Gegenaufklärung in den USA: Attacken auf Shakespeare und andere Klassiker

Anfang Oktober geriet Bright Sheng, Komponist und Professor, an der Universität von Michigan in Ann Arbor unter Beschuss, weil er in einem studentischen Seminar Stuart Burges’ Verfilmung von William Shakespeares Othello aus dem Jahr 1965 zeigte, in der der britische Schauspieler Laurence Olivier den „Mohren von Venedig“ in dunklem Make-up spielte. Auch wenn die Befürworter des Vorgehens der Universität davon abgesehen haben, Shakespeare offen anzuprangern, zeigt dies, in welche Richtung rechtsgerichtete soziale Elemente gehen.

Der Vorfall beleuchtet ein umfassenderes Phänomen an den Universitäten, wo in den letzten Jahren verschiedene Studiendisziplinen unter Beschuss geraten sind. Zu diesen zählen die antike griechisch-römische Geschichte, Literatur und Philosophie. Auch unterschiedliche Persönlichkeiten werden angegriffen. Dazu zählen neben Shakespeare auch Geoffrey Chaucer, Robert Burns, Edgar Allan Poe, Charles Dickens, Walt Whitman, Mark Twain, Ernest Hemingway, George Orwell, John Steinbeck, J. D. Salinger, Philip Roth, Giacomo Puccini, Tizian, Paul Gauguin, Pablo Picasso, Egon Schiele, Henri Matisse und viele andere. Sie alle werden der „Versündigung“ gegen die Empfindlichkeiten der oberen Mittelschicht bezichtigt.

Titelblatt, William Shakespeares erste Folio-Ausgabe, 1623

Anfang des Jahres veröffentlichte das School Library Journal einen beschämenden Artikel unter der Überschrift „Lehren oder nicht lehren: Ist Shakespeare für die Schüler von heute noch relevant?“. Darin wird behauptet, dass „Shakespeares Werke voller problematischer, veralteter Ideen sind, mit viel Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, Klassismus, Antisemitismus und Misogynoir [Frauenfeindlichkeit gegenüber schwarzen Frauen]“.

Im Artikel heißt es weiter: „Ist Shakespeare wertvoller oder relevanter als unzählige andere Autoren, die in den letzten 400 Jahren meisterhaft über Angst, Liebe, Geschichte, Komödie und Menschlichkeit geschrieben haben? Eine wachsende Zahl von Pädagogen stellt sich diese Frage in Bezug auf Shakespeare und andere Säulen des Kanons und kommt zu dem Schluss, dass es an der Zeit ist, Shakespeare beiseitezulegen oder in den Hintergrund zu drängen, um Platz für moderne, diverse und integrative Stimmen zu schaffen.“

Das School Library Journal, das offenbar Schulbibliotheken leeren und entrümpeln will, zitiert Ayanna Thompson, Direktorin des Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies und Professorin für Englisch an der Arizona State University. Die Professorin behauptet, Shakespeare sei „ein Werkzeug gewesen, um schwarze und braunhäutige Menschen im britischen Empire zu ‘zivilisieren’. Die ersten Lehrpläne für englische Literatur im imperialen Britisch-Indien wurden als Teil der britischen Kolonisierungsbemühungen erstellt, und Shakespeares Stücke waren ein zentraler Bestandteil dieser neuen Lehrpläne.“

Das ist eine ahistorische Absurdität. Kann Thompson erklären, inwiefern Shakespeare oder irgendein anderer Künstler für die Verwendung oder den Missbrauch seines Werks nach seinem Tod verantwortlich sein soll? Es ist davon auszugehen, dass auch Mathematik, Physik und Biologie in Indien als Teil der „Kolonisierungsbemühungen“ gelehrt wurden. Sollte man deshalb Euklid, Newton und Darwin ebenfalls vom Lehrplan verbannen?

Jedenfalls ist es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt zu der These des Journals, man müsse, wenn Shakespeare „zum Teil aufgrund des Kolonialismus zu einer festen Größe wurde“, darüber nachdenken, „was es bedeuten soll, wenn Leute seine oder andere Werke als ‘universell’ bezeichnen.“

Jeffrey Austin, Fachbereichsleiter für englische Sprache und Kunst an der Skyline High School in Ann Arbor – einer Brutstätte der Identitätspolitik – fügt hinzu: „Wir müssen den Weißheitsgrad dieser Aussage hinterfragen: Die Vorstellung, dass vorherrschende Werte ‘universell’ seien oder sein sollten, ist schädlich.“ Diese Art von Kommentaren, besessen von Fragen der Rassenidentität, die historisch mit der extremen Rechten in Verbindung gesehen werden müssen, gehen derzeit als „linke“ Kritik durch.

Die Website #DisruptTexts, die sich in erster Linie an Highschool-Lehrer richtet, ist eine der bösartigsten Unterstützerinnen der Verdrängung von Shakespeare. Doch sie greift auch andere bedeutende Künstler und Werke an, darunter F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby, Harper Lees Wer die Nachtigall stört und Arthur Millers Hexenjagd. Sie behauptet, ihre Aufgabe sei es, „den traditionellen Kanon in Frage zu stellen, um einen inklusiveren, repräsentativeren und gerechteren Lehrplan für Sprachkunst zu schaffen, den unsere Schüler verdienen.“

F. Scott Fitzgerald, 1921

Wenn die Worte „inklusiv“ und „repräsentativ“ von solchen Leuten verwendet werden, bedeutet das nicht die Ausweitung von Kultur und Bildung auf die Masse der Arbeiterklasse. Im Gegenteil, es ist die Forderung nach einer verstärkten Präsenz von gut bezahlten afroamerikanischen, lateinamerikanischen und anderen „Medienberatern“, „Diversity-Experten“ und dergleichen in den entsprechenden Institutionen.

