er sich radikalisierte, er sei „überdurchschnittlich intelligent und eloquent“.

Dass es Verbindungen zwischen Abu Walaa und dem IS gab, haben auch andere Zeugen im Prozess bestätigt. Dass Abu Walaa allerdings die überragende Figur des IS in Deutschland war, als die er nun dargestellt wird, ist fraglich. Vieles deutet darauf hin, dass seine Rolle aufgebauscht wird, um von der Rolle staatlicher Stellen beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz abzulenken.

Die WSWS hatte bereits vor drei Jahren die Frage gestellt: „War der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt eine ‚Geheimdienstoperation mit tödlichem Kollateralschaden‘?“ Wir stützten uns dabei auf Berichte der Welt und des Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele, wonach eine „Verwicklung auch internationaler Geheimdienste“, namentlich US-amerikanischer, naheliege. „Diese dürften in Amri einen Lockvogel gesehen haben, der sie zu seinen Hintermännern, den Anschlagsplanern des IS in Libyen, führen sollte“, schrieb die Welt.

Es gab aber auch innenpolitische Motive, den Anschlag geschehen zu lassen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte Amris Aktivitäten auf höchster Ebene verfolgt. Schon damals war der Verdacht aufgetaucht, dass V-Mann Murat Cem Amri in seinen Attentatsplänen bestärkt habe. Und ein möglicher Komplize Amris, der Tunesier Bilel Ben Ammar, wurde kurz nach dem Attentat überstürzt abgeschoben.

In einem Artikel über die Abschiebung Ben Ammars kommentierten wir: „Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass die staatlichen Behörden den Anschlag am Breitscheidplatz geschehen ließen, um das nötige politische Klima für ihre militaristische Politik, für den Aufbau eines Polizeistaats und verschärfte Abschiebungen zu erzeugen, und um Bedingungen zu schaffen, unter denen der Aufstieg der AfD möglich wurde.“

Das Aussageverbot für Murat Cem im Abu Walaa-Prozess hat diesen Verdacht erhärtet.

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