Offene Schulen, Kitas und Betriebe erhöhen die Gefahr des mutierten Coronavirus

Die täglichen Corona-Neuinfektionen steigen in Deutschland ebenso wie in Frankreich, Polen, Österreich, Dänemark und den Niederlanden wieder kontinuierlich an. Zuvor waren die Infizierten- und Todeszahlen auf ein Niveau gesunken, das dem Höhepunkt der ersten Welle entsprach.

Der R-Wert, der das Infektionsgeschehen vor acht bis 16 Tagen angibt, liegt derzeit wieder bei 1,04 (gegenüber 0,96 am Vortag). Obwohl erst sieben Prozent der Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten haben und von diesen Personen nur jede zweite vollständig immunisiert ist, heben Bund und Länder die verbleibenden Schutzmaßnahmen systematisch auf. Sie stellen so die Weichen für ein Massensterben, das weit über das bisherige hinausgeht.

Schulkinder in Frankfurt (Michael Probst / The Associated Press)

Die flächendeckende und umfassende Öffnung der Grundschulen vor drei Wochen hat dazu geführt, dass der Inzidenzwert unter Grundschülern erstmals offiziell über dem Durchschnittswert der Gesamtbevölkerung liegt. Unter den 0- bis Vierjährigen ist die Inzidenz dem aktuellen Lagebericht des RKI zufolge innerhalb einer Woche von 48 auf 60 gestiegen. Unter den Fünf- bis Neunjährigen stieg die Inzidenz von 54 auf 72 und unter den Zehn- bis 14-Jährigen von 51 auf 62.

In der Bundeshauptstadt Berlin hat sich die Inzidenz bei Kindern unter vier Jahren in den vergangenen 14 Tagen mehr als verdoppelt – bei den Fünf- bis Neunjährigen stieg sie von 41 auf 77 und in der Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen gar von 32 auf 75.

RKI-Chef Lothar Wieler bezeichnete den Anstieg der Ansteckungsfälle bei den unter-15-Jährigen seit Mitte Februar als „sehr rasant“. Gleichzeitig stellte er fest, dass man an Kitas derzeit mehr Ausbrüche beobachte als in der Zeit vor Weihnachten, als sich eine Welle von 1000 Toten pro Tag ankündigte.

Eine von einem Lehrer aus Nordrhein-Westfalen zusammengestellte geografische Übersichtskarte, in der Meldungen von Eltern und Lehrern eingetragen werden, listet für den Zeitraum „ab Februar 2021“ insgesamt 147 „Schulcluster“ auf, darunter 58 Ansteckungscluster mit „3 bis 9 Infektionen“ und mindestens fünf Massenausbrüche „mit 10 oder mehr Infizierten“. Im selben Zeitraum wurden 110 „Kitacluster mit mutiertem Virus“ gemeldet.

Der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz berichtete im Gespräch mit der Rhein-Zeitung von einer „Verdreifachung der Infektionen“ in Sachsen und warnte dringend vor weiteren Schulöffnungen: „Bei uns sehen wir nicht einmal vier Wochen nach der Schulöffnung, dass die Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen explodieren.“

Auch RKI-Präsident Wieler nannte in der Pressekonferenz explizit die Coronavirus-Mutante B117, die mittlerweile für insgesamt 55 Prozent der Infektionen verantwortlich ist, als möglichen Grund für die Explosion der Ansteckungszahlen in Kitas. Eine aktuelle Publikation der britischen Fachzeitschrift BMJ kommt zu dem Ergebnis, dass der Virusstamm ansteckender ist als der Wildtyp und mit einer um 64 Prozent höheren Sterblichkeit einhergeht.

Doch trotz der exponentiellen Ausbreitung der hochgefährlichen Virusmutante und hunderten Ausbrüchen an Kitas und Schulen soll die tödliche Öffnungspolitik in den nächsten Tagen und Wochen weiter verschärft werden. Nachdem die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz Britta Ernst (SPD) am Freitag erklärt hatte, es sei bundesweiter „Konsens“, alle Schüler „noch im März“ zurück in die Schulen zu holen, überbieten sich die Landesregierungen gegenseitig mit lebensbedrohlichen Öffnungsplänen.

