Prozesse gegen ehemaligen SS-Wachmann und Sekretärin des KZ Stutthof

Am 7. Oktober begann in Brandenburg an der Havel der Prozess gegen den 100-jährigen ehemaligen SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen. Josef S. ist der Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord in 3518 Fällen zwischen Januar 1942 und Februar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen angeklagt.

Da der Angeklagte am zweiten Prozesstag bestritt, im KZ Sachsenhausen gewesen zu sein, berichtete in den weiteren Verhandlungen eine Kriminalbeamtin des Staatsschutzes der Brandenburger Polizeidirektion Nord, Heike Trautmann, von ihren Nachforschungen in Archiven und der Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen.

Der Name des Angeklagten, sein Geburtsdatum und der damalige Dienstgrad des Angeklagten hätten sich im Archiv der Gedenkstätte, im Koblenzer Bundesarchiv und im Stasi-Unterlagen-Archiv gefunden. Aus den Unterlagen sei ersichtlich, dass der Angeklagte vom 23. Oktober 1941 bis zum 18. Februar 1945 in sechs verschiedenen Kompanien der SS-Wachmannschaften tätig gewesen sei. In dieser Zeit sei er vom einfachen Dienstgrad zum SS-Rottenführer aufgestiegen.

Laut den Ermittlungen der Beamten wurden während der Dienstzeit von Josef S. über 38.110 Menschen ermordet. Hinzu kommen 10.936 namentlich bekannte Häftlinge, die im Totenbuch der Gedenkstätte Sachsenhausen verzeichnet sind. Trautmann präsentierte dem Gericht eine 14 Meter lange Liste, auf der die Beamten die täglichen Tötungen notiert hatten. Als Tötungsarten wurden Erschießungen, Erhängungen, Vergasungen und menschenunwürdige Lebensbedingungen aufgeführt.

Das Gerichtsverfahren gegen Josef S. vor dem Landgericht Neuruppin wird aus organisatorischen Gründen in einer Sporthalle der Justizvollzugsanstalt in Brandenburg an der Havel durchgeführt.

Das KZ Sachsenhausen in der Nähe von Berlin hatte laut Wikipedia eine Sonderrolle. Durch seine Nähe zur Gestapo-Zentrale diente das ab 1936 durch Häftlinge aus aufgelösten anderen Lagern erbaute Konzentrationslager auf deutschem Boden als Ausbildungsort für KZ-Kommandanten und SS-Wachmannschaften und zum Austesten verschiedener Tötungsmethoden.

Insgesamt wurden etwa 200.000 Häftlinge ins KZ Sachsenhausen deportiert, nur etwa 140.000 von ihnen wurden registriert. Im August 1941 wurde eine Genickschussanlage errichtet, mit der mindestens 13.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden. Das KZ wurde durch zahlreiche Außenlager erweitert, wo KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit in Industrie- und Rüstungsbetrieben ausgeliehen bzw. „vermietet“ wurden, u.a. an Siemens, Demag-Panzer, Henschel-Werke Berlin, Daimler-Benz und I.G. Farben.

Einer der Nebenkläger im Prozess ist der 84jährige Christoffel Heijer. Sein Vater ein niederländischer Widerstandskämpfer wurde grausam im KZ Sachsenhausen ermordet.

So heißt es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 7. Oktober 2021: „Anfang Mai 1942 wurden im Erschießungsgraben der ‘Station Z’ auch 71 holländische Widerstandskämpfer hingerichtet. Erschossen von Angehörigen einer Kompanie des SS-Totenkopf-Wachbataillons. In einer Publikation der Gedenkstätte wird diese ,arbeitsteilige Täterschaft’, also das ,Zusammenwirken und Ineinandergreifen’ von Kommandaturstab und Wachmannschaft des Konzentrationslagers genau beschrieben, am Beispiel von Massenmorden, auch dem an den 71 Niederländern. Einer von ihnen war Johan Hendrik Heijer, geboren 1900 [der Vater von Christoffel Heijer].“