Was bedeutet „Texte stören“ [disrupt texts]? Auf der Website heißt es defensiv: „Wir glauben nicht an Zensur und haben nie das Verbot von Büchern unterstützt.“ Das ist gelogen. Auf Twitter schreiben ihre Vertreter: „Ermutigen wir Lehrer, rassistische, schädliche Texte zu ersetzen? UNBEDINGT. Kann man einen großartigen Text unterrichten und trotzdem schädlich wirken? Yep.“

Welche „rassistischen, schädlichen Texte“ werden im Jahr 2021 in US-Klassenzimmern unterrichtet? Hitlers Mein Kampf, Die Protokolle der Weisen von Zion? Nein, diese Leute denken an Fitzgerald, Harper Lee, Arthur Miller und Shakespeare, um nur einige zu nennen. Und was bedeutet es, „davon abzurücken, diesen Stimmen weiterhin Raum zu geben“, wenn es nicht um das Entfernen, das heißt Zensieren und Unterdrücken von Texten geht?

Eine der Mitbegründerinnen von #DisruptTexts, Lorena Germán, hat getwittert: „Wusstet ihr, dass viele der ‚Klassiker‘ vor den 50ern geschrieben wurden? Denkt an die US-Gesellschaft vor dieser Zeit & an die Werte, die diese Nation danach geprägt haben. DAS ist in diesen Büchern. Deshalb müssen wir anders rangehen. Es geht nicht nur um ihr ‘Alter’.“

Das ist jemand, der nichts weiß, weder über Geschichte, noch über Literatur oder ein anderes wichtiges Thema. Die Armut und Rückständigkeit der Sprache entspricht der Armut und Rückständigkeit der Vorstellungen. Wenn es nach dieser Person ginge, würden die Werke von Hawthorne, Melville, Poe, Whitman, Twain, Crane, Wharton, Norris, London, Sinclair, Dreiser, Cather, Hemingway, Fitzgerald, Lewis und anderen aus den Lehrplänen gestrichen werden.

Die Tatsache, dass #DisruptTexts für ihren Angriff drei Werke – Der große Gatsby, Hexenjagd und Wer die Nachtigall stört – auswählt, die sich sehr kritisch mit Aspekten der amerikanischen Gesellschaft auseinandersetzen, einschließlich der Hohlheit des amerikanischen Traums, der Widerwärtigkeit der Reichen, des Charakters und der Folgen politischer Hexenjagden und rassistischer Verleumdungen, ist an sich schon aufschlussreich. Das einzige Kriterium, an dem diese Kräfte ein Werk messen, ist das Ausmaß, in dem es ihre rassistischen Anliegen und finanziellen Interessen fördert. Kunst und Wahrheit werden nicht berücksichtigt.

Ein besonders unheilvolles Projekt der Website ist ihre Kampagne gegen Shakespeare. Auf Twitter kündigte Germán im Oktober 2018 an: „#DisruptTexts nimmt Shakespeare aufs Korn. Ihr findet Fragen, Diskussionen und Ressourcen, die euch dabei helfen, den Shakespeare-Unterricht an eurer Schule oder zu Hause kritisch zu stören. Kommentiert und teilt!“

Um es klar und unmissverständlich zu sagen: Leuten, die dazu auffordern, „den Shakespeare-Unterricht zu stören“, sollte mit äußerster Verachtung begegnet werden. Sie sind wenig besser als rechte Hooligans, die einbrechen und Bücher in Brand stecken.

In ihrem „Chat: Disrupting Shakespeare“, der sich an „Fellow Disrupters“ richtet, behauptet die #DisruptTexts-Website, dass „Shakespeare nicht mehr und nicht weniger literarische Verdienste als jeder andere Dramatiker hat. Er ist nicht ‚universeller’ als andere Autoren. Er ist nicht ‚zeitloser’ als jeder andere.“ Seine Stücke, so wird der Leser informiert, „bergen problematische Darstellungen und Charakterisierungen“ und enthalten „Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Rassismus und mehr“.

Als erstes ist es unmöglich, selbsternannte „Pädagogen“ ernst zu nehmen, die in der Öffentlichkeit hohlköpfig behaupten, dass jeder Dramatiker „nicht mehr und nicht weniger literarische Verdienste“ habe, was immer das auch heißen mag. Im Übrigen haben sich die Weltkultur und die Menschheit in den letzten 400 Jahren bereits darüber verständigt, ob Shakespeare mehr Wert habe als „jeder andere Dramatiker.“ Sein Ruf ist sicher. #DisruptTexts blamiert sich durch seine Positionen.

