„Durchseuchung aus kapitalistischen Motiven“

Streikende Schüler in Österreich rechnen mit Profite-vor-Leben-Politik der Regierung ab

Am Mittwoch fanden in ganz Österreich erneut Schulstreiks und Proteste mit tausenden Schülerinnen und Schülern statt. Allein in Wien nahmen mehr als 300 Jugendliche an Kundgebungen und einem Protestmarsch teil, der vom Stephansplatz über den Kohlmarkt bis vor das Bildungsministerium zog, wo Sicherheitskräfte das Gebäude abschirmten. In Salzburg, Innsbruck, Klagenfurt, Linz und Bregenz beteiligten sich ebenfalls jeweils hunderte Schüler an Schulstreiks und Protesten, zu denen Schülersprecher, politische Jugendorganisationen und die SPÖ-nahe „Aktion kritischer Schüler_innen“ (AKS) aufgerufen hatten.

Streikende Schüler am Stephansplatz in Wien, 26.01.2021

Wie in den USA, Frankreich, Griechenland und anderen Ländern setzen sich die Schülerinnen und Schüler gegen die Politik einer kapitalistischen Regierung zur Wehr, die Profite vor Leben stellt und das Leben und die Gesundheit von hunderttausenden Menschen der Wirtschaft opfert. Die Bundesregierung aus ÖVP und Grünen bekennt sich offen dazu, die Jugend in den Schulen mit der Omikron-Variante des Coronavirus zu durchseuchen und verlangt von den Jugendlichen reguläre Abschlussprüfungen, obwohl unter Bedingungen der Covid-19-Pandemie seit zwei Jahren kein normaler Schulunterricht möglich gewesen ist.

Neben „Leistungsdruck senken – psychische Gesundheit stärken!“ und „Eineinhalb Jahre Homeschooling – Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ trugen Schüler auch selbstgemachte Plakate mit der Aufschrift „30.000 Fälle und offene Schulen?“, sowie „Deine Matura zerstört meine Gesundheit!“. Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) ignoriert die Forderungen der Jugendlichen seit Wochen und verlangt stattdessen, dass auch Schüler an den Matura-Prüfungen teilnehmen sollen, die aufgrund seiner Politik stationär mit Covid-19 hospitalisiert sind.

Bereits vor zwei Wochen hatten tausende Schüler an dutzenden Schulen den völlig ungesicherten Präsenzunterricht bestreikt. Ein offener Brief vom 13. Januar, den rund 300 Schülersprecher unterzeichnet haben, stellt fest, dass „zahlreiche Kinder und Jugendliche auf Intensivstationen“ eingeliefert wurden und „Zehntausende in den nächsten Monaten Long Covid mit nicht vorhersehbaren Folgen entwickeln“ werden. Der „nächste Schritt“ der Regierung, so die Schülersprecher, sei die „geplante Durchseuchung, also die mutwillige Ansteckung von Kindern und Jugendlichen“.

Streikende Schüler am Stephansplatz in Wien, 26.01.2021

Die Proteste sind von einem offensichtlichen Widerspruch geprägt. Während es unter den Schülern eine enorme Wut über die Profite-vor-Leben-Politik in der Pandemie gibt – die von allen bürgerlichen Parteien und den offiziellen Gewerkschaften unterstützt wird – versuchen Organisationen wie die AKS, eine breite Mobilisierung zu verhindern.

Die Vorfeldorganisation der SPÖ strebt danach, die Schulstreiks auf die Forderung nach einer „freiwilligen mündlichen Matura“ zu beschränken und fruchtlose Appelle an dieselben Herrschenden zu richten, die seit zwei Jahren buchstäblich über Leichen gehen. Seit sich im Februar 2020 im Urlaubsort Ischgl 6.000 Menschen aus 45 Ländern mit dem Coronavirus infiziert haben, sind unter den Augen der Parlamentsparteien offiziell mehr als 14.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Human Mortality Database schätzt, dass in Österreich weit mehr als 15.100 Menschen einer vermeidbaren Coronavirus-Infektion zum Opfer gefallen sind.

