Während London und Paris um ertrunkene Migranten im Ärmelkanal streiten:

Drohender Untergang eines maroden Flüchtlingsboots im Mittelmeer könnte hunderte Todesopfer fordern

Paris und London beschuldigen sich gegenseitig wegen des Tods von 27 Migranten und Asylsuchenden im Ärmelkanal am Mittwoch. Gleichzeitig wurde am Donnerstagmorgen berichtet, dass sich 430 Menschen auf einem Boot im Mittelmeer vor der nordafrikanischen Küste in unmittelbarer Lebensgefahr befinden.

Die Meldung stammte von der Organisation Alarm Phone. Die Medien berichteten jedoch kaum darüber. Alarm Phone betreibt eine Hotline für Passagiere auf Booten in Seenot. Sie schrieb: „Ein Boot mit etwa 430 Menschen an Bord, darunter Dutzende Kinder und Minderjährige, befindet sich auf dem Mittelmeer in großer Gefahr.“

Screenshot des Alarm-Phone-Artikels vom Donnerstag, der auf die lebensgefährliche Lage von mehr als 400 Migranten im zentralen Mittelmeer hinweist

Alarm Phone erklärte, sie habe einen Tag zuvor von den Insassen des Boots von der katastrophalen Situation erfahren: „Sie erklärten, das Boot falle auseinander, sie könnten nicht mehr lange durchhalten. Sie berichteten außerdem, dass es bereits mehrere Tote gab. Unter Deck sind mehr als 100 Menschen; wenn das Boot untergeht, wären sie darin gefangen.“ Die Organisation nannte auch die Koordinaten des Boots.

Die Europäische Union (EU) reagierte jedoch nicht, obwohl Alarm Phone „die EU-Behörden in Italien und Malta mehrfach informiert hat. Das MRCC (Seenotrettungs-Koordinationszentrum) in Rom hat uns mitgeteilt, es sei in diesem Fall nicht die ,zuständige Behörde‘ … In Malta legen sie einfach auf, wenn wir versuchen, Informationen über den Fall zu melden.“

Nach den vermeidbaren Todesfällen von Mittwoch zeigt auch die Haltung gegenüber dem Boot im Mittelmeer die Kriminalität der immigrantenfeindlichen Politik aller europäischen Regierungen. Während sich diese Krise entwickelt, haben sich Großbritannien und Frankreich gegenseitig erbitterte Vorwürfe wegen der Todesfälle gemacht. Die Ertrunkenen hatten versucht, mit einem leichten Schlauchboot nach Großbritannien zu gelangen, doch das Boot war vor der französischen Hafenstadt Calais gekentert.

Nachdem die französische Regierung ursprünglich den Tod von 31 Menschen gemeldet hatte, korrigierte sie die Zahl am Donnerstagmorgen auf 27. Das war dennoch die höchste Zahl an Todesopfern im Ärmelkanal seit Beginn der systematischen Überwachung von Überquerungen und Todesopfern durch die Internationale Organisation für Migration im Jahr 2014.

Unter den Toten waren 17 Männer, sieben Frauen – darunter eine Schwangere – zwei Jungen und ein Mädchen. Berichten zufolge waren die meisten Toten Kurden aus dem Irak oder Iran. Einer der Geretteten stammte aus dem Irak, der andere aus Somalia. Sie erholen sich gerade von einer schweren Unterkühlung. Zuvor waren in den letzten Wochen bereits zehn Migranten beim Versuch gestorben, den Ärmelkanal zu überqueren.

Frankreich, Großbritannien und die ganze herrschende Klasse Europas sind für diese Todesfälle verantwortlich. Es ist kein Zufall, dass die Herkunftsländer der Opfer – Irak, Iran und Somalia – zu den Ländern gehören, die unter jahrzehntelanger imperialistischer Unterdrückung zu leiden hatten. Dazu gehört der Überfall auf den Irak 2003 und die imperialistischen Intrigen im Iran und Somalia. Diese Verbrechen haben Millionen zu Obdachlosen oder Binnenflüchtlingen gemacht.

