Die Documenta15 und der verlogene Vorwurf des Antisemitismus

Am 16. Juli trat Sabine Schormann, die Generaldirektorin und Geschäftsführerin der Documenta 15, unter massivem politischem Druck zurück. Zuvor hatte sich der Vorwurf des Antisemitismus gegen die Weltkunstausstellung in Kassel zugespitzt.

Sabine Schormann auf einer Pressekonferenz am 15. Juni [Photo by Nicolas Wefers / documenta]

Entsprechende Vorwürfe waren bereits vor der Eröffnung der Documenta erhoben worden, die in diesem Jahr vom indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa ausgerichtet wird, das neben allgemeiner Kritik am Kolonialismus auch Kritik an der Palästinenserpolitik der israelischen Regierung übt.

Die Kritik erreichte Orkanstärke, als auf der Ausstellung kurzzeitig ein riesiges, zwanzig Jahre altes Transparent des indonesischen Kollektivs Taring Padi gezeigt wurde, das sich gegen die von der Suharto-Diktatur geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse in Indonesien richtet.

Unter Hunderten Figuren und Szenen fanden Kritiker zwei, die antisemitische Merkmale aufweisen: In einer Reihe Soldaten oder Polizisten im Sturmschritt findet sich eine Figur mit Schweinsgesicht, einem Halstuch mit Davidstern und einem Helm mit der Aufschrift „Mossad“ – anscheinend ein Hinweis auf die Mitwirkung des berüchtigten israelischen Auslandsgeheimdiensts am Putsch Suhartos, dem 1965 zwischen 400.000 und einer Million Kommunisten und regierungskritische Studenten zum Opfer fielen.

Die zweite Figur, ein Mann in Anzug und Krawatte mit Haifisch-artigen Zähnen, einer Zigarre im Mund und angedeuteten Schläfenlocken mit einer SS-Rune auf dem Hut, ähnelt auf fatale Weise den Nazi-Karikaturen jüdischer Kapitalisten.

Die Kuratoren und die Künstler selbst entschuldigten sich mehrfach und distanzierten sich vom Antisemitismus. Sie machten plausibel, dass das Bild aus der Perspektive der traumatischen Erfahrung mit der Suharto-Diktatur entstanden sei. Seine Wirkung in Deutschland, das für den Holocaust verantwortlich war, sei ihnen nicht klar gewesen. Das beanstandete Transparent wurde zuerst teilweise abgedeckt und kurz darauf vollständig entfernt.

Aber die Kampagne gegen die Ausstellung, die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat der Documenta ging unvermindert weiter. Das entfernte Bild sowie einige andere Werke, die die Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Regierung zum Thema haben, dienten als Vorwand, die gesamte Ausstellung unter die Anklage des Antisemitismus zu stellen. Es wurde gefordert, die Verantwortlichen abzuberufen, die Ausstellung zu säubern oder sogar ganz zu schließen.

Dass es in Deutschland Antisemitismus gibt, steht außer Zweifel. Das Bundesinnenministerium verzeichnete im vergangenen Jahr 3027 antisemitische Straftaten, von denen es 84 Prozent rechten Tätern zuordnete. Doch Kritik an der Palästinenserpolitik der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus. Man kann den Antisemitismus nur konsequent bekämpfen, wenn man jede Form von Unterdrückung ablehnt.

In Wirklichkeit geht es bei der Kampagne gegen die Documenta nicht um Antisemitismus, sondern um das Verbot jeder Kritik an Krieg und Militarismus, kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung. In einer Zeit, in der Deutschland – in den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz – wieder zum „geopolitischen Akteur“ werden will, wird keine solche Kritik mehr geduldet, auch nicht mit den Mitteln der Kunst.

Es ist nicht das erste Mal, dass kulturelle Veranstaltungen und Einrichtungen unter dem falschen Vorwand des Antisemitismus zum Schweigen gebracht werden. Im Fadenkreuz standen unter anderem die Ruhrtriennale und das Jüdische Museum in Berlin. In Großbritannien wurde die Labour Party auf diese Weise von allen linken Elementen gesäubert und in eine Zweitausgabe der reaktionären Tory-Partei verwandelt.

