Tarifabschluss im öffentlichen Dienst: Ein Schlag ins Gesicht für alle Beschäftigten

Gewerkschaften und Regierungsvertreter haben den Beschäftigten der Länder nach mehr als zwanzig Monaten Corona-Pandemie zu verstehen gegeben, dass sie nicht nur mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben, sondern auch mit ihrem Lohn und Gehalt für die Aufrechterhaltung der „Profite-vor-Leben-Politik” zahlen müssen.

Die Gewerkschaften Verdi (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft), GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), IG BAU (Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt) sowie die Polizei- und Beamtengewerkschaften haben den Tarifkampf im öffentlichen Dienst der Länder gestern ausverkauft.

Berliner Streikende am 25. November (Foto: WSWS)

Die Gewerkschaften hatten 5 Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von zwölf Monaten, mindestens aber 150 Euro und im Gesundheitswesen mindestens 300 Euro monatlich gefordert. Das wäre angesichts einer aktuellen Inflation von 5,2 Prozent bereits eine Reallohnsenkung gewesen.

Doch jetzt erhalten die 1,1 Millionen Beschäftigten der Bundesländer zunächst einmal 14 Monate lang gar nichts. Erst in einem Jahr, am 1. Dezember 2022, werden die Entgelte aller Beschäftigten um 2,8 Prozent erhöht. Die Entgelte von Auszubildenden, Praktikantinnen/Praktikanten und Studierenden werden in einem Jahr um 50 Euro (gefordert waren 100 Euro) bzw. um 70 Euro im Gesundheitswesen angehoben.

Im März kommenden Jahres gibt es für die Beschäftigten eine Einmalzahlung in Höhe von 1300 Euro. Auszubildende, Praktikantinnen bzw. Praktikanten und Studierende erhalten die Hälfte. Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 24 Monaten bis Ende September 2023.

Die Arbeitgeber sagten sofort zu, das mickrige Tarifergebnis zeit- und inhaltsgleich auf die rund 1,4 Millionen Beamten sowie rund eine Million Versorgungsempfänger zu übertragen.

Die Forderung nach einem Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte hat sich genauso in Luft aufgelöst, wie die nach Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Straßenbetriebsdienst und Straßenbau sowie die der GEW nach gleicher Bezahlung von angestellten und verbeamteten Lehrerinnen und Lehrern. Diese Forderung erhebt die GEW seit Jahren.

Und seit Jahren lässt sie sie wieder fallen, diesmal mit folgender Begründung: „Die GEW wollte in dieser Tarifrunde endlich die vollständige Paralleltabelle für angestellte Lehrkräfte erreichen.“ Doch die Länder hätten Verschlechterungen bei der Eingruppierung verlangt. „Diesen Angriff auf einen Grundpfeiler des Eingruppierungsrechts mussten die Gewerkschaften jetzt erneut abwehren.“ Im Gegenzug hätten sich die Länder geweigert, über die „strukturellen“ Forderungen der Gewerkschaften zu verhandeln. „Dazu gehörte auch die Paralleltabelle. Die GEW wird in dieser Frage weiter Druck machen.“

Ähnlich versuchte Verdi den Ausverkauf schönzureden. „Das ist ein in weiten Teilen respektables Ergebnis“, behauptete Verdi-Vorsitzender Frank Werneke. „Es bringt für eine ganze Reihe von Beschäftigten im Gesundheitswesen spürbare Einkommensverbesserungen und ist ein weiterer Zwischenschritt auf unserem Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.“ Das werde die Gewerkschaft in zukünftigen Tarifrunden fortsetzen.

Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Wen wollen Verdi und die GEW für dumm verkaufen? Niemand, der nicht auf den Gehaltslisten der Gewerkschaft steht, wird sich von diesen realitätsfernen Äußerungen beeindrucken lassen.

Im Netz und auf Social Media haben sich sofort hunderte Beschäftigte empört zu Wort gemeldet.

Sil Jan richtet sich auf Facebook an Verdi: „Das ist wirklich sehr deprimierend. Respekt und Wertschätzung wäre in dieser Zeit angebracht, insbesondere für die Kolleginnen und Kollegen in der Pflege und in den sozialen Bereichen. Das hier ist noch nicht einmal im Ansatz respektabel. Wir sind ja offensichtlich doch verzichtbar.“

Mike schreibt: „Die Tarifverhandlungen waren einfach nur eine Scheinverhandlung, um den Mitgliedern vorzugaukeln, man würde verhandeln.“ Dass Verdi-Chef Werneke versucht, das als guten Abschluss zu verkaufen, sei „noch viel Schlimmer als die tatsächlich schlechte ‚Einigung‘!“

Thomas schreibt: „Für solch ein Ergebnis habe ich nicht gestreikt.“ Er werde diesem Ergebnis nicht zustimmen. Viele andere bestätigen, dass sie „für dieses Ergebnis auf jeden Fall nicht streiken gegangen“ seien. Viele kündigen an, aus der Gewerkschaft auszutreten. „Zum Glück gibt‘s für die Zukunft ja noch die Option monatlich den Beitrag zu sparen, um etwas mehr Geld zu haben,“ kommentiert Sven. „Danke Verdi, für nichts“, schreibt Anja.