Als die Todesfälle bekannt wurden, übten sich Frankreich und Großbritannien in Schadensbegrenzung. Regierungsmitglieder beider Länder erklärten, „Schleuser“ und „Banden“ seien ganz alleine dafür verantwortlich. Frankreich leitete ein Ermittlungsverfahren ein; am Mittwoch wurden vier Männer verhaftet, am Donnerstag ein fünfter. Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte: „Wir tun alles, um die Verantwortlichen zu finden und zu verurteilen.“

Unmengen von Krokodilstränen wurden vergossen. Das Europäische Parlament hielt am Donnerstag eine Schweigeminute ab. Doch die gleichen EU-Vertreter sind dafür verantwortlich, den Kontinent in die „Festung Europa“ verwandelt zu haben, wodurch Zehntausende von Migranten und Asylsuchenden im Mittelmeer und der Ägäis ertrunken sind.

Neu ausgehobene Gräber von Migranten, die beim Versuch, den Ärmelkanal zu durchqueren, gestorben sind. Aufgenommen auf dem Nordfriedhof von Calais, Nordfrankreich, am 25. November 2021 (AP Photo/Rafael Yaghobzadeh)

Am Donnerstag forderte Macron eine „Krisensitzung der von Migrationsfragen betroffenen europäischen Minister“. Er erklärte, die EU-Grenzschutzbehörde Frontex solle „sofort Verstärkung“ zur Überwachung des Ärmelkanals schicken.

Johnson und Macron versprachen am Mittwochabend, die Kooperation zur Vermeidung von Todesfällen im Ärmelkanal zu „verstärken“. Macron forderte Großbritannien zynisch auf, die Todesfälle nicht „politisch auszunutzen“.

Ihre Plattitüden waren nur der Auftakt für heftige gegenseitige Anschuldigungen und nationalistische Angriffe auf beiden Seiten des Ärmelkanals, von rechten Kräften und den Medien.

Johnson hatte Frankreich bereits vor dem Telefonat mit Macron Nachlässigkeit bei der Überwachung der Küste vorgeworfen: „Wir hatten Schwierigkeiten, einige unserer Partner – vor allem die Franzosen – zu überzeugen, Dinge so zu machen, wie es die Situation unserer Meinung nach erfordert.“

Die rechte britische Skandalpresse, die seit Jahren gegen „illegale“ Immigranten und Asylsuchende hetzt und für alles verantwortlich macht, war voller Schuldzuweisungen. Die Daily Mail veröffentlichte ein Bild der Überreste des Schlauchboots, mit dem die 27 den Ärmelkanal durchqueren wollten, und die Schlagzeile dazu lautete: „Das geht auf Ihr Konto, Macron.“

Die Metro klagte auf ihrer Titelseite: „Warum hat Frankreich sie nicht aufgehalten?“ Die Printausgaben der Sun und der Daily Mail zeigten ein Bild von Immigranten mit einem Schlauchboot an der Küste und in der Nähe ein französisches Polizeiauto. Die Überschrift lautete: „Beschämend: Die französische Polizei sieht untätig zu, wie Schlauchboote in Richtung Großbritannien aufbrechen“ und „Sie lassen die Banden damit durchkommen“. Der Daily Express klagte: „Großbritannien hat dem ,doppelzüngigen‘ Frankreich seit 2015 160 Millionen Pfund gezahlt, um Migrantenboote aufzuhalten.“

Macron ging es hauptsächlich darum, die Law-and-Order-Politik seiner Regierung gegen Migranten und Asylsuchende herauszustellen. Er erklärte: „Unsere Sicherheitskräfte sind Tag und Nacht im Einsatz. ... Unsere Mobilisierung ist, soweit es unsere Küsten betrifft, umfassend.“ Als Reaktion auf die Todesfälle kündigte er eine „maximale Mobilisierung“ der französischen Streitkräfte an, einschließlich des Einsatzes von Reservisten und Drohnen an der Küste.