Wir lesen weiter: „Im Großen und Ganzen ist weiterhin eine Übersättigung mit Shakespeare an unseren Schulen zu konstatieren, und es gibt noch viele Lehrer, die ihn weiterhin unnötigerweise als Maßstab für all das, was Sprache sein sollte, aufs Podest heben.“ Die Diskussion gehe, so #DisruptTexts, „um eine tief verwurzelte und verinnerlichte Aufwertung von Shakespeare, in einer Weise, die andere Stimmen ausschließt. Es geht um weiße Vorherrschaft und Kolonisierung.“

Die Website wartet, ähnlich wie die Anonymen Alkoholiker, mit kurzen Berichten von Lehrern auf, die sich von der Shakespeare-Sucht befreit haben. Eine Lehrerin aus Flint (Michigan) beschreibt ihre Entscheidung, Wer die Nachtigall stört und Romeo und Julia mit Elizabeth Acevedos Poet X (2018) zu „stören“. Sie beschreibt dies als „einen guten ersten Schritt für mich, um die Klassiker zu stören, die unseren Lehrplan plagen“, und schließt: „Ich weiß, dass ich in Zukunft besser gerüstet sein werde, um auf die unterdrückerische Struktur hinzuweisen, auf die sich sowohl Lee als auch Shakespeare stützen – das heißt, wenn ich überhaupt zum Unterrichten ihrer Geschichten zurückkehre.“ (Hervorhebung hinzugefügt.)

Was für ein hirnverbrannter Blödsinn! Und wie mutig und ehrenhaft von Germán und Co., eine Kampagne gegen Romeo und Julia zu starten, eine der tragischsten und bedrückendsten Geschichten, die je einem Publikum vorgeführt wurde? Das zum Scheitern verurteilte jugendliche Liebespaar wird wieder einmal verraten, diesmal von rassistisch veranlagten Besserwissern!

Dies ist ein bewusster Versuch, der Jugend den Zugang zu einigen der besten und subtilsten Schöpfungen menschlichen Geistes und Verstandes zu verwehren. Es ist Teil der systematisch betriebenen Abstumpfung und „Verdummung“ der amerikanischen Gesellschaft, die bereits verheerende politische, soziale und neuerdings auch gesundheitliche Folgen hatten.

Dies kommt nicht von der „Linken“, sondern von der Rechten. Die Anprangerung großer Literatur und Kunst, ungeachtet der leeren „antirassistischen“ Demagogie, steht in der Tradition des Dichters, Dramatikers und Nazianhängers Hanns Johst, der für die berüchtigte Zeile verantwortlich ist: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.“ (Aus dem Schauspiel „Schlageter“ von 1933)

In seine „Lehrleitfäden“ hat #DisruptTexts auch Antiracist Baby, ein Werk des rassistischen Fanatikers und Scharlatans Ibram X. Kendi aufgenommen. Penguin Classics, heute eine Tochtergesellschaft des Medienkonglomerats Bertelsmann (das im Jahr 2020 einen Umsatz von 17,3 Milliarden Euro erwirtschaftete), bietet Lehrern und Bibliothekaren diese Lehrleitfäden an, darunter auch Kendis abscheuliches Machwerk, und verkündet auf ihrer Website: „Es ist uns eine Ehre, mit #DisruptTexts zusammenzuarbeiten, damit wir Ihnen diese Ressource zur Verfügung stellen können. Sie wird Ihnen dabei helfen, Gerechtigkeit in Ihr Klassenzimmer oder Ihre Bibliothek zu bringen!“ Ein gigantischer transnationaler Verlag macht gemeinsame Sache mit Bücherverbrennern!

Es geht um große Summen. Der weltweite Markt für „Diversität und Inklusion“ wurde für das Jahr 2020 auf 7,5 Milliarden US-Dollar geschätzt und wird bis zum Jahr 2026 voraussichtlich 15,4 Milliarden US-Dollar erreichen. Jede Aufdeckung dieser Scharlatanerie gefährdet lukrative Karrieren, sechsstellige Gehälter, „Diversity, Equity and Inclusion“-Projekte (DEI), „Standards“ und „Toolkits“ sowie Beratungsfirmen (wie z. B. Germáns eigenes Multicultural Classroom, eine Bildungsberatungsgruppe, die Workshops und Vorträge anbietet, die den „Teilnehmern helfen sollen, die Überschneidung von Rasse, Vorurteilen, Bildung und Gesellschaft zu verstehen“).

„Stören“ oder einfach kritisieren kann man #DisruptTexts nur auf eigene Gefahr! Das musste die Autorin Jessica Cluess, die für junge Erwachsene schreibt, auf die harte Tour erfahren. Ende November 2020 schrieb Cluess eine Reihe von wütenden Tweets als Antwort auf Germáns dummen und bedrohlichen Angriff auf Bücher, die „vor den 50er Jahren geschrieben wurden“.

Jessica Cluess (jessicacluess.com)

Sie schrieb: „Wenn Sie glauben, dass [Nathaniel] Hawthorne in Der scharlachrote Buchstabe auf der Seite der verurteilenden Puritaner stand, dann sind Sie eine absolute Idiotin und sollten den Titel Pädagogin aus Ihrer Biografie streichen.“ Und weiter: „Wenn Sie glauben, dass Upton Sinclair auf der Seite der Fleischverpackungsindustrie stand, dann sind Sie eine Närrin und sollten sich setzen und schämen.“

Cluess verwies auch auf Zora Neale Hurstons „Und ihre Augen schauten Gott und andere Literatur der außergewöhnlichen Harlem Renaissance“ und fuhr fort: „Dieser anti-intellektuelle, neugiertötende Schwachsinn ist Gift, und ich werde hier bleiben und solange schreien, dass dies reinster, gottverdammter Blödsinn ist, bis mir die Haare ausfallen. Das ist mir egal.“ Sie wies auch sarkastisch auf „die Verkörperung brutaler Unterwerfung und giftiger Männlichkeit [Henry David Thoreaus] Walden“ hin und forderte diejenigen, die solch geistlosen Aussagen zustimmen, auf, „mir den Buckel runterzurutschen“.

