Washington Post enthüllt: US-Behörden haben Putschpläne für den 6. Januar bewusst ignoriert

Am Sonntag erschien auf der Website der Washington Post ein ausführlicher Bericht über den Angriff auf das US-Kapitol am 6. Januar. Er enthält neue Beweise dafür, dass die Bundesbehörden über die weit fortgeschrittenen Vorbereitungen auf faschistische Gewalt informiert waren. Trotzdem haben sie weggesehen und den Putschversuch geschehen lassen.

Laut der Post gingen so viele Berichte über drohende Gewalt bei den Bundesbehörden ein, dass ein Beamter des Heimatschutzministeriums in Washington die städtischen Krankenhäuser anwies, sich am 6. Januar auf ein „Massenaufkommen von Verletzten“ vorzubereiten. Der Beamte forderte die Krankenhäuser auf, zusätzliche Blutkonserven einzulagern, um die Verwundeten zu behandeln.

Über die Bedenken dieses und vieler anderer Beamter wurde jedoch mit der Entscheidung des FBI vom 23. Dezember hinweggegangen, jede systematische Analyse der Bedrohung am 6. Januar einzustellen, da sie „momentan keine weiteren Untersuchungen rechtfertigt“.

Trump-Anhänger vor dem US-Kapitol am 6. Januar 2021 [Photo: Flickr?blinkofanaye]

Zwei Wochen später stürmten mehrere Tausend faschistische Randalierer das Kapitol, unterbrachen die Bestätigung von Trumps Wahlniederlage im Kongress und versuchten, Vizepräsident Mike Pence, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und andere hohe Regierungsvertreter als Geisel zu nehmen. Wäre dies gelungen, dann hätten die Demokraten zweifellos vor der Forderung kapituliert, die Wahl außer Kraft zu setzen, und Trump erlaubt, weiter Präsident zu bleiben.

Die neue Darstellung des Angriffs vom 6. Januar auf der Grundlage von Materialien, die von fast zwei Dutzend Reportern zusammengestellt wurden, besteht aus drei Teilen. Ihre Titel lauten „Warnsignale“, „Blutvergießen“ und „Ausbreitung“. Der erste Abschnitt, der auch den Titel „Vorher“ trägt, enthält viele wertvolle Informationen. Der zweite und dritte Abschnitt mit den Titeln „Während“ und „Danach“ sind weniger bedeutend, Letzterer ist sogar irreführend.

Unter „Warnsignale“ werden zunächst die Bemühungen von Donell Harvin beschrieben. Er war Beamter des Heimatschutzministeriums in Washington DC, und seine Behörde hatte „zunehmende Anzeichen dafür entdeckt, dass Anhänger von Präsident Donald Trump Gewalttaten für den Zeitpunkt planten, an dem der Kongress zusammentritt, um die Abstimmung des Wahlmännerkollegiums zu bestätigen. Doch die Strafverfolgungsbehörden schienen sein Gefühl von Dringlichkeit nicht zu teilen.“

Am 2. Januar organisierten Harvin und Mike Sena aus San Francisco, ein weiterer lokaler Sicherheitsbeamter, eine Telefonkonferenz von „Fusionszentren“ – innerbehördliche Sicherheitsbehörden, die über 80 Regionen der USA verteilt sind ­–, an denen überraschenderweise Hunderte von Beamten teilnahmen, die alle von einer ähnlichen Zunahme von Aufrufen zur Gewalt im Internet berichteten. Im Bericht der Post heißt es weiter: „Zum ersten Mal leuchteten die Zentren von Küste zu Küste rot auf. Die Zeit, das Datum und der Ort, um den es ging, waren immer die gleichen: der 6. Januar um 13 Uhr vor dem US-Kapitol.“

Harvin unternahm noch weitere Versuche, Alarm zu schlagen: „Er lud das FBI, das Heimatschutzministerium, die Militärgeheimdienste und andere Behörden ein, in Echtzeit die Informationen einzusehen, die sein Team zusammenstellte. Er unternahm einen weiteren extremen Schritt und forderte das Gesundheitsamt der Stadt auf, alle Krankenhäuser in Washington DC auf ein Massenaufkommen von Verletzten vorzubereiten. Er forderte sie auf, die Notaufnahmen zu leeren und die Bestände an Blutkonserven aufzustocken.“

Die Post schrieb: „Aus neuen Dokumenten und Berichten aus erster Hand geht hervor, dass städtische Beamte, FBI-Informanten, Social-Media-Unternehmen, ehemalige nationale Sicherheitsbeamte, Forscher, Abgeordnete und Informanten aus der Bevölkerung“ ebenfalls Alarm geschlagen haben.