So sollen in Nordrhein-Westfalen die Schulen bereits ab dem kommenden Montag wieder komplett öffnen. Und dies obwohl es „durchaus“ möglich ist, „dass es in der kommenden Woche nicht zu Testungen für die Schülerinnen und Schüler kommen kann“, wie Kultusministerin Yvonne Gebauer (FDP) rundheraus erklärte. Für die 2,5 Millionen Schüler des Bundeslandes plane man, bis zu den Osterferien insgesamt 1,8 Millionen Tests bereitzustellen.

Aus Berlin berichtete der Tagesspiegel am Freitag, Grüne, Linke und die SPD-geführte Bildungsverwaltung seien sich einig, „die Öffnung der Schulen für alle Klassen“ schnellstmöglich – d.h. ohne den erforderlichen Schutz – umzusetzen. Bereits am Dienstag sollen die Klassenstufen vier bis sechs wieder in Präsenz unterrichtet werden.

Im grün-schwarz geführten Baden-Württemberg sollen unterdessen am Montag die Fünft- und Sechstklässler in vollen Klassen zurück in den Präsenzunterricht kommen – ohne Infektionsschutz und ohne Massentests. Auch in Sachsen sollen die 240.000 Schüler der weiterführenden Schulen ohne regelmäßige Testungen in die Schulen zurückkehren, obwohl Kultusminister Christian Piwarz (CDU) erst vor wenigen Tagen die rechtzeitige Bereitstellung von Tests in Aussicht gestellt hatte. Für die Klassen 5 und 6 besteht noch nicht einmal eine freiwillige Testmöglichkeit.

Bayern plant sogar die Öffnung der Grundschulen in „Corona-Hotspots“, also in Landkreisen und Städten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über der verheerenden Marke von 100. Kultusminister Michael Piazolo sprach von einem „Pilotversuch“ mit zusätzlichen Tests, wies eine „Testpflicht“ – d.h. eine systematische Untersuchung des Infektionsgeschehens – jedoch strikt zurück. In Rheinland-Pfalz, wo die Inzidenz derzeit noch niedriger ist als in anderen Bundesländern, hatte die Regierung am 22. Februar die Grundschulen zurück in den Wechselunterricht geholt.

Diese Politik bedroht unzählige Menschenleben und schlägt jeder wissenschaftlichen Einschätzung der pandemischen Lage ins Gesicht.

Die Virologin Melanie Brinkmann zeigte sich am Donnerstag gegenüber der Presse „entsetzt“ darüber, „bei den aktuell hohen Inzidenzen in Deutschland die Schulen aufzumachen – ohne Testkonzept“. Die derzeitige Beschlusslage sei eine „intellektuelle Beleidigung an alle“, die dazu führen werde, dass „uns die Intensivstationen vollaufen“ und das Land in eine dritte Welle „rauschen“ werde. „Ich fühle mich da als Bürgerin mit alten Eltern einerseits und drei schulpflichtigen Kindern andererseits im Stich gelassen.“ Bereits im Februar hatte Brinkmann für den Fall umfassender Öffnungen gewarnt, dass 180.000 Menschen unter 60 Jahren in Deutschland das nächste Frühjahr nicht erleben würden – darunter auch Kinder.

Das renommierte Medizin-Journal The Lancet veröffentlichte am Mittwoch einen offenen Brief von Wissenschaftlern mit dem Titel: „Schulöffnungen ohne robuste Covid-19-Maßnahmen bergen das Risiko, die Pandemie zu beschleunigen.“ Das Papier verweist auf Modellierungsstudien der University of Warwick und des Imperial College London, denen zufolge die in Großbritannien vorgeschlagenen Schulöffnungsszenarien mit „mindestens 30.000 weiteren Todesfällen durch Covid-19“ verbunden sein werden. Die Wissenschaftler schlussfolgern, „eine vollständige Wiederöffnung inmitten hoher Übertragungsraten und ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen“ biete „fruchtbaren Boden für die Evolution des Virus und neuer Varianten“.