Die AKS und andere pseudolinke Gruppierungen in ihrem Umfeld versuchen gezielt, die wachsende Opposition gegen die anhaltende und geplante Durchseuchung ins Leere laufen zu lassen, da sie sich gegen ihre eigene Politik richtet. Die SPÖ stellt in Kärnten, dem Burgenland und Wien die Regierung und durchseucht dort in Zusammenarbeit mit der ÖVP und der Business-Partei NEOS nicht weniger aggressiv als die Bundesregierung. In Kärnten lag die Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt bei 2.139, im Burgenland bei 1.958 und in Wien bei 2.841.

Dagegen wächst der Widerstand. Gegenüber der World Socialist Web Site brachten Schülerinnen und Schüler, die an den Demonstrationen in Wien und anderen Städten teilnahmen, den Kampf für sichere und gerechte Bildung mit dem Kampf gegen die Durchseuchung und die kapitalistische Politik aller etablierten Parteien zusammen.

David (18) besucht die Abschlussklasse eines Oberstufenrealgymnasium in Wien und schreibt in diesem Frühjahr seine Matura. Er sagt:

„Mir als Schüler und Maturant geht es mit der derzeitigen Situation nicht gut. Die sogenannten ‚Erleichterungen‘, die vom Bildungsministerium für die diesjährige Matura vorgelegt wurden, sind ein Witz. Sie genügen überhaupt nicht, um eine faire Matura zu gewährleisten. Der Jahrgang, der dieses Jahr maturiert, ist derjenige, der am längsten im Distance Learning verbringen musste. Da ist viel Stoff verloren gegangen, den wir nicht mehr nachholen können. Deshalb muss den Schülerinnen und Schülern jetzt entgegengekommen und der Leistungsdruck vermindert werden. Eine freiwillige mündliche Matura und eine freiwillige Vorwissenschaftliche Arbeit oder Präsentation der Diplomarbeit halte ich deshalb für absolut notwendig.“

Im Gegensatz zu Politikern, die der Meinung seien, „dass man um eine Durchseuchung nicht herumkommt“, fordert David „das Erhöhen der Sicherheitsstandards im Klassenzimmer durch mehr PCR-Testungen, Luftfilter und andere Maßnahmen.“ Er setzt hinzu: „Ich bin unglaublich wütend, dass auf die große Masse der Schülerinnen und Schüler nicht gehört wird, sondern über unsere Köpfe hinweg Politik gemacht wird, die uns betrifft. Ich bin kein Befürworter der Durchseuchung an Schulen.“

Livia, ebenfalls Schülerin einer Abschlussklasse in Wien, beschreibt die katastrophalen Bedingungen an den Schulen und plädiert für einen umfassenden Lockdown:

„Während des ersten Lockdowns konnten unsere Lehrkräfte in den meisten Fächern keine wirklich produktiven Online-Unterrichtsstunden halten, da wir weder richtig ausgestattet waren noch das notwendige technologische Wissen vorhanden war. Dabei ist leider sehr viel Lernstoff und Wissen verloren gegangen. Nun besteht aufgrund der langen Corona-bedingten Schulpause wieder ein enorm hoher Leistungsdruck. Aus meinem Freundeskreis leiden zurzeit sehr viele an psychischen Problemen, die aber nicht wirklich wahrgenommen werden.

Wir Schülerinnen und Schüler mussten aufgrund der Pandemie unsere Entwicklung und unser Leben extrem einschränken. Meinem Jahrgang fehlen Erfahrungen, die andere Schüler schon erleben konnten: Sprachreisen, Exkursionen, Maturantenverabschiedungen, Schulbälle…

Die letztjährige Matura war freiwillig, um soziale Kontakte und Ansteckung zu vermeiden. Dieses Jahr geht die Regierung davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler erkranken werden, und trotzdem findet eine mündliche Matura statt? Aufgrund von Corona und der Durchseuchung ist es dieses Jahr leider sehr wahrscheinlich, dass der Haupttermin nicht wahrgenommen werden kann. Das verursacht weiteren Stress und psychisches Unwohlsein.“

Eigentlich müssten „die Menschen überall zuhause bleiben“, so Livia:

