Perspektive

Die Lehren aus dem Amoklauf an der Oxford High School

Am Dienstagnachmittag ereignete sich eine düstere Szene, die im Leben der Vereinigten Staaten nur allzu bekannt ist: Der 15-jährige Schüler Ethan Crumbley verübte einen Amoklauf an der Oxford High School in einer Vorstadtgemeinde am Rande der Metropolregion Detroit (Michigan). Aufs Neue wurde eine Schule in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem vier junge Menschen ihr Leben verloren. Es war die 29. und tödlichste Schießerei an einer Schule in diesem Jahr, wie aus einer Datenbank von Education Week hervorgeht.

Schüler beteiligen sich an einer Mahnwache in der LakePoint Community Church in Oxford (Michigan) am Dienstag, 30. November 2021 (AP Photo/Paul Sancya)

Nach Angaben der Polizei kam Crumbley kurz vor 13.00 Uhr aus einer Toilette in einen Flur und feuerte mehr als zwei Dutzend Mal aus nächster Nähe auf seine Mitschüler, wobei vier Schüler getötet und sieben weitere verletzt wurden, darunter eine Lehrerin. Er benutzte eine halbautomatische Handfeuerwaffe, die sein Vater, James Crumbley (45) erst vier Tage zuvor gekauft hatte. Crumbley hatte noch 18 Schuss scharfe Munition bei sich, als er von der Polizei etwa fünf Minuten nach Beginn seines Angriffs gestellt und festgenommen wurde.

Der junge Teenager wurde als Erwachsener angeklagt und sieht sich vier Anklagen wegen Mordes ersten Grades, einer Anklage wegen Terrorismus mit Todesfolge, sieben Anklagen wegen vorsätzlicher Tötung und zwölf Anklagen wegen Besitzes einer Feuerwaffe bei der Begehung eines Verbrechens gegenüber. Die Anklage sieht eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung vor.

Während die ersten von mehr als 30 Schüssen zu hören waren, reagierten Schüler und Lehrer so, wie es ihnen und anderen an Tausenden von Schulen im ganzen Land in solchen Situationen beigebracht worden war: Sie verriegelten und verbarrikadierten die Türen der Klassenzimmer, entfernten sich von den Fenstern und brachten sich bei erster Gelegenheit in Sicherheit.

Ein in den sozialen Medien veröffentlichtes Video zeigt, wie Schüler um ihr Leben fürchten, als eine Person, die später als Polizist in Zivil identifiziert wurde – die sie aber für den Schützen hielten –, an die Tür klopft und sie auffordert, zu öffnen. Sie sprangen daraufhin aus einem Fenster im Erdgeschoss und brachten sich in Sicherheit.

Wie bei so vielen anderen Amokläufen an Schulen haben die Ermittler festgestellt, dass es viele Warnzeichen gab, die auf einen bevorstehenden Gewaltausbruch hindeuteten. Einige Schüler waren am Dienstag zu Hause geblieben, weil sie einen Anschlag befürchteten, nachdem sie Gerüchte über eine mögliche Schießerei gehört und eine Countdown-Uhr in den sozialen Medien gesehen hatten.

Crumbley hatte sich am Montag mit der Schulleitung getroffen, und seine Eltern waren am Dienstagmorgen, nur wenige Stunden vor dem Amoklauf, zu einem Treffen mit ihrem Sohn und dem Schulpersonal gerufen worden, um Bedenken über sein „Verhalten im Klassenzimmer“ zu besprechen Die Ermittler der Polizei berichteten, dass sie in Crumbleys Rucksack ein Tagebuch entdeckt hatten, in dem der Teenager seinen Wunsch äußerte, ein Massaker zu verüben. Sie fanden auch heraus, dass er Bilder der Waffe mit einer Zielscheibe in den sozialen Medien gepostet hatte und zwei Videos, in denen er seinen Plan beschrieb.

Schüler, Lehrer und Eltern in der gesamten Region sind von der Tragödie zutiefst erschüttert und bleiben verunsichert. Schulbezirke in der gesamten Metropolregion Detroit gaben am späten Mittwoch Pläne bekannt, den Unterricht am Donnerstag ausfallen zu lassen. Mindestens 15 Bezirke, von denen viele von ähnlichen Gewaltdrohungen an Schulen in ihrem Bezirk berichteten, schlossen am Donnerstagmorgen ihre Türen.