Der französische Innenminister Gérald Darmanin ließ am Donnerstag in einem Interview mit dem Radiosender RTL eine üble nationalistische und rassistische Hetztirade los. Er erklärte mit mehr als nur einer Andeutung von Neid gegenüber dem von ihm beschriebenen wirtschaftlichen Vorteil Großbritanniens: „Jeder weiß, dass in Großbritannien mehr als 1,2 Millionen illegale Immigranten leben und dass die britischen Arbeitgeber diese benutzen, um Verbrauchsgüter herzustellen.“

Nur wenige Tage vor dem Unglück im Ärmelkanal hatte er erklärt: „Warum gehen die Leute nach Calais? Um nach Großbritannien zu kommen... Und warum wollen sie dorthin? Weil der Arbeitsmarkt in Großbritannien weitgehend dank einer großen Reservearmee, wie es Karl Marx formulierte, funktioniert. Diese Reservearmee besteht offensichtlich aus Leuten in einer irregulären Situation, die für niedrigen Lohn arbeiten können.“

Die britischen Vorwürfe, Frankreich gehe zu nachlässig mit Immigranten und Asylsuchenden um, erwiderte er mit der Retourkutsche: „Es wird oft gesagt, Frankreich würde nicht genug abschieben, aber wir schieben 20.000 Menschen pro Jahr ab.“ Großbritannien hingegen „weist nur 6.000 aus, viermal weniger als Frankreich, obwohl es mehr Immigranten gibt, und zweimal so viele Illegale“.

Die rechte Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart von der gaullistischen Partei Les Républicains, verurteilte die „Migrationspolitik“ der letzten französischen Regierungen und „das Versagen von Boris Johnson, der unser Land in diese Lage bringt, weil er nicht den Mut hat, seine eigenen Verpflichtungen ... in seinem Land zu erfüllen.“

Macron behauptete in seiner Rede, um Todesfälle zu verhindern, „müssen wir vor allem die Kooperation ... mit Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und der Europäischen Kommission deutlich stärken“.

Die Grundlage einer solchen Kooperation wird die rücksichtsloseste Unterdrückung der demokratischen Rechte von Migranten und Asylsuchenden sein. Die britische Innenministerin Priti Patel erklärte, die Durchquerungsversuche des Ärmelkanals seien „illegal“ gewesen und fügte hinzu: „Ich habe angeboten, mit Frankreich zusammenzuarbeiten, um [britische] Beamte [an der französischen Küste] zu stationieren, um diese gefährlichen Reisen zu verhindern.“

Patels Innenministerium ist dabei, das drakonische Gesetz Nationality and Borders Bill durchzusetzen, eine Kriegserklärung an die Konventionen des Völkerrechts bei der Behandlung von Asylsuchenden. Im Rahmen dieses Angriffs versucht Patel, eine „Pushback“-Politik durchzusetzen, die die britische Grenztruppe autorisiert, Boote mit Migranten zur Umkehr zu zwingen. Im Parlament erklärte sie, sie werde „alles Notwendige tun, um das Gebiet zu sichern“ und zu verhindern, dass Schiffe Großbritannien erreichen. Sie warnte: „Ich habe nichts ausgeschlossen“ und wies darauf hin, dass Griechenland, dessen immigrantenfeindliche Politik sie vor Kurzem als vorbildlich gelobt hatte, ebenfalls Pushbacks einsetzt.

Laut der Times hat sich Johnson am Mittwoch mit einer Gruppe von Tory-Abgeordneten getroffen, um ihnen zu versichern, dass Großbritannien seine Immigrationspolitik noch weiter verschärfen wird. Die Zeitung schrieb: „Der Premierminister vermittelte den Anwesenden den Eindruck, er erwäge juristische Reformen, um Überquerungen schwerer zu machen, was sie seit langem gefordert haben.“ Sie zitierte einen der Abgeordneten mit den Worten: „Wir müssen das Karussell des Asylverfahrens zerstören.“ Ein anderer Abgeordneter erklärte gegenüber der Times, „[Johnson] hat zugestimmt, dass wir nicht auf das Grenzschutzgesetz warten, sondern jetzt etwas tun müssen. Er wies uns an, ,auf dem Laufenden zu bleiben‘.“

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