Für ihre völlig angemessenen und dringend nötigen Kommentare wurde Cluess von Germán wütend als „Rassistin“ angegriffen, die mit „Gewalt“ drohe. Leider gab Cluess dem Druck nach und entschuldigte sich in aller Form. Ihr Literaturagent ließ danach in einem Akt beispielhaften Muts die Autorin als Kundin fallen. Die Vandalen von #DisruptTexts betreiben mit ihren Laptops und Twitter-Konten einen neuen McCarthyismus.

Shakespeare, Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit

Diese Gruppierungen stützen sich auf das im Allgemeinen niedrige Niveau des historischen und kulturellen Wissens. Ihre Behauptungen, Shakespeare repräsentiere „Kolonisierung“ und Autorität im Allgemeinen und sein Werk legitimiere den Status quo, widersprechen eklatant allen historischen Erfahrungen. In Wirklichkeit hat sich Shakespeare oft die Unterdrückten und Geknechteten zugewandt, und diese wandten sich ihrerseits seit mindestens zweihundert Jahren ihm zu.

Und das aus gutem Grund. Die wortgewaltigen Anklagen des Dramatikers gegen Ungerechtigkeit und Grausamkeit sowie sein Thema der persönlichen Emanzipation inspirieren Publikum und Leser noch immer. Man könnte sagen, dass der moderne Widerstand gegen Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Rassismus mit Shakespeare beginnt.

Die Rede des jüdischen Geldverleihers Shylock in Der Kaufmann von Venedig ist nach wie vor eines der schönsten und wütendsten Manifeste für Gleichberechtigung in der Literaturgeschichte: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“ [Schlegel-Übersetzung]

Maggie Smith (Desdemona) und Joyce Redman (Emilia) in Othello (1965)

Für Shakespeares feministische Kritiker, die offenbar weder lesen noch denken können, sei angemerkt, dass Othello einen Appell an Frauen und Ehefrauen enthält, der dem Shylocks ähnelt (einschließlich der Warnung vor Rache). Emilia, Jagos Gattin, wird in den letzten Momenten des Stücks zu einer heroischen Figur. Sie weigert sich, von ihrem Mann zum Schweigen gebracht zu werden – auch wenn es sie das Leben kostet – und deckt sein ruchloses Komplott gegen Othello und Desdemona auf. Sie spricht sich schon früher gegen Männer aus, die „zuschlagen“, ihre Gattinnen finanziell „knapphalten“ oder sich ihnen als untreu erweisen:

Sie sollen’s wissen,
Wir haben Sinne auch: wir sehn und riechen,
Und haben einen Gaum für süß und herbe,
Wie unsre Männer. Was bezwecken sie,
Wenn sie uns andre vorziehn? Ist es Lust?
Ich denke, ja; treibt sie die Leidenschaft?
Ich denke, ja; ist’s Schwachheit, die sie tört?
Gewiß; und haben wir nicht Leidenschaft?
Nicht Hang zur Lust? Und Schwachheit gleich den Männern?
Drum, wenn der Mann sich treulos von uns kehrte,
War’s seine Bosheit, die uns Böses lehrte.
[Schlegel-Übersetzung]

Obwohl aus sozialen und historischen Gründen auch hier die männlichen Charaktere in seinen Stücken dominieren, so hat Shakespeare neben Desdemona und Emilia doch eine große und vielfältige Auswahl an Frauenfiguren geschaffen, von denen keineswegs alle lobens- und bewundernswert sind: Kleopatra (Antonius und Kleopatra), Rosalind (Wie es euch gefällt), Beatrice (Viel Lärm um nichts), Cordelia und Goneril (König Lear), Gertrude und Ophelia (Hamlet), Isabella (Maß für Maß), Miranda (Der Sturm), Olivia und Viola (Was ihr wollt), Portia (Der Kaufmann von Venedig), Titania (Ein Sommernachtstraum), Cressida (Troilus und Cressida) und natürlich Lady Macbeth, um nur einige zu nennen.

#DisruptTexts versucht, die Kritikfähigkeit der öffentlichen Meinung zu betäuben. Sie behaupten, die Bewunderung für Shakespeare durch Afroamerikaner stelle die „Verinnerlichung“ der „weißen“ Unterdrückung und des Kolonialismus dar. Sie entstellen die geschichtlichen Tatsachen, oder vielmehr, umgehen sie vollständig, weil diese gegen sie sprechen. Tatsächlich fühlten sich die rebellischsten und weitsichtigsten Afroamerikaner zu Shakespeares Werk hingezogen.

Während Shakespeare, wie Literaturkritiker bemerken, dem jüdischen Geldverleiher eine großartige Rede gewidmet hat, schrieb er sogar eine ganze Tragödie, in deren Mittelpunkt der nordafrikanische General Othello steht. Eine bemerkenswerte Studie erschien im Jahr 1965, Othello’s Countrymen -- The African in English Renaissance Drama [Othellos Landsleute – Der Afrikaner im englischen Renaissance-Drama], aus der Feder des aus Sierra Leone stammenden Wissenschaftlers und Literaturkritikers Eldred Durosimi Jones.