Schießereien an Schulen sind in den Vereinigten Staaten seit mehr als zwei Jahrzehnten zu einem Phänomen geworden, wobei das Massaker an der Columbine High School in Littleton (Colorado) im Jahr 1999 einen wichtigen Wendepunkt darstellt. Zwei Jugendliche aus der Jahrgangsstufe 12, Eric Harris und Dylan Klebold, erschossen damals zwölf Mitschüler und einen Lehrer. Anschließend begingen sie Selbstmord.

Unzählige Tragödien mit blutigen Szenen toter Kinder und Jugendlicher ziehen vor dem inneren Auge herauf, wenn man den Begriff „Schulschießerei“ verwendet: Virginia Tech (2007), Sandy Hook Elementary School in Newtown, Connecticut (2012) und Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida (2018), um nur einige zu nennen.

Im vergangenen Jahr war die Zahl der Schießereien an Schulen stark rückläufig: Nur zehn Vorfälle wurden von Education Week registriert, aber das lag nur daran, dass die meisten Schulen für einen Großteil des Jahres geschlossen waren und die Kinder online lernten. Mit der von Präsident Joe Biden und der Präsidentin der Lehrergewerkschaft AFT, Randi Weingarten, durchgesetzten Wiedereröffnung ist das Phänomen mit Wucht zurückgekehrt und hat die 24 Schießereien des Jahres 2019 übertroffen.

Wie immer kann man in den zahlreichen Kommentaren von Politikern und in den Zeitungsartikeln nichts lesen, was die tieferen sozialen und politischen Ursachen der Epidemie von Schulschießereien zu erklären versucht.

„Wir müssen weiter beten und hoffen für die zusätzlichen Schüler und Lehrer, die verletzt wurden, und für die Schüler, die im Moment unter Schock stehen“, schrieb die demokratische Abgeordnete Elissa Slotkin auf Twitter. „Sie müssen irgendwie damit klarkommen, dass einer ihrer Altersgenossen ihnen das angetan hat.“

Der Sheriff von Oakland County, Michael Bouchard, zeichnete bei einer Pressekonferenz am Dienstagabend ein düsteres Bild von einem unaufhaltsamen Gespenst, das das Land heimsucht und wahllos Kinderleben fordert. „Wenn Sie sich daran erinnern, dass wir vor vielen, vielen Jahren die Schüler wegen der potenziellen Gefahr eines Atomangriffs unter den Schreibtisch klettern ließen“, bemerkte Bouchard. „Nun, es gibt eine ganz andere Bedrohung, und wir müssen dafür trainieren [sic] und dafür bereit sein. So etwas kann überall passieren, und leider ist es sogar in einer netten, ruhigen Gemeinde wie Oxford passiert. Sie kann überall in Amerika auftreten, niemand ist dagegen gefeit.“

Nach jedem Amoklauf gibt es die unvermeidliche Litanei banaler Erklärungen – individuelle Psychologie, Zugang zu Waffen, gewalttätige Videospiele –, die vorgefertigte „Lösungen“ bieten. Weder die Politiker noch die Meinungsmacher haben jemals etwas gelernt oder untersucht.

Auch wenn vieles über die besonderen Umstände des Amoklaufs in Oxford (Michigan) noch nicht bekannt ist, so lässt das, was bisher bekannt wurde, doch einiges über die soziale und politische Realität erkennen, die den Hintergrund für die Tat bildet. 2016 schrieb Crumbleys Mutter, die Immobilienmaklerin Jennifer Crumbley, einen offenen Brief an den neuen Präsidenten Donald Trump, für den sie gestimmt hatte. In ihrem verwirrten und verzweifelten Brief beschreibt Crumbley die wirtschaftliche Existenz ihrer Familie, die der unteren Mittelschicht in Amerika angehört.