Doch nichts davon konnte die obersten Entscheidungsträger im nationalen Sicherheitsapparat, vor allem im FBI und im Pentagon, umstimmen. Sie waren entweder von Trump eingeschüchtert oder Teil seiner faschistischen Kabale.

Die Post schreibt: „Es waren jetzt so viele Informationen über den 6. Januar im Umlauf, dass die Analysten im Onlineportal des FBI, wo Social Media-Unternehmen verdächtiges kriminelles Verhalten melden, den Hashtag #CERTUNREST2021 benutzten, um die eintreffenden Bedrohungsmeldungen zu verfolgen und zu organisieren.“ Eine Pro-Trump-Website – TheDonald.win – erschien vor dem 6. Januar mehr als 300-mal in den Untersuchungsberichten des FBI, ohne dass etwas unternommen wurde.

Das FBI stufte die offenen Planungen von Gewalttaten, darunter Drohungen mit der Ermordung von Kongressabgeordneten, Senatoren und allen anderen Gegnern von Trump als „vage und vom 1. Zusatzartikel geschützte Meinungsäußerung“ ein.

Angesichts der Tatsache, dass das FBI zu den größten Feinden der freien Meinungsäußerung gehört (vor allem derjenigen von Gegnern des amerikanischen Imperialismus und Vertretern von Arbeitern, Minderheiten und Opfern von Polizeibrutalität), ist die Sorge um den 1. Zusatzartikel nicht glaubwürdig. Das FBI ging vielmehr deshalb nicht gegen den faschistischen Abschaum vor, weil seine Beamten und Agenten deren Pläne, oder zumindest politische Ziele, größtenteils befürworteten.

Die Maßnahmen des Heimatschutzministeriums – der riesigen Superbehörde, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit dem angeblichen Ziel gegründet wurde, die Verteidigung von Zielen innerhalb der USA gegen terroristische Bedrohungen zu zentralisieren – beschränkten sich darauf, mehrere Hundert Agenten der Border Patrol zum Schutz ihrer eigenen Büros in Washington DC einzufliegen.

Die Post schrieb: „Sie haben keine Sicherheitsmeldung – die am leichtesten erkennbare Warnung an Strafverfolgungsbehörden und die Öffentlichkeit hinsichtlich möglicher Gewalt – herausgegeben. Die Führung der Behörde hat obendrein dem Secret Service nicht die Verantwortung für die Sicherheitsplanung eines Ereignisses übertragen, an dem alle Mitglieder des Kongresses, der Vizepräsident und der künftige Vizepräsident beteiligt sein würden. Dies hätte die Verbreitung von Geheimdienstinformationen und eine Koordinierung der Sicherheit ermöglicht.“

Auch das Pentagon hielt sich abseits. Seine oberste zivile und militärische Führung wich Anfragen zur Mobilisierung der Nationalgarde vor und während des Angriffs auf das Kapitol aus. Der amtierende Verteidigungsminister Christopher Miller, Army Secretary Ryan McCarthy und Generalstabschef Mark Milley prüften einen Antrag der Bürgermeisterin von Washington DC, Muriel Bowser, mehrere Hundert Nationalgardisten für Verkehrskontrollen am 6. Januar zu mobilisieren, wodurch die Polizei der Stadt für den Dienst am Kapitol zur Verfügung gestanden hätte.

Die Post schrieb: „Die größte Sorge von Bowser und den Pentagon-Vertretern war, dass Trump die Nationalgarde einsetzen könnte, um die Auszählung der Stimmen zu behindern oder etwas anderes zu tun, was als Einschüchterung des Kongresses angesehen werden könnte.“

Mit anderen Worten, die Pentagon-Vertreter und die demokratische Bürgermeisterin betrachteten die Mobilisierung der Nationalgarde als eine Art zweischneidiges Schwert, weil Trump, der bis zur Amtsübergabe am 20. Januar noch für zwei Wochen Oberbefehlshaber war, die Truppen anweisen könnte, die Bestätigung der Abstimmung des Wahlmännergremiums durch den Kongress zu beenden.

Bowser, die enge Beziehungen zu den Demokraten im Kongress unterhält, hat die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zweifellos über ihre Bedenken informiert. Doch weder die Fraktionsführung im Kongress noch der künftige Präsident Biden versuchten, die amerikanische Bevölkerung vor der Gefahr zu warnen, dass der abgewählte scheidende Präsident versuchen könnte, mit Gewalt an der Macht zu bleiben.

Die Post schweigt sich in ihrem Bericht über diesen entscheidenden politischen Aspekt der Krise vom 6. Januar komplett aus. Sie klagt Trump – zu Recht – an, während sie die Demokraten freispricht.