Er argumentiert darin, dass Shakespeare den Hintergrund sowohl der englischen Bühnentradition als auch der wachsenden Erfahrung der Bevölkerung mit Afrikanern, Arabern und Schwarzen auf den Straßen Londons in den frühen 1600er Jahren „sehr sensibel nutzte. Er griff das Potenzial für Suggestion auf, distanzierte sich aber gleichzeitig von den Stereotypen, so dass Othello am Ende nicht als eine weitere Manifestation eines Typs erscheint, sondern als ein eigenständiges Individuum, das durch seinen Fall nicht die Schwächen der Mauren, sondern die Schwächen der menschlichen Natur verkörpert.“ Shakespeare, so fügte Jones später hinzu, sei in der Lage gewesen, „den Mohren mit all seinen [zuvor] ungünstigen Assoziationen in den Helden einer seiner bewegendsten Tragödien zu verwandeln“.

„Das menschliche Wort ist“, wie Trotzki einmal bemerkte, „das transportabelste aller Materialien“. (Literatur und Revolution, IV. Der Futurismus) Ehemalige Sklaven in der Epoche des Bürgerkriegs, verarmte und unterdrückte Juden in den abgelegensten Provinzen des zaristischen Russlands, Chartisten im viktorianischen England, Arbeiter in Ausbeuterbetrieben in New York City an der Wende zum 20. Jahrhundert: Sie alle konnten sich Shakespeare und seine titanischen Dramen und Themen zu eigen machen – und taten es auch.

Verfassung der Vereinigten Staaten (September 1787), in der Zeitschrift „American Museum“

Othello und Shylock spielen eine wichtige Rolle bei der Begegnung von Afroamerikanern mit Shakespeare. Heather S. Nathans von der Tufts University beginnt ihren Aufsatz „‘A course of learning and ingenious studies’: Shakespearean Education and Theater in Antebellum America“ [‚Ein Lehrgang und geniale Studien’: Shakespeare’sche Bildung und Shakespeare’sches Theater im Nachkriegsamerika] mit dieser bemerkenswerten Passage:

Im Jahr 1788 veröffentlichte Matthew Careys populäre Zeitschrift aus Philadelphia, American Museum [das erste Magazin, das im September 1787 die Verfassung in Druck gab], den Brief eines schwarzen Autors, der sich selbst „Othello“ nannte und die weißen Bürger der Nation aufforderte, das Versprechen der Revolution zu erfüllen und die Sklaverei abzuschaffen. Indem er sich die Würde und Autorität von Shakespeares Kriegsherrn zu eigen machte, warnte der Autor, dass die weißen Amerikaner, wenn sie sich weiterhin über die Naturgesetze hinwegsetzten, indem sie Sklaven hielten, die göttliche Gerechtigkeit eines Schöpfers herbeirufen würden, „dessen Rache vielleicht schon auf Flügeln ist, um die Pfeile der Zerstörung auszustreuen und zu werfen“. Im folgenden Jahr druckte das American Museum einen weiteren Brief eines anonymen Verfassers zum Thema Sklaverei, der sich ebenfalls der Rhetorik Shakespeares bediente, um seine Argumente zu untermauern. Er beschrieb sich selbst als ehemaligen Sklaven und paraphrasierte Shakespeares Kaufmann von Venedig, indem er um Gerechtigkeit für die schwarzen Bürger der Nation flehte: „Hat nicht ein Neger Augen? Hat nicht ein Neger Hände, Organe, Maße, Sinne, Neigungen, Leidenschaften?“

Dies bedarf kaum eines Kommentars. Othello und Shylocks berühmte Rede werden im Ringen um die Einhaltung des Versprechens der Unabhängigkeitserklärung und die Abschaffung der Sklaverei in der amerikanischen Gesellschaft zitiert. Dieser Kampf sollte sich 73 Jahre später im Bürgerkrieg zu einem umfassenden Konflikt ausweiten.

Nathans schreibt weiter: „Wie, warum oder wo Afroamerikaner damals in der frühen amerikanischen Kultur auf Shakespeare trafen, ist nicht immer klar.“ Nachdem sie auf die mögliche Rolle von freien Schulen und Theatern hingewiesen hat, verweist sie auch auf die mehr als 50 „afroamerikanischen Literaturclubs“, die in verschiedenen Städten des Nordens und Ostens entstanden. Nathans fährt fort: „In den 1850er Jahren war die Kenntnis von Shakespeare zu einem wichtigen Bestandteil der schwarzen Bildungserfahrung in Amerika geworden – sei es im Theater, im Klassenzimmer oder in der Privatsphäre eines ausgewählten Leseclubs.“

Ira Aldridge als Othello, von William Mulready, Walters Art Museum

Die African Company, die erste bekannte schwarze Theatertruppe, eröffnete 1821 im African Grove Theater in New York und war mehrere Spielzeiten lang tätig. Ihre erste Produktion war Shakespeares Richard III., kurz darauf folgte Othello. Laut Anthony Duane Hill von der Ohio State University waren die Hauptdarsteller James Hewlett (1778-1836), der erste afroamerikanische Shakespeare-Darsteller, und Ira Aldridge (1807-1865), ein junger Teenager. Kurz nach der Schließung des Theaters im Jahr 1823 segelte Aldridge, „inzwischen einer der führenden Darsteller der Truppe, nach London, wo er sein Handwerk als angesehener Künstler ausüben konnte. Aldridge erreichte als Bühnenschauspieler mehr als 42 Jahre lang in den Hauptstädten Europas international höchste Anerkennung.“