„Ich finde internationale und einheitliche Lockdowns besser als immer unterschiedliche Zeiträume für Lockdowns – einerseits, weil es einheitlicher und leichter zu merken ist und andererseits, weil dann die Chance größer ist, die Zahlen zu minimieren. Das wird aber nicht getan – zum einen, weil die Regierung die Durchseuchung befürwortet, und zum anderen, weil es für sie offenbar zu ‚anstrengend‘ oder ‚kompliziert‘ ist, einheitliche Lockdowns zu planen und durchzuführen. Ich denke, dass vor allem kapitalistische Motive ein Grund für die Durchseuchung sind.“

Celina (19) besucht die 5. Klasse einer BHS in Linz. Sie verweist darauf, dass die psychologischen und sozialen Folgen der Lockdown- und Durchseuchungspolitik für Jugendliche das Ergebnis der empathielosen und rücksichtslosen Politik der Regierung ist:

„Ich glaube, ich spreche für viele, wenn ich sage, dass das alles auch eine riesige psychische Belastung war, weil soziale Kontakte nicht mehr wirklich geknüpft werden konnten. Man ist sehr vereinsamt. Das sieht man jetzt leider auch in Studien, die zeigen, dass die psychische Gesundheit von Jugendlichen drastisch abgenommen hat. Laut der Politik ist jetzt ‚alles wieder halbwegs normal‘ an den Schulen – aber das ist ein wahnsinniger Bullshit. Es ist gar nichts normal.

Jeder erwartet von uns, dass wir alles geben und funktionieren, als wäre nie etwas gewesen. Aber das ist meiner Meinung nach einfach unmöglich. Es ist ein schlechter Witz, dass sie die mündliche Matura wieder verpflichtend machen wollen. Unser Jahrgang war von allen am längsten im Distanzlernen und ist auch am längsten von Corona betroffen. Ich verstehe nicht, was Polaschek daran nicht ‚versteht‘ und wie man so ignorant, rücksichtslos und empathielos sein kann.

Besonders in den Schulen finde ich es wahnsinnig unverantwortlich, auf Durchseuchung zu setzen. Es kommen so viele Menschen zusammen und ich begreife nicht, wie man es verantworten kann, dass sich dort so viele Leute anstecken. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Schüler, die dann in Quarantäne sind, vielleicht Prüfungen und Schularbeiten verpassen und das alles dann irgendwie schnellstmöglich nachholen müssen. Die Familien sind genauso betroffen: Es gibt in vielen Familien Risikopatienten, die es sich nicht erlauben dürfen, sich mit Corona anzustecken.“

Sowohl die Politik der Regierung als auch das Schulsystem in seiner jetzigen Form dienen den Profitinteressen der Wirtschaft, erklärt Celina:

„Schule sollte meiner Meinung nach nicht mit Wirtschaft in Verbindung gebracht werden. Die Schule soll ein Ort zum Lernen und Weiterbilden sein. Von den Abschlussprüfungen ganz abgesehen – das System dahinter ist so wahnsinnig veraltet und sollte generell hinterfragt werden. Die Schule wäre der beste Ort, wenn Schülerinnen und Schüler dort ihre individuellen Interessen und Fähigkeiten erweitern könnten. Aber das ist nicht der Fall.

Das Schulsystem ist nur dafür da, dass danach die Wirtschaft und die Unternehmen von uns profitieren. Es ist ziemlich egal, welche eigentlichen Interessen und Fähigkeiten eine junge Person hat. Auf die wird nämlich auf gut deutsch geschissen. Das sieht man bei der Matura: Alle lernen das gleiche und alle sollen das gleiche können. Ich muss teilweise fünf Jahre Unterrichtsstoff wieder lernen, um ihn in zehn Minuten bei der mündlichen oder in fünf Stunden bei der schriftlichen Matura wieder auszuspucken. Da gibt es nichts, das individuell ist oder an den Fähigkeiten und Interessen der Schülerinnen und Schüler orientiert ist.“

Nessie, die am Wiener Gymnasium am Augarten die 12. Schulstufe besucht, berichtet:

„Es gibt natürlich zahllose Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten beim Fernunterricht haben – sei es die schlechte Internetverbindung, die fehlende technische Ausstattung oder die ungünstige Familiensituation. Viele haben auch komplett die Motivation verloren und sogar die Schule abgebrochen. Man hat gesehen, wie Lehrer darüber verzweifeln, wie sie den ganzen Stoff durchbringen sollen und wie sie benoten sollen, weil sie keine Tests machen konnten.