Die Schilderung macht deutlich, dass die Ereignisse vom 6. Januar nicht nur ein spontaner Protest von enttäuschten Trump-Anhängern waren, die bei einer Kundgebung vor dem Weißen Haus aufgehetzt wurden, sondern das Ergebnis mehrmonatiger Organisation und Vorbereitung. Die Zeitung beschreibt die Aussagen von Trump in den zwei Monaten nach der Wahl und die Reaktionen der diversen faschistischen Gruppen, vor allem der Proud Boys, und des informellen Netzwerks von ultrarechten Aktivisten. Diese konzentrierten sich zunehmend auf die Zeremonie zur Bestätigung der Abstimmung des Wahlmännergremiums im Kongress.

Weiter heißt es: „Trump war in jedem Stadium die treibende Kraft. Er hat in den Monaten vor dem 6. Januar das organisiert, was sich zu einem politischen Putschversuch entwickeln würde, seine Unterstützer nach Washington berufen, den Mob zum Marsch auf das Kapitol aufgestachelt und wichtige Bundesbehörden behindert, deren Aufgabe es war, Bedrohungen der nationalen Sicherheit zu untersuchen und zu verhindern.“ Danach zitiert die Zeitung Trumps berüchtigten Tweet an seine Unterstützer, am 6. Januar nach Washington zu kommen: „Seid da, es wird wild werden!“

Doch die Untätigkeit der staatlichen Sicherheitsbehörden wird mit der gleichen Beschönigungstheorie entschuldigt, die schon nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entwickelt wurde, um die engen Beziehungen zwischen den Flugzeugentführern und den amerikanischen Geheimdiensten weg zu erklären: Man habe „keinen Zusammenhang herstellen können“. Die Post schreibt: „Die Paralyse, die zu einem der größten Versäumnisse der Sicherheitsdienste in der Geschichte des Landes geführt hat, wurde möglich durch einzigartige Pannen innerhalb jeder einzelnen Strafverfolgungsbehörde und verschlimmert durch den Flickenteppich von Sicherheitsapparaten in einer Stadt, in der die Zuständigkeit zwischen lokalen und Bundesbehörden aufgeteilt ist.“

Der politische Zweck dieser Theorie zeigt sich besonders im letzten Teil der Serie in der Post (der zweite Teil ist hauptsächlich eine eingehende Schilderung der Ereignisse am 6. Januar selbst mit wenig neuen Informationen). Teil drei mit dem Titel „Ausbreitung“ befasst sich mit den Folgen des Angriffs vom 6. Januar für einzelne Polizisten, Teilnehmer und Wahlbeamte, die an der Auszählung der Stimmen beteiligt waren.

Allerdings vermeidet er jede Bewertung der Reaktion des politischen Establishments auf den Angriff, genauso wie eine Diskussion über das gescheiterte Amtsenthebungsverfahren, die gescheiterten Versuche, eine parteiübergreifende Untersuchungskommission zum 6. Januar einzurichten, und die Einberufung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Letzterer hat sich zum bevorzugten Mittel der demokratischen Parteiführung entwickelt, um die Veröffentlichung von Informationen auf das der Biden-Regierung genehme Maß zu begrenzen.

Die Hauptsorge der Demokraten ist, zu vertuschen, wie tief weite Teile der Republikaner in Trumps illegale und verfassungswidrige Machenschaften verwickelt waren, die Wahl zu kippen und im Amt zu bleiben. Betroffen sind u.a. fast alle republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus und viele Senatoren.

Letzte Woche erschien im Rolling Stone ein Bericht, in dem zwei Organisatoren der Kundgebung am 6. Januar, auf der Trump seine Anhänger aufgerufen hatte, zum Kapitol zu ziehen und „zu kämpfen wie die Teufel“, erklärten, dass ein Dutzend republikanische Kongressabgeordnete und mehrere hohe Berater Trumps, darunter Stabschef Mark Meadows, an der Planung der Ereignisse vom 6. Januar beteiligt waren. Die Mainstreammedien haben die „brisanten Anschuldigungen“ des Magazins, dass „mehrere Mitglieder des Kongresses eng in die Planung von Trumps Versuchen, seine Wahlniederlage zu kippen, und in die gewalttätigen Ereignisse vom 6. Januar eingeweiht waren“, größtenteils ignoriert.

Das Ausmaß dieser Zusammenarbeit wird noch deutlicher durch eine Klage, die Trumps Anwälte am Wochenende eingereicht haben. Sie wollen die Veröffentlichung von Trumps Kommunikationen in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft durch das Nationalarchiv verhindern. In der Klage geht es um mehr als 750 Seiten E-Mails, Textnachrichten, Telefonaufzeichnungen und Notizen von bis zu 1.600 Regierungsvertretern, die dem House Select Committee, das den Angriff vom 6. Januar untersucht, vorenthalten werden sollen.

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