Aldridge konnte sich auch mit der Figur des Shylock identifizieren. Im Jahr 1858 in St. Petersburg kommentierte ein russischer Rezensent scharfsinnig die Aufführung mit dem Schauspieler in dieser Rolle: „Shylock sieht er [Aldridge] nicht speziell als Juden, sondern als einen Menschen im Allgemeinen, der von dem uralten Hass gegen Leute wie ihn unterdrückt wird. Er drückt dieses Gefühl mit wunderbarer Kraft und Wahrheit aus. … Schon sein Schweigen spricht.“

Shakespeare, Frederick Douglass, Richard Wright und mehr

Die größte afroamerikanische Persönlichkeit in der Epoche der Sklavenbefreiung und des Bürgerkriegs, der ehemalige Sklave Frederick Douglass, liebte Shakespeare und die Literatur im Allgemeinen (er übernahm seinen „Namen der Freiheit“ Douglass von Walter Scott). Als er 1892 nach seinen Lieblingsautoren gefragt wurde, setzte Douglass Shakespeare an die erste Stelle.

Othello wirbt um Desdemona, West Parlor, Cedar Hill, Frederick Douglass National Historic Site

In seinem Buch „Frederick Douglass, A Shakespearean in Washington“ stellt der Autor John Muller fest, dass Zehntausende von Menschen jedes Jahr die National Historic Site in Cedar Hill besuchen, „Douglass’ Haus in Anacostia [D.C.], wo in den Bibliotheksregalen Bände von Shakespeares Gesamtwerk stehen und im westlichen Salon ein gerahmter Druck von Othello und Desdemona über dem Kaminsims hängt“.

Muller fährt fort: „Douglass spielte in seinen Reden häufig auf Shakespeare an und war dafür bekannt, dass er Shakespeare-Aufführungen in lokalen Theatern in Washington besuchte. Bei mindestens zwei Gelegenheiten trat Douglass als Schauspieler in einer kommunalen Theatergruppe, den Uniontown Shakespeare Club, auf.“ In dieser Episode voller sozialer und kultureller Vielfalt spielte Douglass bei einer dieser Gelegenheiten die Rolle des Shylock. (Douglass und seine zweite Frau gehörten zu den ersten Amerikanern, die im Mai 1887 in Rom eine Aufführung von Giuseppe Verdis Oper Otello besuchten).

Frederick Douglass nach 1884 mit seiner zweiten Frau Helen Pitts Douglass (sitzend). Die stehende Frau ist ihre Schwester Eva Pitts

Der Einfluss von Shakespeare auf die größten afroamerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts, einschließlich der Mitglieder der Harlem Renaissance [eine soziale, kulturelle und künstlerische Bewegung afroamerikanischer Schriftsteller und Maler in der Zeit zwischen 1920 und 1930] kann kaum überraschen – sein Werk enthält ungeheure Dramatik, Qualen und Bedrängnis auf höchstem Niveau. Langston Hughes betitelte einen Gedichtband Shakespeare in Harlem, und Zora Neale Hurstons spätere Romane zeigen, wie ein Kritiker anmerkt, dass sie „Bilder und Probleme aus Shakespeares König Lear und Der Widerspenstigen Zähmung“ neu interpretiert.

Das zentrale Bild in Richard Wrights Native Son (Sohn dieses Landes), bei dem eine weiße Frau aus Versehen durch einen schwarzen Mann erstickt wird, erinnert bewusst an Othello. In seinem Tagebuch notierte Wright einmal: „Bei Gott, wie Shakespeare einen heimsucht! Wie viel von unserer Sprache stammt von ihm.... Man ist ehrfürchtig.“ 1959 erörterte die Bühnenautorin Lorraine Hansberry (A Raisin in the Sun), wie ein zeitgenössischer Dramatiker „die augenfälligsten Mittel und Instrumente von Shakespeare“ verwendet. „Da geht es um die menschliche Persönlichkeit und ihre Totalität. Ich habe immer gedacht, dass dies für schwarze Autoren von großer Bedeutung ist. ... Der Mensch, wie er in den Stücken dargestellt wird, ist großartig. Ungeheuerlich. Zu allem fähig. Und doch auch zerbrechlich, diese Sicht des menschlichen Geistes; man hat das Gefühl, dass er respektiert, geschützt und ziemlich heftig geliebt werden sollte.“

Lorraine Hansberry

Als Ralph Ellison sein Werk Invisible Man [Der unsichtbare Mann] schrieb, hatte er ständig „zwei Bücher ... auf seinem Schreibtisch. Das eine war das Wörterbuch, das andere das Gesamtwerk von William Shakespeare.“ Der Romanautor James Baldwin bemerkte 1964, dass Shakespeare, der „größte Dichter der englischen Sprache, seine Poesie dort fand, wo man Poesie findet: im Leben der Menschen. Er konnte dies nur aufgrund seiner Liebe zum Menschen tun, weil er wusste, was nicht dasselbe wie Verstehen ist, dass alles, was ihnen passiert, auch ihm passieren könnte.“ Wir könnten die Aufzählung fortsetzen.