Ein Kommentar der Immunologie-Professoren Daniel Altmann und Rosemary Boyton in der medizinischen Fachzeitschrift BMJ (British Medical Journal) warnt angesichts der Schulöffnungen darüber hinaus vor der Gefahr von Covid-19-Langzeitfolgen für Kinder („Long-Covid-Syndrom“). Der Artikel verweist auf nationale Untersuchungen, wonach 79.000 der von Long-Covid Betroffenen im Vereinigten Königreich „weniger als 19 Jahre alt“ sind. Die Symptome gleichen demnach denjenigen der Älteren: „Abgeschlagenheit, Atemnot, Gliederschmerzen, Hautausschlag, Kopfschmerzen.“

Die Autoren erinnern zudem an die „hohe Prävalenz asymptomatischer Ansteckung“ unter Kindern und Jugendlichen und weisen darauf hin, dass „die Wiederaufnahme des Unterrichts“ stets mit „Sprüngen im R-Wert“ einhergingen. Insgesamt, so die Forscher, „spielen Kinder eine bedeutende Rolle“ dabei, das Virus „in ihr soziales Umfeld und zu älteren Verwandten“ zu tragen. Das BMJ hatte die Pandemiepolitik der Regierungen im Februar unter Verweis auf die Schriften des Sozialisten Friedrich Engels als „sozialen Mord“ bezeichnet.

„Ich frage mich ernsthaft, wem der Zusammenhang zwischen der Kita/Schulöffnung und den wieder steigenden Fallzahlen nicht auffällt“, sagte der Erzieher Raphael W. der World Socialist Web Site. „Wie soll man sich als Erzieher dabei fühlen, jeden Tag mit Kindern zu arbeiten, bei denen man keinen Abstand halten kann? Schon vor Corona kamen viele Kinder krank in die Schule oder in die Kita. Wenn ich mit harten Krankheiten und potenziellem Infektionsrisiko arbeiten wollte, hätte ich einen anderen Beruf ergriffen. Die Kids sind der einzige Grund, weshalb ich die Arbeit überhaupt noch mache.“

„Eltern und Erzieher erfahren einen Tag vorher, was für die nächsten drei Tage gerade Phase ist,“ fuhr Raphael W. fort. „Anstatt unser Gehalt der Wichtigkeit unseres Berufs anzupassen, wird von uns verlangt, unsere Gesundheit, unser Leben und das unserer Lieben hinten anzustellen. Dazu kommt die schlechte Presse, die ständig ‚macht auf!‘ schreit und suggeriert, dass wir faul wären. Dass Erzieher einen der höchsten Inzidenzwerte haben, keinen Abstand halten und dies wegen der Kinder auch nicht verlangen können, fällt denen nicht ein.“

Raphaels Erfahrungen werden von umfassenden Gesundheitsdaten gestützt. Aktuelle Zahlen der Techniker-Krankenkasse – der bundesweit größten gesetzlichen Krankenversicherung – haben erneut bestätigt, dass Arbeiter in sozialen Berufen das höchste Risiko tragen, an Covid-19 zu erkranken.

So werden etwa Pflegerinnen und Pfleger, Erzieher und Ergotherapeuten mehr als doppelt so häufig wegen Corona krankgeschrieben als der Durchschnitt der Versicherten. Auch Sonderpädagogen, Ärzte, Sozialarbeiter und Rettungssanitäter sind besonders schwer betroffen. Lehrer, die von der TK-Statistik nicht erfasst sind, liegen laut behördlich erfragten Zahlen des NDR knapp unter den Kita-Beschäftigten. Eine Studie der AOK war im Oktober zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen.

Während im privaten Bereich Kontaktbeschränkungen gelten, „werde ich gezwungen, im Dienst Kontakt zu 200 Haushalten pro Woche zu haben“, sagt die Lehrerin Simone E. auf Facebook in einer Gruppe von Lehrern aus dem ganzen Bundesgebiet. „Wegen fehlender Vorquarantäne habe ich Weihnachten nicht mit meinen hochbetagten Eltern feiern können. Darüber bin ich immer noch sehr wütend.“

Vor Weihnachten, berichtet Simone, „sind wir Lehrkräfte zu Hilfspolizisten mutiert: Maskenkontrollen, Aufsicht, Klowache, Kontakte nachverfolgen – mit all den dazugehörigen Konflikten. Das werde ich nicht mehr machen – ich bin keine Soldatin.“ Die wenigen verfügbaren Schnelltests „liefern eine relative Sicherheit für drei bis fünf Stunden und dienen doch nur dazu, den Eltern Sand in die Augen zu streuen“, schließt Simone. „Sowas mache ich nicht.“

Stattdessen plädiert Simone für die Fortführung des Distanzunterrichts: „Fernunterricht ist die Sternstunde der Stillen und das Fiasko des Klassenclowns – meine Schülerinnen und Schüler können im Fernunterricht gut lernen. Sie trauen sich zuhause auch, mehr zu schreiben und zu sagen als in der Gruppe.“

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