„Ich bin 38 Jahre alt. Ich habe eine Familie. Mein Mann und ich haben beide einen Vollzeitjob. Ich habe beobachtet, wie sich unsere Krankenversicherungsbeiträge verdoppelt haben. Ich kann es mir nicht leisten, mich in diese Obamacare einzukaufen. Für meine Familie sind es über 600 Dollar pro Monat mit Selbstbeteiligung. Wir reißen uns den Arsch auf, Mr. Trump. Ich zahle Steuern, mein Mann zahlt Unterhalt für seine Kinder, ich spende für wohltätige Zwecke. Wir sind verdammt gute Amerikaner, die nicht weiterkommen.

„Mein Mann erlitt einen Schlaganfall und brach sich den Rücken, und wir waren auf mein Einkommen angewiesen. Wissen Sie, wie schwer es ist, eine Familie mit nur 40.000 Dollar pro Jahr zu ernähren? Ich konnte keine staatlichen Beihilfen beantragen. Ich habe zu viel gemacht.“

Sie schloss mit den Worten: „Ich habe große Hoffnungen, dass Sie Big Pharma das Handwerk legen und die Gesundheitsversorgung für mich und meine Familie aus der Mittelschicht wieder erschwinglich machen“, schrieb sie. Die Welt, die Frau Crumbley beschreibt, ist eine Welt der ständigen wirtschaftlichen Angst und Verzweiflung. Doch damit mischen sich Rückständigkeit, kulturelle Armut und historische Ignoranz, von denen sich Trump und seine Bewegung ernähren.

Ethan Crumbley hat ein furchtbares Verbrechen begangen. Er hat Leben zerrüttet, Familien vernichtet und Zukunftspläne ausgelöscht. Aber ihn als Monster zu bezeichnen, diesen 15-Jährigen als Erwachsenen anzuklagen und ihm obendrein noch Terrorismus vorzuwerfen, befriedigt nichts weiter als Rachegelüste. Ein Kind, das in einem so jungen Alter ein solches Verbrechen begeht, leidet an einer tiefgreifenden psychologischen Pathologie, die durch die Krankheit der Gesellschaft noch verschlimmert wird.

Im April 1999, nach dem Columbine-Massaker, wies die World Socialist Web Site auf den sozialen, politischen und ideologischen Rahmen des Amoklaufs hin. „Die Konzentration auf einzelne Warnzeichen“, schrieben wir, „wird wenig hilfreich sein, um zukünftige Tragödien zu verhindern.“

Man sollte sich vielmehr um die gesellschaftlichen Warnsignale kümmern, d.h. um die Anzeichen für gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen, die das Klima schaffen, in dem wiederum so etwas wie das Massaker an der Columbine High School entstehen kann. Als wichtigste Indikatoren für drohende Katastrophen könnten u.a. dienen: die wachsende Polarisierung zwischen Reichtum und Armut; die Vereinzelung der arbeitenden Menschen und die Unterdrückung ihrer Klassenidentität, die Glorifizierung von Militarismus und Krieg, das Fehlen jeder ernsthaften gesellschaftlichen Stellungnahmen und politischer Debatten, der abstoßende Zustand der Massenkultur, die Anbetung der Aktienbörse, die ungezügelte Verherrlichung des individuellen Aufstiegs und des persönlichen Reichtums, die Herabsetzung der Ideale des gesellschaftlichen Fortschritts und der Gleichheit.

In den mehr als zwei Jahrzehnten seit Columbine haben sich all diese grundlegenden Prozesse enorm verschärft: die rasant wachsende soziale Ungleichheit, die Verherrlichung des Militarismus, die Förderung von Rassismus und zu allem Überfluss eine Pandemie, die 800.000 Amerikaner getötet hat. Ist es eine Überraschung, dass diejenige Gesellschaft, die regelmäßig solche Massenerschießungen produziert – mehr als jedes andere Land – die höchste Todesrate durch Covid-19 aufweist? Allein in Michigan sterben jeden Tag 200 Menschen. In den Vereinigten Staaten ist ein Menschenleben besonders wenig wert.

Die wachsende Widerstandsstimmung in der Arbeiterklasse wird allerdings eine radikale Veränderung des politischen, intellektuellen und auch moralischen Klimas im Lande mit sich bringen.

Loading