Schülerinnen und Schüler, die während des Lockdowns durch bestimmte Hindernisse keine Aufgaben abgeben oder nicht in die Online-Stunden kommen konnten, wurden negativ benotet, auch wenn sie alles versucht haben. Die Pandemie ging vielen Menschen an die Psyche, Jugendliche nicht ausgeschlossen. Ich selbst kenne einige, die jetzt Therapie in Anspruch nehmen. Vor allem den Schülerinnen und Schülern, die zuhause Gewalt ausgesetzt sind, haben die Lockdowns und die Pandemie sehr zugesetzt.

Aus meiner Sicht ist es eine Frechheit, dass man die Jugend durchseuchen lässt. Es wäre viel besser, wenn alle dreifach geimpft wären, als zu riskieren, dass vielleicht doch jemand einen schweren Verlauf hat und entweder mit Langzeitfolgen leben muss oder sogar stirbt. Ich habe selbst in meinem Bekanntenkreis junge Menschen mit Vorerkrankungen. Sie müssen entweder riskieren, Covid zu bekommen oder starke Nebenwirkungen der Impfung ertragen, weil der Körper sich selbst angreift. Durchseuchung ist daher meiner Meinung nach Blödsinn, denn Jugendliche können auch an Corona sterben.

Und natürlich stecken Schülerinnen und Schüler nicht nur sich gegenseitig, sondern auch ihre Familie mit Corona an – dieses Prinzip scheint aber schon länger ein Problem beim Bildungsministerium zu sein. Entweder man minimiert den Kontakt zu den eigenen Familienmitgliedern oder riskiert, jemanden anzustecken, der einem wichtig ist. Man sollte eher die Impfpflicht schnellstens einführen, anstatt die Bevölkerung zu durchseuchen.

Ich finde es ekelhaft, dass man die Wirtschaft über Menschenleben stellt. Das ist jedoch ein Trend bei der österreichischen Regierung. Wir sind zwar der ‚Nachwuchs‘, werden aber oft maximal mit dem Mindestlohn bezahlt. Die Matura bedeutet im Berufsleben eigentlich fast gar nichts mehr.

Die Durchseuchung ist ein größeres Risiko als man sich gerade bewusst ist – aber hier geht es nicht mehr um die Menschen, sondern um die Wirtschaft. Für das Wirtschaftswachstum wird alles getan, auch wenn die Jugend dadurch Schaden nimmt – weil man anscheinend der Meinung ist, dass es okay ist, unsere Gesundheit zu riskieren, damit man uns später als billige, neue Arbeitskräfte einstellen kann.“

Entscheidend für die Entwicklung und den Erfolg der Bewegung ist eine Orientierung auf die Arbeiterklasse, verbunden mit einer klaren politischen Perspektive. Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE), die Jugendorganisation der Vierten Internationale, vertritt eine unabhängige sozialistische Politik. Wir rufen Schülerinnen und Schüler nicht dazu auf, an das politische Establishment zu appellieren, sondern an ihre Mitschüler in Deutschland, Frankreich, Griechenland, den USA und an Arbeiter auf der ganzen Welt.

Um die Streiks auszuweiten und die Durchseuchungspolitik zu stoppen, ist ein Appell an breiteste Schichten der internationalen Arbeiterklasse erforderlich. Im Rahmen einer globalen Zero-Covid-Politik muss die Pandemie durch international koordinierte Lockdown- und Kontaktverfolgungsmaßnahmen beendet werden – finanziert durch die Enteignung der Pandemie-Profiteure und kombiniert mit einer umfassenden öffentlichen Notfallversorgung bei voller Lohnfortzahlung. Gründet Aktionskomitees und Gruppen der IYSSE an allen Schulen, Berufsschulen, Universitäten und in den Betrieben, diskutiert dieses Programm und nehmt noch heute mit uns Kontakt auf!

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