72. Berlinale – „Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien“

„Für die vielen – Die Arbeiterkammer Wien“ war einer der Filme der 72. Berlinale, in dem die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeitern in der heutigen Zeit beleuchtet werden. In seinem Dokumentarfilm porträtiert der Regisseur Constantin Wulff die Arbeiterkammer in Wien. Sie ist der Hauptsitz der österreichischen Arbeiterkammer – der gesetzlichen Interessenvertretung der Arbeiter in Österreich.

"Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien" (Bild: Navigator Film)

Was Constantin Wulff von einem Dokumentarfilm erwartet, machte er in einem Statement zum Film deutlich: „Für mich gibt es im Bereich des Dokumentarischen nichts Ärgerlicheres als ‚scripted reality‘ oder das Konzept des dokumentarischen ‚Themenfilms‘, wo der Film lediglich zeigt, was er vorher schon weiß. Für mich ist Dokumentarfilm das genaue Gegenteil davon: eine Konfrontation mit der Wirklichkeit.“

Der Film konfrontiert den Zuschauer mit der Wirklichkeit der modernen Arbeitswelt und den Grenzen der nationalen Arbeitervertretungen in einer globalisierten Welt. Der Zuschauer bekommt einen detaillierten Einblick, mit welchen Problemen die Arbeiter konfrontiert sind, welche Beratung und rechtliche Unterstützung ihnen die Kammer gibt, aber auch in das Innenleben der Arbeiterkammer selbst. Der Film bleibt aber an der Oberfläche. Er zieht keine Schlüsse aus der Arbeit der Arbeiterkammer, die weder die Situation der Arbeiter grundlegend verbessern will, noch kann.

Im ersten Teil des Films wird die Ausbeutung der Arbeiter ungeschminkt gezeigt. Es geht um Lohnraub, unsägliche Arbeitsbedingungen und willkürliche Entlassungen. Eine Arbeiterin soll während ihres Mutterschutzes gekündigt werden. Ein anderer Arbeiter berichtet, dass er einen Vollzeitjob bei einem Subunternehmer von DHL angenommen und auch die volle Zeit gearbeitet hatte, vom Arbeitergeber aber nur für 20 Stunden pro Woche angemeldet und bezahlt wurde. Auch eine Lohnabrechnung hatte er nicht bekommen. Unter den betroffenen Arbeitern befinden sich viele aus Ost- und Südosteuropa, deren Unkenntnis der Sprache und österreichischen Gesetze von den Unternehmen reichlich ausgenutzt werden.

Auch vermittelt der Film, dass sich die Lage der Arbeiter während der Corona-Pandemie massiv verschärft hat. So berichtet eine Gruppe von Arbeiterinnen von ihren Arbeitsbedingungen in einer Maskenfirma, in der sie chinesische Masken mit „Made in Austria“-Klebern versehen haben. Man trieb sie zu schnellerer Arbeit an, verbot ihnen, außerhalb der Pausen zu trinken, und zahlte zu wenig Lohn. Am Ende war die Firma insolvent, und die Beschäftigten standen auf der Straße.

Die Arbeiterkammer stützt sich auf eine 100-jährige Geschichte, die im Film durch die Vorbereitung auf das Jubiläum 2020 thematisiert wird. Sie wurde am 9. Juni 1920 als Gegenstück zu den Handelskammern für die Unternehmer gesetzlich verankert und repräsentierte wie die im Jahr zuvor gesetzlich eingeführten Betriebsräte die „Sozialpartnerschaft“ der österreichischen Sozialdemokratie (SDAP).

Heute sind die meisten Arbeiter verpflichtend Mitglied in der Arbeiterkammer. Über die Arbeiterkammerumlage werden 0,5 Prozent des Bruttogehalts automatisch eingezogen. Die 3,7 Millionen Mitglieder haben damit einen Rechtsanspruch auf Unterstützung in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen.

Die Arbeiterkammer arbeitet eng mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) zusammen und bildet mit ihm, der Wirtschaftskammer (WKO) und der Landwirtschaftskammer die österreichische Form des „Sozialstaats“. Innerhalb der Arbeiterkammer gibt es Fraktionen, die alle fünf Jahre zur Wahl stehen. Die größten der Fraktionen stehen jeweils einer der österreichischen Großparteien nahe. Die Arbeit der Kammer findet also nicht als unabhängige Interessensvertretung der Arbeiter statt, sondern ist in die staatliche Politik integriert.

Das Filmteam von Constantin Wulff ist live dabei, als bei einer internen Vorführung im Haus der neue Werbefilm zum 100-jährigen Jubiläum gezeigt wird. In diesem mit Pathos aufgeladenen Clip wird die Arbeiterkammer durch eine junge Frau symbolisiert, die durch eine futuristische Kulisse läuft und am Ende gegen die „Windmühlen“ der Digitalisierung in Form einer Armee von Robotern antritt.