Es gab Gaskammern und Verbrennungsöfen im KZ Sachsenhausen, die dann im großen Stil in den Vernichtungslagern Auschwitz u.a. im von Nazideutschland besetzten Polen zum industriellen Massenmord an Juden, Sinti und Roma, politischen Gegnern, sowjetischen Kriegsgefangenen u.a. eingesetzt wurden. Auch das Töten durch Hunger und Arbeit war weit verbreitet. Es ist unmöglich die Liste der nationalsozialistischen Greueltaten hier vollständig aufzuzählen.

Es ist völlig unvorstellbar, dass die Wachmannschaften im Lager dies nicht mitbekamen. Aus ihren Reihen wurden Erschießungskommandos für die Massenmorde zusammengestellt. Sie mussten die Häftlinge bewachen, die täglich zu schwerster Zwangsarbeit außerhalb des Lagers getrieben wurden. Sie kannten die katastrophalen Bedingungen, unter denen die Menschen im Lager vegetierten. Tausende starben durch Hunger, Kälte und Krankheiten.

Bei der Verlesung der Anklage ging der Staatsanwalt Cyrill Klement ausführlich auf die systematischen Tötungen von Tausenden Lagerinsassen während der Jahre 1941 bis 1945 ein. Dazu gehörten Massenerschießungen in speziellen Anlagen, Vernichtungsaktionen in Gaskammern und das Sterben durch Entkräftung und Krankheiten. „Der Angeklagte unterstützte dies wissentlich und willentlich zumindest durch gewissenhafte Ausübung des Wachdienstes, die sich nahtlos in das Tötungssystem einfügte.“

Der Prozess gegen Josef S. musste Ende Oktober wegen einer Operation des Angeklagten unterbrochen werden. Die Nebenkläger hoffen, dass der Prozess fortgesetzt werden kann. Als nächstes sollte der Historiker Stefan Hördler als Sachverständiger gehört werden. Für Anfang November waren die Aussagen eines Überlebenden des KZ aus Israel und eines Nachkommen eines Inhaftierten aus Frankreich geplant, die als Nebenkläger im Prozess auftreten.

Der Fall Irmgard F.

Fast zeitgleich mit dem Prozess gegen Josef S. sollte Ende September der Prozess gegen die 96-jährige ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. eröffnet werden. Sie war zwischen Juni 1943 und April 1945 Sekretärin des KZ-Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig im von Nazideutschland besetzten Polen.

KZ Stutthof: Gaskammer (Gebäude links) - Krematorium (rechts) (Foto: Hans Weingartz - http://www.pass-weingartz.de/hw.htm, CC BY-SA 2.0 DE, via Wikimedia Commons)

Irmgard F. ist der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt. Der Vorwurf gegen sie lautet, dass sie in ihrer Funktion als Sekretärin des Lagerkommandanten im KZ Stutthof zwischen Juni 1943 und April 1945 „den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet“ habe.

Der Prozess findet in einer zum improvisierten Gerichtssaal umgebauten Lagerhalle im Industriegebiet von Itzehohe in Schleswig-Holstein statt. Auch hier gehören Überlebende und Angehörige der Toten aus dem KZ Stutthof zu den Nebenklägern. Der Prozess findet vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe statt, da die Angeklagte zur Tatzeit 18 bzw. 19 Jahre alt war.

Der Prozess gegen die Angeklagte musste verschoben werden, da Irmgard F. nicht zur Prozesseröffnung erschienen war. Sie hatte am Morgen des angesetzten Termins ihr Seniorenheim in Quickborn mit einem Taxi verlassen und wurde später am Tag in Hamburg aufgegriffen. Nach kurzer Untersuchungshaft wurde sie mit elektronischer Fussfessel wieder entlassen. Zum neuen Termin am 19. Oktober erschien sie dann, sodass die Anklageschrift verlesen werden konnte.