Trotzki sprach vom „kulturellen Durst der Massen“. Shakespeare war für Generationen von fortschrittlichen britischen Arbeitern, die nach Kultur und Wissen strebten, eine wichtige Figur. Der Historiker Martyn Lyons, der „die Fülle von Arbeiterautobiografien ... im neunzehnten Jahrhundert“ erklärt, bemerkt, dass die „eifrige Suche nach Buchwissen für die geistige Emanzipation, auf die sich politisches Handeln gründet, von entscheidender Bedeutung“ sei.

In seinem Werk The Genius of Shakespeare schreibt der Anglist Jonathan Bate von zwei Traditionen, dem „Shakespeare des Establishments“ und dem „Shakespeare des Volkes“. Zur Untermauerung seiner These, dass der Dramatiker „überlebt hat und als Stimme der radikalen Kultur zur Geltung gebracht wurde“, verweist Bate auf Thomas Cooper (geboren 1805), der in der Stadt Leicester zu einem Führer der Chartisten wurde, der revolutionären Bewegung der britischen Arbeiterklasse.

Cooper und seine Mitstreiter nannten sich „The Shakespearean Association of Leicester Chartists“. Laut Bate hielt Cooper „Vorträge über zeitgenössische Politik, aber auch über Shakespeare: Damit wollte er dieses Erbe für das Volk zurückgewinnen. Als Cooper wegen Anstiftung zum Aufruhr und einer falschen Anklage wegen Brandstiftung verhaftet wurde, sammelte er Geld für die Gerichtskosten für sich und seine Mitangeklagten, indem er eine Aufführung von Hamlet veranstaltete.“

Thomas Cooper

Auch amerikanische Arbeiter versuchten im 19. Jahrhundert und darüber hinaus, sich durch Shakespeare, Scott, Dickens und andere Klassiker zu bilden und aufzuklären. Zum Beispiel schreibt Rochelle Smith von der Frostburg State University in Maryland – einem der ärmsten Bezirke in den Appalachen – in ihrem Werk Poverty and Privilege: Shakespeare in the Mountains (Armut und Privileg: Shakespeare in den Bergen), dass in den Jahren „vor dem Bürgerkrieg einige der Bergleute in Frostburg sicherlich Shakespeare lasen. Einer von ihnen, Andrew Roy, erinnert sich: ‚Wir trafen uns nach der Arbeit im Bergwerk und lasen uns gegenseitig vor‘.“

Shakespeare war zu dieser Zeit in den USA sehr beliebt. Lawrence W. Levine behauptet in William Shakespeare and the American People kategorisch, dass „Shakespeare im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts eine beliebte Unterhaltung war“. Levine zitiert die Bemerkung eines US-Konsuls in England, der kurz nach dem Bürgerkrieg „mit einiger Überraschung bemerkte: ‚Shakespeare-Dramen werden in Amerika häufiger gespielt und sind beliebter als in England.‘“

Natürlich gab es auch „angesehene“ afroamerikanische Kritiker, wie einen gewissen Dr. Humphrey, der 1839 im New York Observer kommentierte, er bedauere, dass „die meisten seiner [Shakespeares] Stücke jemals geschrieben wurden“. Shakespeare sei „nicht geeignet für die Familienlektüre. Welcher christliche Vater oder welche tugendhafte Mutter würde ihm, wenn er noch lebte, erlauben, in einem blühenden Kreis von Söhnen und Töchtern aufzutreten und solche Stücke zu schreiben, so wie sie in den besten Ausgaben gedruckt sind?»

Für pragmatische Geister ist das Argument von #DisruptTexts, Bücher müssten „relevanter“ und für Schüler zugänglicher sein und von Menschen handeln, „die wie sie aussehen und klingen“, unwiderstehlich. Allerdings ist es sehr oberflächlich. Warum sollte man dann nicht die Lehrpläne für die englische Sprache auf Fernsehwerbung und das Magazin People beschränken? Das unmittelbar Relevante und Zugängliche ist oft gar nicht aufschlussreich oder wertvoll. Schüler sind in der Lage, sich mit komplexen Texten zu befassen, wenn sie motiviert sind und wissen, dass bei der geistigen Anstrengung etwas Wichtiges herauskommen wird.

Das übelste Argument gegen Shakespeare ist die Behauptung, er biete keine besonderen Einsichten und sei ein Dramatiker wie jeder andere – oder wie es Germán ausdrückt: „Ich möchte etwas anbieten, was man ANSTELLE von Shakespeare lesen sollte. Glauben Sie mir, Ihre Kinder werden gut zurechtkommen, wenn sie ihn nicht lesen.“

Tatsächlich werden junge Menschen nicht „gut zurechtkommen“, wenn es den rassistischen Zensoren in Verbindung mit dem allgemeinen Verfall und der Auflösung des öffentlichen Bildungssystems gelingt, ihnen Shakespeare und andere literarische Klassiker vorzuenthalten.

Es ist nicht wahr, wenn das School Library Journal behauptet: „Wenn der Sinn des Sprachunterrichts darin besteht, Literatur durch kritische Analyse zu erforschen, Schriftsteller heranzubilden, Fähigkeiten, Lesekompetenz und sinnstiftendes Engagement zu verbessern und lebenslange Leser zu bilden, könnten die Schüler dies mit jedem Text erreichen.“ Jedem Text, wohlgemerkt!

Es ist nicht wahr, dass „man mit Shakespeare nichts gewinnen kann, was man nicht auch durch die Beschäftigung mit den Werken anderer Autoren gewinnen könnte“, wie Austin von Ann Arbor behauptet.

