Bayerisches Verfassungsschutzgesetz großteils verfassungswidrig

Das Bayerische Verfassungsschutzgesetz von 2016 ist in großen Teilen verfassungswidrig. Das entschied das Bundesverfassungsgericht am 26. April, fast fünf Jahren nachdem gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben worden war.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) galt als Landesgesetz mit den weitreichendsten Überwachungsbefugnissen und war als solches Vorbild für ähnliche Regelungen in anderen Bundesländern. Das Urteil wird die Arbeit des Geheimdienstes nicht wesentlich einschränken. Dennoch ist es politisch vernichtend: Die Behörde, die angeblich die Verfassung schützen soll, ist selbst eine Gefahr für sie und tritt in ihrer Arbeit elementare Grundrechte mit Füßen.

Die Verfassungsbeschwerde war 2017 von der Gesellschaft für Freiheitrechte (GFF) angestoßen worden und richtete sich gegen eine Vielzahl von Regelungen des BayVSG. Sie wurde am 14. Dezember 2021 in Karlsruhe mündlich verhandelt.

Die GGF führte die Verfassungsbeschwerde mit drei Klägern, die alle Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) sind, eines Vereins, der lange Zeit vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet wurde. Auf diese Beobachtung hatte ein Berliner Finanzamt seine Entscheidung gestützt, dem VVN-BdA den Status der Gemeinnützigkeit abzuerkennen, was die Organisation finanziell in ihrer Existenz bedrohte.

Zu den Befugnissen im Bayerischen Verfassungsschutzgesetz, die aus Sicht der GFF unverhältnismäßig und damit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, gehören u.a. die Erhebung von Telekommunikations-Vorratsdaten (Art. 15 Abs. 3), der Große Lauschangriff (Art. 9), die Online-Durchsuchung (Art. 10) und der Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern und V-Leuten (Art. 18 und 19).

Als einziges Landesamt für Verfassungsschutz durfte der bayerische Geheimdienst auf die Vorratsdatenspeicherung zugreifen, die eigentlich ermittelnden Polizeibehörden vorbehalten ist. Diese Regelung erklärte das Bundesverfassungsgericht nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch mit sofortiger Wirkung für nichtig. Die Norm verstoße „gegen Art. 10 Abs. 1 GG [Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis], weil sie zum Datenabruf ermächtigt, ohne dass die betroffenen Diensteanbieter nach Bundesrecht zur Übermittlung dieser Daten an das Landesamt verpflichtet oder berechtigt wären“.

Die Regelung zum Großen Lauschangriff („akustische und optische Wohnraumüberwachung“) sei ebenfalls nicht mit der Verfassung vereinbar. Das Grundgesetz, so die Karlsruher Richter, erlaube in Art. 13 Abs. 4 GG (Beschränkungen der Unverletzlichkeit der Wohnung) akustische oder optische Wohnraumüberwachungen nur zur Abwehr dringender Gefahren. Die Maßnahme müsse dabei final auf die „Abwehr“ der Gefahr ausgerichtet sein. Das BayVSG enthalte eine solche Begrenzung nicht. Außerdem seien die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den „Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ bei Wohnraumüberwachungen nicht vollständig erfüllt.

Eine Online-Durchsuchung dürfe nur zur „Abwehr“ einer mindestens konkretisierten Gefahr im polizeilichen Sinne zugelassen werden. Die vom BayVSG erlaubten Maßnahmen seien aber nicht auf diese Zwecksetzung begrenzt.

Die Regelungen zu „Verdeckten Mitarbeitern“ und „Vertrauensleuten“ seien verfassungswidrig, weil keine hinreichenden Eingriffsschwellen geregelt seien und eine Bestimmung fehle, die den Kreis zulässiger Überwachungsadressaten begrenzend regelt, sofern der Einsatz gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet ist. Auf deutsch: Es obliegt der freien Willkür des Geheimdienstes, ab wann und gegen wen er Spitzel und Provokateure einsetzt. Außerdem fehle es an der „erforderlichen unabhängigen Vorabkontrolle“.

Die Regelung zu „Observationen außerhalb der Wohnung“, die es dem Landesamt erlaubt, eine Person durchgehend länger als 48 Stunden oder an mehr als drei Tagen innerhalb einer Woche verdeckt auch mit technischen Mitteln planmäßig zu beobachten, verstoße gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Regelung enthalte ebenfalls „keine hinreichenden Eingriffsschwellen“.

Schließlich monierten die Verfassungsrichter, dass nach Art. 25 BayVSG der Geheimdienst die von ihm erlangten Informationen praktisch unbegrenzt an andere staatliche Stellen, einschließlich Polizeibehörden, weitergeben darf. Damit war die Trennung von Polizei und Geheimdiensten, eine Lehre aus dem Nazi-Regime mit seiner mächtigen Geheimen Staatspolizei (Gestapo), weitgehend aufgehoben.

Die World Socialist Web Site hatte 2016, als das neue Gesetz über den Bayerischen Verfassungsschutz in Kraft gesetzt wurde, gewarnt:

Diese üble Organisation wird nun von weiterer parlamentarischer Kontrolle befreit und erhält weitgehende Befugnisse. Es ist offensichtlich, dass es bei dieser Staatsaufrüstung nicht um den Schutz der Bevölkerung geht. Ganz im Gegenteil wird ein Apparat geschaffen, der selbst enge Verbindungen zur terroristischen Szene hat und gegen jede soziale Opposition eingesetzt werden kann.

Es wäre illusorisch, sich von den Karlsruher Richtern nun grundsätzlichen Schutz vor dem Geheimdienst zu erwarten. Die Einschränkungen, die dem Verfassungsschutz auferlegt werden, sind nicht wesentlich. Er soll vielmehr systematischer, gezielter und effektiver arbeiten. Außerdem soll die durch den NSU-Skandal tief diskreditierte Behörde eine erneuerte Legitimationsgrundlage erhalten.

Weder Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchung, Observationen, Handyortung, noch den Einsatz von verdeckten Mitarbeitern und Informanten oder die Weitergabe von geheimdienstlichen Erkenntnissen hat Karlsruhe verboten, vielmehr nur Vorgaben zum Wann und Wie gemacht. Die Legal Tribune Online kommentierte:

Für die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden bringt das Karlsruher Urteil eine weitere Verrechtlichung in einem Bereich, der bislang von Lücken, internen Richtlinien und Einzelfallprüfungen geprägt wurde.

Der bayerische CSU-Innenminister Joachim Herrmann, der sich 2016 für diese damals schärfsten Befugnisse „seines“ Verfassungsschutzes stark gemacht hatte, freute sich, das Urteil stärke insgesamt den Verfassungsschutz in Deutschland. Es mache deutlich, dass das Gericht die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden „für grundsätzlich wichtig und richtig und notwendig hält“.

Hinzu kommt, dass das 2018 novellierte Polizeiaufgabengesetz (PAG) ähnlich weitreichende Machtbefugnisse für die bayerische Polizei enthält. Juristen bezeichnen es als das härteste deutsche Polizeigesetz seit 1945. Vor vier Jahren waren dagegen in München 40.000 Menschen auf die Straße gegangen. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte und das Bündnis #noPAG haben auch dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt.

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