Das Alter-Ego der Arbeiterkammer beschreibt dabei seine eigene Geschichte mit den Worten: „Mein ganzes Leben musste ich kämpfen. Sie wollten mich kleinmachen. Zum Schweigen bringen. Und sich mit aller Kraft gegen mich stemmen. Doch egal wie dunkel es um meine Zukunft gestanden ist, ich habe immer das Licht gesehen, denn ich war nie alleine. Ich bin die Gerechtigkeit, und ich bin gekommen, um zu bleiben.“

Anstatt jedoch die kapitalistischen Ursachen für die Probleme der Arbeiter zu benennen, richtet sich das Werbevideo gegen den technischen Fortschritt. Nachrichten von Entlassungen und der zunehmenden Arbeitshetze weichen nach und nach Nachrichten von Automatisierungen und von Robotern, die den Arbeitern die Arbeitsplätze streitig machen.

Diese politische Desorientierung zeigt sich auch in der Haltung der Arbeiterkammer zur Corona-Pademie. Bei einer Pressekonferenz der Arbeiterkammer kommt die Frage auf, wie sich die Vermögensverteilung in Österreich während der Coronapandemie verändert hat. Darauf klagt ein Sprecher der Kammer nicht etwa die massiven Geldgeschenke der Regierung an die Konzerne zu Beginn der Pandemie oder die Corona-Gewinne der Aktienspekulanten auf Kosten der Gesundheit an. Er wendet er sich gegen einen wirklichen Lockdown. Die ärmere Bevölkerung könne eine solche „Pausetaste“ finanziell nicht überleben, da sie auf das monatliche Einkommen angewiesen sei. Die „Gerechtigkeit“ wird hier gegen Gesundheit und Leben der Arbeiter ausgespielt.

Ein oberflächliches Bild

Constantin Wulff ist 1962 in Hamburg geboren, in der Schweiz aufgewachsen und studierte Filmregie an der Film-Akademie in Wien. „Für die Vielen“ ist sein dritter dokumentarischer Langfilm, nach „In die Welt“ (2009) über eine Geburtsklinik und „Wie die Anderen“ (2015) über eine Kinder- und Jugend-Psychiatrie. All diese Filme stehen in der Tradition des Direct Cinema, einer Form des Dokumentarfilms, die in den 1950er Jahren in Nordamerika entstanden ist.

Wesentlich für solch einen Film sind die Produktionsbedingungen. Mit einem möglichst kleinen Team und mobiler, unauffälliger Technik soll die Anwesenheit der Filmteams in den Hintergrund geraten und so ermöglicht werden, durch reine Beobachtung die Realität einzufangen, ohne sie durch Anwesenheit des Kamerateams zu verfälschen. Da die Filmemacher keine Situationen provozieren und in das Geschehen nicht eingreifen, dauern solche Produktionen entsprechend lange. „Für die Vielen – Dir Arbeiterkammer Wien“ hatte 55 Drehtage und wurde zwischen September 2019 und Oktober 2021 gedreht.

Durch diese arbeitsintensive Methode war Wulff zwar in der Lage, die Arbeiterkammer Wien lange zu beobachten, aber entstanden ist nur ein oberflächliches Bild der Arbeiterkammer. Während in der ersten Hälfte eindrucksvoll die Arbeiter selbst zu Wort kommen und einen bewegenden Einblick in ihr Leben gewähren, dominieren in der zweiten Hälfte mehr und mehr die Funktionäre der Arbeiterkammer, die ihre Rolle zu beschönigen suchen.

Durch seinen scheinbar neutralen Ansatz verlässt der Film die Ebene des Beobachtens nicht. Er folgt den subjektiven Eindrücken und lässt die Rolle der Arbeiterkammer als institutionalisierter Vermittler zwischen den Interessen der Unternehmen und denen der Arbeiter zugunsten der bestehenden kapitalistischen Ordnung unkommentiert.

In einem Statement erklärt Constantin Wulff, warum er den Film über die Arbeiterkammer in dieser Weise gedreht hat: „Auf die Arbeiterkammer bin ich in einer Zeit aufmerksam geworden, die ich in gesellschaftspolitischer Hinsicht als sehr bedrückend in Erinnerung habe. Es waren die Jahre 2018/19, als ÖVP und FPÖ in Österreich eine Regierungskoalition bildeten: ein Bündnis aus einer radikalisierten konservativen ÖVP (Sebastian Kurz) und einer extremen rechten FPÖ. Die Zeit war wegen der Dominanz der Regierungspolitik so bedrückend und wegen der Vehemenz, mit der Gesellschaft und Staat nach autoritären Gesichtspunkten umgebaut wurden und der die Oppositionsparteien nichts Substanzielles entgegenzusetzen hatten. Die einzig wahrnehmbare Opposition kam aus meiner Sicht aus der Zivilgesellschaft und sachpolitisch von den Gewerkschaften – und eben von der Arbeiterkammer.“