Auf der GEW-Seite berichtet Fridolin: „Beim letzten habe ich schon mit dem Kopf geschüttelt. […] Dieser Abschluss ist aber noch schlechter. […] Wie kann man sich da so vorführen lassen. […] Das ist so schwach!!! ...in der Hochphase des wirtschaftlichen Aufschwungs und auch in der Pandemie!!!“ Er plädierte für eine Ausweitung der Streiks, anstatt kleinbeizugeben.

Stephan Brylka schreibt frustriert: „Und die Erzieher*innen und anderen pädagogischen Kräfte werden wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Und da soll ich dann die Kolleg*innen davon überzeugen in die GEW einzutreten.“

Guido spricht Klartext: „Ich komme mir verarscht vor. Die Renten steigen um über 4 % und für uns gibt es 1,4 %. Da hätte man besser weiter streiken sollen.“

M. Willemsen ist genauso erbost über den Abschluss und fragt: „Wieso rufen die Gewerkschaften nicht zu Streiks auf? Bei 5 % Inflation ist das ein Reallohnverlust von 5 %!. […] So sollen Beschäftigte in die Krankenhäuser geholt werden? Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten sind angeblich systemrelevant – was bleibt davon im Lohnbeutel hängen – nichts!“ Wofür habe man in den letzten Wochen gestreikt, wundert er oder sie sich.

Der GEW-Hauptvorstand antwortet: „So bitter das ist, ohne diese Aktionen hätte es nicht mal diesen Abschluss gegeben.“ Die Arbeitgeber hätten bis zum Schluss gemauert, „wohlwissend, dass Aktionen in Zeiten mit stetig steigenden Infektionszahlen mit dieser Kraft nicht weiter hätten durchgeführt werden können“.

Mit anderen Worten, die Länderregierungen haben genau gewusst, dass die Gewerkschaften klein beigeben. „Natürlich wollten wir auch eine frühere tabellenwirksame Entgelterhöhung“, klagt die Gewerkschaftsführung. „Aber das wollten die Arbeitgeber nicht.“

Das ist eine hochoffizielle Bankrotterklärung. Wenn die Gewerkschaften nur durchsetzen können, was die Arbeitgeber wollen – wozu dann Gewerkschaften? Die vielen Kommentare, dass man weiter und umfassender hätte streiken sollen, zeigen die vorhandene Kampfbereitschaft.

Doch die Gewerkschaften haben die Streiks in Kliniken, Schulen und Behörden absichtlich auf kleiner Flamme gehalten. Die von ihnen organisierten Proteste waren Alibi-Veranstaltungen und dienten allein dazu Druck abzulassen. Sie stecken mit den Arbeitgebern unter einer Decke, besitzen oft dasselbe Parteibuch wie diese und wechseln des Öfteren von einem gut bezahlten Funktionärsjob auf einen besser bezahlten Posten in der Regierung und umgekehrt. Vor allem sind sie wie die Regierenden der Ansicht, dass die Profite und Vermögen der Reichen nicht durch höhere Steuern belastet werden dürfen und dass Einsparungen im öffentlichen Dienst notwendig sind.

Hier zeigt sich das Hauptproblem der Beschäftigten: Sie haben keine Interessenvertretung. Das ist besonders deutlich in der aktuellen Corona-Pandemie. Gerade die Beschäftigten in den Kliniken leisten Unmenschliches. Seit Beginn der Pandemie wurden fast 140.000 Menschen mit Covid-19 auf einer Intensivstation behandelt, die offizielle Zahl der Corona-Toten liegt bei 101.000. Von den bundesweit rund 4500 Covid-Intensivpatienten werden mehr als die Hälfte künstlich beatmet. Tausende Intensivbetten können nicht mehr bereitgestellt werden, weil sich die Intensiv-Kankenpflegerinnen und -pfleger körperlich und seelisch kaputtgearbeitet haben und nicht weiterarbeiten können.

Verdi und die GEW halten trotzdem daran fest, dass die Schulen geöffnet bleiben und ein Lockdown verhindert werden müsse. Ein Duisburger Lehrer schrieb der WSWS, noch „wesentlich rücksichtsloser“ als die vereinbarte Reallohnsenkung sei: „Kein Konzept zur Auslöschung des Virus, sondern die Erwartung, dass wir Lehrer mit an vorderster Front weiter die Knochen hinhalten und das Sterben mitorganisieren.“

Der jetzige Ausverkauf macht einmal mehr deutlich, dass die Gewerkschaften auf der Seite der Regierenden und der Wirtschaft stehen. Angesichts der katastrophalen Corona-Lage ist es absolut dringend, dass sich Arbeiter und Beschäftigte des öffentlichen Diensts unabhängig organisieren. Besprecht mit uns, wie ihr in Schulen, Kliniken, Verwaltungen und Betrieben ein Netzwerk von Aktionskomitees aufbauen könnt, um den Widerstand gegen die Politik des Todes zu organisieren und eine bewusste, weltweit koordinierte Anstrengung zur Eliminierung des Covid-19-Virus zu initiieren.

Im Rahmen unseres Global Workers‘ Inquest, einer globalen Ermittlung der Arbeiter in Sachen Corona-Pandemie, holen wir Erfahrungsberichte ein, um so die Auswirkungen der Pandemie auf das Arbeiten und Leben der großen Masse der Bevölkerung zu dokumentieren. Wir rufen alle auf, die nicht tatenlos zusehen wollen, wie die Gewerkschaften im Auftrag der Reichen und Regierenden sinnlos Gesundheit und Leben der arbeitenden Bevölkerung opfern, mit uns Kontakt aufzunehmen.

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