Am Wochenende reiste Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses und dritthöchste Politikerin der regiererenden US-Demokraten, unter strenger Geheimhaltung in das Kriegsgebiet bei Kiew in der Ukraine. Sie versprach, dass sich die Vereinigten Staaten für einen „Sieg“ gegen Russland einsetzen.

Pelosi wiederholte die falsche Behauptung, es gehe bei der Beteiligung der Vereinigten Staaten am Krieg gegen Russland um Hilfe für die Ukraine als einen in Not geratenen Alliierten. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sagte sie: „Unsere Verpflichtung ist es, für Sie da zu sein, bis der Kampf vorbei ist.“ Und weiter: „Wir stehen zur Ukraine, bis der Sieg errungen ist.“

Der Abgeordnete der Demokratischen Partei Jason Crow, der Pelosi auf ihrer Reise in die Ukraine begleitete, betonte sogar noch nachdrücklicher die Rolle der Vereinigten Staaten als Kriegspartei. Auf einer Pressekonferenz in Polen äußerte er: „Die Vereinigten Staaten von Amerika sind hier dabei, um zu gewinnen, und wir werden der Ukraine beistehen, bis der Sieg errungen ist.“

Pelosis Zusage erfolgte nur eine Woche nach ähnlichen Zusicherungen von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und US-Außenminister Antony Blinken. Sie kommt der Zusage für einen unbegrenzten Einsatz von Geld und Blut für sehr weitreichende Kriegsziele gleich. Die Vereinigten Staaten sind dabei, in eine Situation hineinzurutschen, die US-Präsident Biden bereits mit dem Wort „Weltkrieg“ bezeichnet hat.

Was bedeutet „Sieg“ in der Ukraine? Innerhalb von nur einer Woche haben Biden, Austin und führende Mitglieder der politischen Partei des Präsidenten widersprüchliche und nicht miteinander in Einklang zu bringen Antworten auf die Frage gegeben, was die Vereinigten Staaten in Osteuropa erreichen wollen.

Einerseits behauptet Biden, es sei „nicht wahr“, dass die Vereinigten Staaten einen Stellvertreterkrieg mit Russland führten. Andererseits sagte Austin letzte Woche auf einer Pressekonferenz in Polen, die Vereinigten Staaten wollten Russland „schwächen“. Die New York Times spricht davon, „Russland in die Knie zu zwingen“, während der ehemalige Befehlshaber der US-Armee in Europa, Ben Hodges, verkündete, es gehe darum, „Russland das Rückgrat zu brechen“.

Welches dieser Ziele setzt Pelosi für die Vereinigten Staaten?

Nimmt man Pelosis Aussagen im engsten und wörtlichsten Sinne, so bedeuten sie, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine bei der Verwirklichung ihrer militärischen Ziele gegenüber Russland unterstützen werden. Doch die eigenen militärischen Ziele der Ukraine, die in enger Zusammenarbeit mit den US-Militärplanern entwickelt wurden, sind weitreichend.

Am 24. März 2021 unterzeichnete Selenskyj ein Dokument, mit dem er sich verpflichtete, „Maßnahmen zur Gewährleistung der Räumung und Wiedereingliederung der Halbinsel“ Krim zu ergreifen. Das bedeutet, dass die Ukraine offiziell das Ziel formuliert hat, die von Russland beanspruchte Krim mit militärischen Mitteln zurückzuerobern.

Wenn es der Ukraine gelingt, die russische Offensive im Donbass zu brechen, die angreifenden russischen Streitkräfte auszuschalten und in russisches Gebiet vorzudringen, wären die Vereinigten Staaten dann „verpflichtet“', die Ukraine in diesem „Kampf“ zu unterstützen?

Was werden die Vereinigten Staaten in einem anderen Szenario tun, wenn die russischen Streitkräfte ihren Vormarsch auf die Westukraine fortsetzen und Teile der ukrainischen Armee einkesseln, und wenn ein Auseinanderbrechen des Landes droht? Was bedeutet Pelosis uneingeschränkter Einsatz für einen „Sieg“ gegen Russland, wenn der Ukraine eine strategische Niederlage droht?

Wenn die Vereinigten Staaten letztlich gezwungen sind, zwischen einer Rücknahme ihrer Selbstverpflichtung und der Entsendung von Truppen - oder sogar dem Einsatz von Atomwaffen - zu wählen, dann werden sie Pelosis Aussage zufolge letztere Option wählen.

Letzte Woche forderte der demokratische Senator Chris Coons ein „Gespräch“ über die Entsendung von US-Truppen zum Kampf gegen Russland in der Ukraine.

Auf die Äußerungen von Coons angesprochen, bezeichnete Tim Kaine, Hillary Clintons Schatten-Vizepräsident im Wahlkampf 2016, die Maßnahme lediglich als „verfrüht“ - was praktisch ein Eingeständnis dafür ist, dass bereits Pläne in Arbeit sind. Am Sonntag gab der republikanische Kongressabgeordnete Adam Kinzinger bekannt, dass er die Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt einbringen werde, die es Biden ermöglicht, US-Truppen in einem größeren Krieg mit Russland einzusetzen.

