Treffen des Netzwerks der Aktionskomitees für sichere Bildung

Lehrer, Schüler und Eltern diskutieren Widerstand gegen die Schulöffnung

Obwohl das Robert-Koch-Institut vor beispiellosen Inzidenzwerten warnt und Wissenschaftler einhellig von einer dritten Welle der Pandemie sprechen, verfolgen Bund und Länder unnachgiebig ihre Öffnungspolitik. Um die wachsende Opposition dagegen gemeinsam zu organisieren und eine unabhängige Perspektive zu diskutieren, traf sich am Montag das Netzwerk der Aktionskomitees für sichere Bildung.

„Wir befinden uns an einem kritischen Wendepunkt“, stellte Phillip Frisch, ein Lehrer aus Nordrhein-Westfalen und Autor für die World Socialist Web Site, zu Beginn seines einleitenden Beitrags fest. „In ganz Europa und weltweit reißen zahlreiche Regierungen sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens wieder auf. Alle verbleibenden Einschränkungen werden aktuell systematisch aufgeweicht und zerschlagen.“ Die Auswirkungen dieser beginnenden dritten Welle, so Frisch, zeigen sich derzeit in Osteuropa: „In Tschechien, der Slowakei und Polen erreicht die Zahl der Infizierten und Toten Rekordwerte. Die Krankenhäuser sind teilweise nicht mehr in der Lage, Patienten zu behandeln.“

Gerade von den ansteckenderen und tödlicheren Virusstämmen gehe eine große Gefahr aus, stellte Frisch fest. „Doch erst die Öffnungspolitik der Regierungen hat den Nährboden dafür bereitet, dass sich die Mutanten derart rasant ausbreiten konnten und viele Menschen an ihnen erkrankten und starben.“ Diese Politik diene „den Profitinteressen einer winzigen, extrem reichen Minderheit von Pandemie-Profiteuren“, die „inmitten von Tod und Leid ihr Vermögen um Billionen Dollar und Euro vermehren konnten.“ Allein in Deutschland sei das Nettovermögen der Ultrareichen zwischen März und Juli 2020 um fast 80 Milliarden auf 486 Milliarden Euro gestiegen.

Zahlreiche Wissenschaftler und Mediziner haben unterdessen die Aufhebung der Schutzmaßnahmen unmissverständlich verurteilt und insbesondere die Schlüsselrolle der Schulen herausgestellt. So zeigte sich etwa die Virologin Melanie Brinkmann „entsetzt“ über die ungesicherten Schulöffnungen und bezeichnete die aktuellen Beschlüsse als „intellektuelle Beleidigung an alle“. Die angesehene Fachzeitschrift BMJ („British Medical Journal“) erklärte zuletzt, dass eine erhebliche Zahl der Covid-19-Patienten mit Folge- und Langzeitschäden jünger als 19 Jahre ist.

„Die Schulöffnungen werden von sämtlichen Bundestagsparteien durchgesetzt“, stellte Frisch fest. „Die Gewerkschaften versuchen, die Schulöffnungen gegen die Lehrer abzudecken und behaupten etwa in Person der GEW-Landeschefin von Sachsen-Anhalt, dass der Präsenzunterricht 'gut funktioniert'.“ Um die Interessen von Schülern, Lehrern und Eltern voranzubringen, sei es daher notwendig, Aktionskomitees aufzubauen, die von Gewerkschaften und etablierten Parteien unabhängig sind.

Dass diese Entwicklungen internationalen Charakter haben, verdeutlichte ein Bericht von Liz Smith, Gründungsmitglied des UK Educators Rank and File Safety Committee. Wie sie berichtete, wurden auch in Großbritannien zuletzt zehn Millionen Kinder und zwei Millionen Lehrer zurück in die Schulen gezwungen, obwohl der R-Wert dort nur knapp unter eins liegt und jede Woche hunderte Arbeiter sterben. Premierminister Boris Johnson hatte zuletzt klar gemacht, dass er keinen weiteren Shutdown dulden werde und von der Bevölkerung verlangt, „mehr Todesfälle“ zu akzeptieren.

„Bei dieser Politik der ‚Herdenimmunität‘ geht es im Kern darum, das Leben der Schwachen, Armen und Arbeitenden zu opfern, um die Profitinteressen der herrschenden Klasse zu verteidigen“, sagte Smith. Im Gegensatz zur medialen Berichterstattung, die die Schulöffnungen als ein freudiges Ereignis verklären, zeige „ein kurzer Rückblick auf die vergangenen zwölf Monate“, dass die ungesicherten Schulöffnungen in Wirklichkeit „der wichtigste Faktor für die Übertragung des Virus“ seien. Schottland und Wales, die die Schulen bereits etwa drei Wochen zuvor geöffnet hatten, verzeichneten nun die höchsten Infektionsraten.