Der Fall von Irmgard F. ist der erste Fall, in dem eine Zivilangestellte eines Konzentrationslagers vor Gericht steht. Der Prozess soll zeigen, was Irmgard F. als Schreibkraft in der Lagerkommandatur wusste, was sie selbst miterlebte. Ein Gutachten für den Prozess legt nahe, dass sie viel gewusst haben könnte. Der Schriftverkehr des Kommandanten Hoppe soll über ihren Schreibtisch gegangen sein. Darunter sollen sich auch Exekutionsbefehle, Transportlisten mit den Namen von Frauen und Kindern, die aus Stutthof nach Auschwitz deportiert wurden sowie der Schriftverkehr des Konzentrationslagers mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin befunden haben.

Das Konzentrationslager Stutthof war, wie jedes nationalsozialistische Konzentrationslager, eine Einrichtung zum Quälen, Erniedrigen und Ermorden von Menschen, eine Todesmaschine. Alle, die darin mitarbeiteten, machten sich der Beihilfe zum Ermöglichen dieser Greueltaten schuldig und damit der Beihilfe zum Mord. Behauptungen der Angeklagten, dass sie von vielem, was in dem Lager vorging und z.B. der Existenz einer Gaskammer nichts gewusst hätte, sind wenig glaubhaft.

Zur Geschichte des Konzentrationslagers Stutthof

Das Konzentrationslager Stutthof ist weniger bekannt als die Lager in Auschwitz, Buchenwald oder Dachau. Es wurde am 2. September 1939 eröffnet, einen Tag nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, und bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es wurde erst am 9. Mai 1945, einen Tag nach Kriegsende von Soldaten der Roten Armee befreit.

Zunächst wurden in Stutthof zivile Gefangene eingesperrt – polnische Intellektuelle, Lehrer, Abgeordnete und Akademiker aus Danzig. Mit Beginn des Polenfeldzugs begann die Gestapo mit Massenverhaftungen. Die Häftlinge mussten unter brutalsten Bedingungen Gebäude auf dem Lagergelände errichten. Von mehreren hundert Danziger Juden, die bis Mitte September 1939 hier eingesperrt waren, starben die meisten innerhalb weniger Wochen.

Aufgrund seiner frühen Entstehung gilt Stutthof als das erste Konzentrationslagr außerhalb der deutschen Grenzen. Am 29. Januar 1942 erhielt es den Status der Stufe I, den es bis Kriegsende behielt. Mit der Eingliederung in das Konzentrationslagersystem wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Gefangenen in die Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs einzubeziehen. Der wirtschaftliche Gewinn, den die SS aus der Ausbeutung bzw. „Vermietung“ von Häftlingen an private Unternehmen und Landwirtschaftsbetriebe zog, betrug für die Jahre 1942 bis 1944 schätzungsweise 10 Millionen Reichsmark.

Anfang 1943 wurde direkt neben dem alten Lager das neue Konzentrationslager, das mit einem Elektrozaun gesichert war, errichtet. Das Lager hatte 39 Außenlager. Die größten waren Thorn (Torun) und Elbing (Elblag) mit je etwa 5000 jüdischen Frauen. Anfang 1944 wurde eine Gaskammer errichtet. Mindestens 65.000 Menschen, vor allem Juden, wurden in Stutthof ermordet.

Bis zum Ende der Naziherrschaft wurden die brutalsten Verbrechen begangen, einschließlich Massenerschießungen durch SS-Leute am 31. Januar 1945 am Strand von Palmnicken, als rund 3000 jüdische Häftlinge mit Maschinengewehrfeuer in die Ostsee gehetzt oder erschossen wurden. Nur 15 Menschen haben dieses Massaker überlebt.