Im Laufe des Vietnamkriegs wurden die Vereinigten Staaten in einen immer blutigeren und brutaleren Krieg hineingezogen, der einer Logik von militärischen Verpflichtungserklärungen folgte.

Die Pentagon Papers, die erstmals 1971 veröffentlicht wurden, enthüllten, dass der amerikanische Imperialismus Anfang der 1960er Jahre unter Präsident John F. Kennedy sein Engagement in Vietnam, das bis dahin als „Spiel mit begrenztem Risiko“ bezeichnet worden war, in ein „umfassendes Engagement“ geändert hatte.

Eines der belastendsten Dokumente aus den Pentagon Papers ist ein internes Memo des Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 1965, in dem es heißt, der Hauptgrund für das Engagement der USA sei die Aufrechterhaltung einer „Verpflichtung“ der Vereinigten Staaten, deren Verletzung einer „demütigenden Niederlage der USA“ gleichkäme. Die Ziele der Vereinigten Staaten wurden wie folgt eingestuft:

• 70 % - Vermeidung einer demütigenden Niederlage der USA (für unseren Ruf als Garantiegeber)
• 20% - SVN [Südvietnam] und das (angrenzende) Territorium von chinesischem Einfluss frei halten
• 10 % - Dem Volk von SVN erlauben, ein besseres, freieres Leben zu genießen
• NICHT - Einem Freund helfen

Um die globale Hegemonie der Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit durchzusetzen, verloren 58.220 amerikanische Soldaten ihr Leben, Hunderttausende wurden physisch und psychisch schwer verletzt und über eine Million vietnamesische Männer, Frauen und Kinder wurden getötet.

Die Pentagon Papers enthüllten das Ausmaß, in dem die amerikanische Außenpolitik im Geheimen gemacht wird. Der Öffentlichkeit werden eine Reihe von Fakten und Argumenten präsentiert, die in keinem Zusammenhang mit den tatsächlichen Zielen stehen, die den Konflikt vorantreiben. Ziel der Diskussion in den Medien ist es nicht, dem Volk eine demokratische Kontrolle über die Außenpolitik zu ermöglichen, sondern die öffentliche Meinung so zu konditionieren, dass sie das vom amerikanischen Staatsapparat gewünschte Ergebnis akzeptiert.

Im gegenwärtigen Krieg steht viel mehr auf dem Spiel als in Vietnam. Der Konflikt um die Ukraine war zunächst ein Stellvertreterkrieg der USA mit dem Ziel, Russland „auszubluten“. Inzwischen entwickelt er sich rasant zu einem ausgewachsenen Krieg zwischen zwei nuklear bewaffneten Staaten.

Im gesamten politischen Establishment der USA unternimmt niemand einen ernsthaften Versuch, zu erklären, worum es in diesem Krieg geht. Es gibt ganz einfach keine Opposition gegen eine rücksichtslose und wahnsinnige Politik, die die menschliche Zivilisation durch den Ausbruch eines nuklearen Dritten Weltkriegs zu vernichten droht.

Bei der Eröffnung der Online-Kundgebung zum 1. Mai 2022 erklärte der Vorsitzende des internationalen WSWS-Redaktionsausschusses, David North, die wahren Ziele des US-Imperialismus im Krieg gegen Russland in seinem Bericht „Der Krieg zwischen Nato und Russland und die Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse“:

Russland ist nicht wegen des autokratischen Charakters des Putin-Regimes zur Zielscheibe des US-Imperialismus geworden, sondern erstens, weil seine Verteidigung der Interessen der russischen Kapitalisten mit dem Streben der Vereinigten Staaten nach Weltherrschaft und den damit verbundenen Kriegsvorbereitungen gegen China kollidiert; und zweitens, weil das riesige russische Territorium die Quelle ungemein wertvoller und strategisch wichtiger Rohstoffe, Metalle und Mineralien ist: Gold, Platin, Palladium, Zink, Bauxit, Nickel, Quecksilber, Mangan, Chrom, Uran, Eisenerz, Kobalt und Iridium, um nur einige zu nennen, die die Vereinigten Staaten unbedingt unter ihre Kontrolle bringen wollen.

US-Vertreter geben immer offener zu, dass der amerikanische Imperialismus Russland „das Rückgrat brechen“ und „Russland in die Knie zwingen“ will. Mit dem Versprechen, Krieg zu führen, um den „Sieg“ zu erringen, schaffen die Vereinigten Staaten die Voraussetzungen für eine Katastrophe.

Die gesellschaftliche Kraft, die mobilisiert werden muss, um den wahnsinnigen Sog zum Weltkrieg zu stoppen, ist die Arbeiterklasse. North schließt seinen Bericht mit den Worten: „Die internationale Arbeiterklasse muss dem imperialistischen Krieg den Krieg erklären.“

Die internationale Maikundgebung, die von Vertretern des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aus aller Welt getragen wurde, hat die globale sozialistische Perspektive dargelegt, auf deren Grundlage dieser Kampf geführt werden muss.