„Als die Schulen am 23. März letzten Jahres zu schließen gezwungen wurden, geschah dies aufgrund eines Massenaufstandes von Lehrern und Arbeitern, die sich weigerten, ihre Kinder zur Schule zu schicken“, berichtete Smith. „Die Gewerkschaften riefen zu keinerlei Aktionen auf.“ Johnsons anschließender Versuch, die Schulen wieder zu öffnen, traf auf den massenhaften Widerstand von Lehrern und Eltern, wurde von den Bildungsgewerkschaften jedoch unterstützt. „Am Wochenende vor der Rückkehr in die Schulen zeigte sich die wachsende Wut unter Lehrern und Schulangestellten in der Teilnahme von 400.000 Menschen an einer Versammlung der NEU-Gewerkschaft.“

Doch die Gewerkschaft rief nicht zum Arbeitskampf auf. „Innerhalb von nur sieben Wochen verwandelte sich die Unterstützung für die Gewerkschaft in erbitterte Feindschaft. Als sich die NEU am 1. März bei einer Veranstaltung mit 25.000 Teilnehmern weigerte, der Forderung nach einem Streik nachzukommen, wurde die Verachtung und völlige Gleichgültigkeit der Gewerkschaftsführung für die Gefährdung der Gesundheit ihrer Mitglieder offen sichtbar.“

„Das vergangene Jahr hat bewiesen, dass Arbeiter ohne eine Rebellion gegen die Labour Party und die Gewerkschaften nicht für ihre grundlegenden Interessen kämpfen können“, folgerte Smith. „Der Aufbau einer neuen politischen Führung ist eine Frage von Leben und Tod.“

Tamino, der in Baden-Württemberg ein Aktionskomitee von Schülern aufbaut, sprach über die fortschreitende Öffnungspolitik der Regierung, die bereits zu einem raschen Anstieg der Fallzahlen geführt hat: „Inmitten der nächsten Ansteckungswelle steuern die Regierungen darauf zu, schnellstmöglich den gesellschaftlichen 'Normalbetrieb' wieder aufzunehmen, um die Profite der Großkonzerne am Laufen zu halten. Bereits vor der Pandemie wurden Kürzungen im Sozialsystem, der Pflege und in der Bildung durchgesetzt. Nun wird die Pandemie von Regierung und Konzernchefs dazu genutzt, diese Kürzungen fortzuführen und die soziale Ungleichheit noch weiter zu vergrößern. Gerade dadurch werden Schüler aus der Arbeiterklasse abgehängt und Hunderttausende in Armut gestoßen.“

Helmut, ein Lehrer aus Berlin, berichtete von katastrophalen Zuständen an den Schulen: „Wir stehen mindestens zwei bis drei Stunden im Unterricht, ohne eine richtige Pause – dabei müssten wir unsere Masken eigentlich spätestens alle 75 Minuten austrocknen lassen. Das ist für die Kollegen aber wegen unserer zusätzlichen Aufgaben gar nicht realisierbar.“ Kinder aus Arbeiterfamilien könnten es sich zudem kaum leisten, regelmäßig neue Masken zu besorgen. „Auch die Planung und Durchführung der Schnelltests ist eine Katastrophe! Als Tester muss ich an meiner Schule zunächst fünf Stunden lang meine Kollegen testen, bevor ich meinen Unterricht gebe. Am Nachmittag fahre ich in eine Kita, um die dortigen Erzieher zu testen, weil sie überhaupt nicht die Möglichkeit haben, es selbst zu tun.“

Simone, eine Lehrerin aus Baden-Württemberg, berichtete ebenfalls über die unhygienischen und unsicheren Arbeitsbedingungen an vielen Schulen. Sie erklärte aber, dass sie selbst lange in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aktiv gewesen sei und die Ablehnung der Gewerkschaften durch die Aktionskomitees nicht nachvollziehen könne. Die GEW habe doch rechtlich gar nicht die Möglichkeit, gegen die unsicheren Bedingungen zu streiken.

Dem widersprachen zahlreiche Mitglieder des Aktionskomitees. Die GEW habe nicht nur keinen Arbeitskampf geführt, sie habe die Öffnung der Schulen aktiv unterstützt, erklärte etwa Martin Mauer, ein Erzieher aus Dresden, der auch für die SGP zu den Bundestagswahlen kandidiert. Er erinnerte an den Fünf-Punkte-Plan, den die Gewerkschaft bei der Schulschließung im Dezember präsentierte, um die Schulen so schnell wie möglich zu öffnen. Der Plan unterschritt sogar die Vorgaben des RKI und sah für Grundschulen und Kitas überhaupt keine ernsthaften Schutzmaßnahmen vor.

Andere Mitglieder sprachen darüber, wie auch Verdi, die IG Metall und alle anderen DGB-Gewerkschaften die unsicheren Arbeitsbedingungen gegen die Beschäftigten durchgesetzt hätten. Wenn Arbeiter ihre Rechte verteidigen wollen, müssten sie sich unabhängig von den Gewerkschaften in Aktionskomitees organisieren, die sich international zusammenschließen und einen Generalstreik vorbereiten. Das zeige sich etwa bei den WISAG-Arbeitern am Frankfurter Flughafen, die aus Verdi ausgetreten sind, um einen Arbeitskampf gegen ihre Entlassungen zu führen.

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