Das Banausentum und die Leichtfertigkeit dieser verschiedenen Kommentatoren sind kaum zu glauben. „Warum verkaufen wir nicht diesen Michelangelo oder diesen Leonardo, die ziehen doch nur Staub (und Massen) an – es muss doch etwas in der Abstellkammer geben, das genauso gut ist?“ Und das sind Leute, die für die Erziehung junger Menschen verantwortlich sind.

Es gibt Kunstwerke, die in hohem Maße bedeutsam sind, Werke, die reicher und anspruchsvoller sind und uns mehr abverlangen als andere. Eben deshalb haben sie überlebt und appellieren weiterhin an unser Verständnis und Mitgefühl. Es sind Werke, die uns immer noch bewegen, aufklären und, ja, auch besser machen. Shakespeare wird heute nicht deshalb gelesen und aufgeführt, weil irgendeine Verschwörung „Männlichkeit“ und „weiße Hautfarbe“ in den Mittelpunkt rückt, sondern wegen seiner einzigartigen dramatischen und poetischen Begabung, seines schonungslosen Realismus und seiner tiefen Einsicht in menschliche Beziehungen.

Natürlich ist kein Künstler „zeitlos“ oder „universell“ in einem absoluten Sinne. Jeder Schriftsteller, Maler oder Komponist wird durch bestimmte soziale, historische, nationale, geografische und individualpsychologische Bedingungen hervorgebracht und geprägt. Eine bedeutende Persönlichkeit arbeitet im Rahmen dieser besonderen Umstände und durch sie, um dauerhafte, objektiv bedeutsame Kunst zu schaffen. Der wahrhaft „unsterbliche“ Künstler verleiht Gefühlen und Stimmungen „einen so breiten, intensiven und kraftvollen Ausdruck“ (Trotzki), dass er sie „über die Grenzen“ des Lebens einer bestimmten Epoche erhebt. Die Klassengesellschaft weist trotz großer Veränderungen bestimmte gemeinsame Merkmale auf. So können Theaterstücke, die im London des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts geschrieben wurden, heute auch uns berühren.

Shakespeare lebte in der Zeit des Übergangs vom untergehenden Feudalsystem zum Kapitalismus. Er schrieb seine Gedichte und Theaterstücke zu einer Zeit, in der alte und neue gesellschaftliche Kräfte nebeneinander existierten, ja sogar eine Zeit lang unter Königin Elisabeth I. miteinander verschmolzen – ein instabiler, letztlich unhaltbarer Zustand, der ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod in der Explosion der englischen Revolution sein Ende finden sollte. Es war eine „Zeit, die alle alten Bande der Gesellschaft auflockerte und alle ererbten Vorstellungen ins Wanken brachte. Die Welt war mit einem Schlage fast zehnmal größer geworden.“ (Friedrich Engels, MEW Bd. 21, S. 6)

Eine glückliche Kombination von objektiven Umständen und Shakespeares eigener genialer Intuition erlaubte es ihm, sowohl rückwärts als auch vorwärts in der Zeit zu blicken, sowohl aufwärts als auch abwärts im sozialen Raum, vielleicht mehr als jede andere literarische Persönlichkeit in der Geschichte.

Sein Werk ist nicht magisch oder „göttlich“, aber es ist brillant, höchst ungewöhnlich und verdient, geschätzt zu werden. Er nahm den Stand, den das öffentliche und private Verhalten in den wirtschaftlich und politisch fortschrittlichsten Gesellschaften erreicht hatte, auf poetisch-enzyklopädische Weise wahr und vermittelte ihn anderen Zeitgenossen. Darüber hinaus war Shakespeare in der Lage, künftige Veränderungen zu erahnen (daher seine Fähigkeit, in Othello beispielsweise die Folgen sozialer Ressentiments und die giftigen Wirkungen von Rassenhass zu behandeln). Er konnte sich gedanklich in die Lage der sozial Ausgegrenzten oder Misshandelten, der Frauen, der Juden, der Schwarzen hineinversetzen und ihre Reaktion auf Unterdrückung und Ungerechtigkeit eindringlich und logisch darstellen. Wie ein schottischer Schriftsteller später einer seiner Figuren in den Mund legte: „Shakespeare, Sir, gehörte nicht zu jenen, die ein besonders schwerer Fall zurückschrecken ließ.“

Der Beginn der Renaissance bedeutete, wie Engels schrieb: „Und wie die alten engen Heimatsschranken, so fielen auch die tausendjährigen Schranken der mittelalterlichen vorgeschriebnen Denkweise. Dem äußern wie dem innern Auge des Menschen öffnete sich ein unendlich weiterer Horizont.“ (MEW 21, ebd.) Ein ungeheurer Schatz menschlicher Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen, die jahrhundertelang durch Institutionen und religiöse Dogmen aufgestaut worden waren, konnten ihren Ausdruck finden, nicht nur in den Stücken Shakespeares – natürlich gab es Dutzende begabter Dramatiker in England –, aber in ihnen am kraftvollsten und konzentriertesten.

#DisruptTexts und ihre Mitdenker sind engagierte Feinde der Aufklärung und Bildung. Schüler, Lehrer und ernsthafte Akademiker sollten ihnen mit Spott begegnen, sie herausfordern und ihre Ignoranz entlarven.

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