Das ist leider weit weg von der Realität. Bereits 2016 forderte der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB) Erich Foglar, dass die SPÖ „nicht jede Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ von vornherein ausschließen kann“. Außerdem positionierte sich Folger klar gegen die Zuwanderung: „Die Kontrolle am Arbeitsmarkt ist dadurch mehr oder weniger verlorengegangen.“

Die Gewerkschaften bilden „sachpolitisch“ keine Opposition, sondern unterstützen den Rechtsruck. Im Januar 2018 weigerte sich der ÖGB noch ausdrücklich, den Protest gegen die Regierung zu unterstützen. „Auch in der Arbeiterkammer und in den Gewerkschaften pflegt man Kontakte mit FPÖ-Funktionären“, bemerkte das Nachrichtenmagazin Profil.

Hundert Jahre korporatistische Zusammenarbeit

Letzlich endet Wulffs „Konfrontation mit der Wirklichkeit“ mit einer Beschönigung der Realität. Weder die Gewerkschaften noch die Arbeiterkammer sind ein Bollwerk gegen faschistische Gefahren und ebenso wenig gegen die zunehmend aggressiven Angriffe auf die Arbeiter durch die herrschende kapitalistische Elite.

Die Arbeiterkammer feiert sich auf ihrer Website selbst mit den Worten, sie stehe für „100 Jahre Sozialstaat – 100 Jahre Gerechtigkeit“. Angeblich habe sie zusammen mit den Gewerkschaften „die Sicherheit und die Freiheit des Einzelnen ... erhöht, die Armut massiv reduziert, mit der betrieblichen Mitbestimmung die Demokratie ausgebaut“.

Man fragt sich, weshalb dann heute, wie der Film am Anfang selbst dokumentiert, die Ausbeutung wieder Ausmaße wie in den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts annimmt und weshalb, wie der Regisseur selbst konstatiert, die Demokratie immer offener attackiert wird.

Tatsache ist, dass die Arbeiterkammer in ihren hundert Jahren vor allem einen Zweck verfolgt hat – durch Korporatismus mit den Unternehmen und den bürgerlichen Regierungen den Klassenkampf zu unterdrücken und eine revolutionäre Entwicklung zu verhindern.

Auch in Österreich hatten sich mit der Russischen Revolution 1917 heftige Streiks entwickelt, waren spontan Betriebskomitees und Räte entstanden. Als die Revolte auf die Armee überzugreifen begann – am bekanntesten wurde der Matrosenaufstand im Adriahafen von Cattaro (heute: Kotor, Montenegro) – organisierte die sozialdemokratische Führung des Wiener Arbeiterrats den Abbruch der Streiks. Im Frühjahr 1919 radikalisierte sich die Lage erneut, parallel zur Ausrufung der ungarischen und der Münchner Räterepublik. Revolutionäre Arbeiter belagerten am 17. April in Wien das Parlament und setzten es in Brand. Die Regierung unter dem Sozialdemokraten Karl Renner ließ sie niederschlagen.

Schon vor dem Krieg vertrat die SDAP ausdrücklich die von Otto Bauer ausgearbeitete Theorie des Austromarxismus, wonach die Arbeiter nicht durch Klassenkampf, sondern nur über parlamentarische Mehrheiten an die Macht kommen könnten. Nach dem Krieg verstrickte sie dann die Arbeiterklasse, wie es Leo Trotzki einmal ausdrückte, „in ein Netz von politischen, gewerkschaftlichen, städtischen, kulturellen und sportlichen Organisation“, um die kapitalistische Herrschaft zu sichern.

In der Periode des Austrofaschismus ab 1933/34 machte sich die Dollfuss-Regierung die Arbeiterkammern mithilfe einiger leitender Funktionäre zunutze, um die Arbeiterklasse zu kontrollieren und bereitete schließlich den Weg für ihre Auflösung nach dem Anschluss Österreichs durch Nazi-Deutschland. Die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebten Arbeiterkammern spielten erneut ihre Rolle, die Arbeiterklasse zu lähmen.

Angesichts der heutigen globalen Krise des Weltkapitalismus, der Rückkehr zu Verelendung, Krieg und Diktatur, gibt es allerdings keinen Spielraum mehr für soziale Zugeständnisse. Oder wie die Wiener Arbeiterkammer selbst, an die österreichische Elite gerichtet, auf ihrer Website betont, der „Sozialstaat“ habe vor allem „große Bedeutung als Konjunkturstabilisator“.

Um gegen den Rechtsruck und die massiven Angriffe auf Lebensstandard, Arbeitsplätze und demokratische Rechte vorzugehen, brauchen die Arbeiter neue, unabhängige Organisationen, die überall auf der Welt für ein Ende des kapitalistischen Profitsystems kämpfen.

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