Max Pauly, der vom 1. April 1940 bis 1942 Kommandant des KZ Stutthof war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit dreizehn anderen Verantwortlichen für das Konzentrationslager Neuengamme, seiner nächsten Kommandantenstelle, vor ein britisches Kriegsgericht in Hamburg gestellt, zum Tode verurteilt und 1946 gehängt.

Sein Nachfolger in Stutthof, Paul Werner Hoppe, wurde 1957 in Bochum zu neun Jahren Haft verurteilt, von denen er nur drei Jahre verbüßte. Er wurde 1960 aus dem Gefängnis entlassen und führte bis zu seinem Tod im Jahr 1974 ein unauffälliges Leben in Bochum. Theodor Meyer, Hoppes Adjutant, wurde im zweiten Stutthof-Prozess am 31. Oktober 1947 zum Tode verurteilt und am 22. Oktober 1948 durch Hängen in Gdansk (Danzig) hingerichtet.

Im Prozess gegen Paul Werner Hoppe sagte Irmgard F. als Zeugin aus. Nun frage sie sich, warum man sie nicht bereits damals verhaftet habe, wenn man sie doch als mitschuldig ansehe.

Verspätete Prozesse

Wie auch schon in ähnlichen früheren Prozessen geht es den meisten Nebenklägern weniger darum, dass die inzwischen sehr alten Angeklagten noch eine hohe Strafe erhalten und ins Gefängnis müssen, sondern dass die unglaublich brutalen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes vor Gericht kommen und verurteilt werden. Sie wollen, dass nicht in Vergessenheit gerät, was vor über siebzig Jahren passiert ist, und dass bekannt wird, was ihnen und ihren Angehörigen angetan wurde.

Die Prozesse gegen ehemalige SS-Männer, und jetzt der ehemaligen KZ-Sekretärin, die sich in den Vernichtungslagern der Nazis der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben, finden deswegen so spät statt, weil die deutsche Justiz in der gesamten Nachkriegszeit kaum Interesse an der Verfolgung der Naziverbrechen und ihrer Täter und Helfershelfer gezeigt hatte.

Frühere Bemühungen, Verantwortliche an den grausamen und massenweisen Verbrechen in den Konzentrationslagern vor Gericht zu bringen, wurden oftmals verhindert oder abgewiesen. Von den 6500 SS-Leuten des Vernichtungslagers Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, wurden in der Bundesrepublik gerade mal 29 verurteilt, in der DDR waren es etwa 20.

Ein wichtiger Grund dafür war der fast nahtlose Übergang von deutschen Juristen, Richtern und Staatsanwälten mit Nazivergangenheit in den Justizapparat der Bundesrepublik. Eine wirkliche Aufarbeitung und Abrechnung mit den Verantwortlichen für die monströsen Verbrechen der Nazidiktatur hat es in Deutschland nie gegeben.

Jahrzehntelang mussten SS-Schergen, die in den Konzentrationslagern tätig waren, konkrete Morde an bestimmten Personen nachgewiesen werden, damit es überhaupt zu einer Anklage kam, was sich mangels überlebender Zeugen als schwierig bis unmöglich erwies. Das änderte sich erst mit dem Demjanjuk-Prozess, der im Mai 2011 mit der Verurteilung des Angeklagten zu Ende ging. Seither kann jeder, der in irgendeiner Form an systematischen Tötungen in Konzentrationslagern beteiligt war, der Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Nach diesem Urteil wurde erstmals systematisch nach noch lebenden SS-Leuten gesucht, die am Holocaust beteiligt gewesen sind.

Im Jahr 2015 folgte unter anderem der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning, der in Auschwitz tätig war und dort auch an der Rampe eingesetzt wurde. Grönings Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 300.000 Juden im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurde im September 2016 vom Bundesgerichtshof bestätigt. Seine Haft hat er jedoch nicht mehr antreten müssen. Gröning verstarb im März 2018 im Alter von 96 Jahren in einem Krankenhaus.

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