Mitglieder des indonesischen Künstlerkollektivs ruangrupa, das die diesjährige documenta ausrichtet [Photo by Jin Panji / documenta]

Nachdem es seit Januar Antisemitismus-Vorwürfe gegen das Kuratorenteam Ruangrupa, einen Einbruch in deren Ausstellungsraum und sogar Morddrohungen gegeben hatte, versuchte Documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann lange, die Künstlerinnen, Künstler und die künstlerische Leitung zu schützen, und damit auch das Ruangrupa-Kollektiv-Experiment, Hierarchien in der Kunst nicht zuzulassen. Es ging ihr darum, die engagierte Kunst von Künstlerkollektiven, insbesondere aus der südlichen Hemisphäre, zu zeigen und jede Form von Zensur zurückzuweisen.

Einen Eingriff der Geschäftsführung in die Kompetenzen der Kuratoren habe sie als einen Schritt zur Zensur angesehen, erklärte Schormann. Die Sorge der Künstler, in Deutschland nicht willkommen zu sein, halte sie für berechtigt. Auf der Documenta-Website schrieb sie: „Wir haben uns darauf konzentriert, im Sinne der documenta fifteen aufzuklären und zu handeln.“

Die Forderung, externe Experten „mit Entscheidungsbefugnissen“ sollten die Ausstellung überprüfen, die nach der Entfernung des Taring Padi-Bildes erneut erhoben wurde, habe „das Vertrauensverhältnis zu Ruangrupa und den Künstler*innen enorm belastet“, erläuterte Schormann.

Aber der Druck von Politik und Medien wuchs. Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) ließ über ihren Sprecher verlauten, die Aussagen und Darstellungen von Frau Schormann zu den Abläufen in den vergangenen Monaten seien „so nicht zutreffend“, die Kulturstaatsministerin sei über Schormanns Ausführungen „sehr erstaunt und befremdet“.

Entsprechend begrüßte dann Roth auch die Entscheidung des Aufsichtsrats, Schormann zum Rücktritt zu nötigen: „Es ist richtig und notwendig, dass nun die Aufarbeitung erfolgen kann, wie es zur Ausstellung antisemitischer Bildsprache kommen konnte, sowie die nötigen Konsequenzen für die Kunstausstellung zu ziehen“, sagte sie der Frankfurter Rundschau.

Bundestagsabgeordnete aller Parteien begrüßten den Rückzug von Sabine Schormann. Es ist bezeichnend, dass sich die AfD – eine Partei, die enge Beziehungen zu Neonazi-Netzwerken unterhält, das Nazi-Regime verharmlost und zahlreiche Antisemiten in ihren Reihen zählt – dabei besonders laut hervortat.

Der kulturpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Marc Jongen, forderte nach dem „überfälligen Rücktritt der documenta-Chefin“ müsse bei der Aufarbeitung der Vorgänge „der Rücktritt von Kulturstaatsministerin Roth folgen“. Die AfD-Fraktion im hessischen Landtag hatte zuvor die Schließung der Documenta und die Streichung der Gelder für die renommierte internationale Kunstausstellung verlangt.

Der kulturpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Helge Lindh, bezeichnete in der Welt am Sonntag die Auflösung von Schormanns Dienstvertrag als „überfälligen Befreiungsschlag aus einem Teufelskreis von Missmanagement und Misskommunikation“.

Die FDP-Abgeordnete Linda Teuteberg, „zuständig für jüdisches Leben“, trat nach und machte deutlich, dass es nicht um Kunst geht: „Der Antisemitismus-Skandal der Documenta ist einer mit Ansage und weist über die Kunstschau hinaus: Israelbezogener Antisemitismus ist wie jede Erscheinungsform des Antisemitismus inakzeptabel, Verharmlosungen unter Verweis auf den ,globalen Süden‘ ebenso,“ sagte sie.

Auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger forderte eine „Prüfung der Kunstwerke“.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, verlangte, „für die Zukunft die notwendigen strukturellen Konsequenzen zu ziehen. Antisemitismus darf in keiner Form im Kulturleben akzeptiert werden, gleichgültig woher die Kulturschaffenden kommen. Der BDS-Beschluss des Bundestages sollte künftig die verbindliche Richtschnur bei der Verwendung öffentlicher Gelder bei der Kulturförderung sein.“

Der Bundestagsbeschluss gegen die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) diente nicht der Bekämpfung des Antisemitismus, sondern der Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Er wurde deshalb von 30 führenden deutschen Kulturinstitutionen und mehr als 1000 Künstlerinnen und Künstlern aus Deutschland, Israel und der ganzen Welt öffentlich verurteilt.

Der Bundestagsbeschluss ruft dazu auf, Organisationen und Personen, die mit den Zielen von BDS sympathisieren oder in irgendeiner Verbindung zu BDS stehen, öffentliche Räume und finanzielle Förderung zu verweigern. Zahlreiche Kritiker der israelischen Palästina-Politik sind davon betroffen.

Die WSWS schrieb dazu: „Der Antisemitismus-Vorwurf gegen Linke und Intellektuelle spielt Rechtsradikalen und Faschisten – wie Donald Trump, Viktor Orbán, Matteo Salvini, Rodrigo Duterte und der AfD – in die Hände, die sich mit der rassistischen Politik der israelischen Regierung identifizieren und in Jerusalem als Staatsgäste geehrt werden.“

Dass es bei den Angriffen auf die Documenta nicht um Antisemitismus, sondern um die Unterdrückung missliebiger Kunst und Meinungen geht, zeigt auch die giftige Debatte um die Hijacking-Memory-Konferenz, die vor etwa einem Monat im Haus der Kulturen der Welt (HWK) in Berlin stattfand und sich mit der Erinnerung an den Holocaust und ihrer politischen Instrumentalisierung auseinandersetzte.

Susan Neiman, die Direktorin des Einstein-Forums und eine der drei Organisatorinnen der Konferenz, stellte dort fest: „Keine jüdische Person, nirgends, wird die reale Gefahr des Antisemitismus anzweifeln.“ Die „Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs“ werde aber „auf zynische Weise für nationalistische Zwecke eingesetzt“.

Mitorganisatorin Emily Dische-Becker, die auch an der Documenta-Konzeption mitgewirkt hat, sagte der Berliner Zeitung: „Wir haben beobachtet, dass rechte Akteure international, aber auch in Deutschland, das Gedenken an den Holocaust vereinnahmen, um nationalistische, xenophobe, rechtspopulistische Politik zu machen.“

Danach brach eine ähnliche Kampagne los, wie im Fall der Documenta. Der Grünen-Politiker Volker Beck stellte die staatliche Förderung des HWK infrage. Die Welt titelte: „Haus der Kulturen: Ein Thinktank des neuen Antisemitismus.“ Auch der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, schloss sich an und unterstellte dem HKW, dem Einstein-Forum und dem Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) antisemitische Tendenzen.

Erneut sprach die rechtsextreme AfD am deutlichsten aus, worum es ging. Sie forderte, „der Postkolonialismus“ dürfe nicht länger Maßstab „unserer Kultur- und Erinnerungspolitik“ sein, denn er sei „inhärent antisemitisch“.

Die WSWS stimmt nicht mit den Theorien des Postkolonialismus überein, die die koloniale Unterdrückung auf psychologische und kulturelle Faktoren zurückführen, statt auf die imperialistische Aufteilung der Welt durch monopolistische Banken und Konzerne. Doch hier geht es darum, jede Kritik an kolonialer und imperialistischer Unterdrückung zu verbieten.

Die politischen Parteien, die heute die Documenta als antisemitisch verurteilen, haben selbst eine lange Geschichte kolonialer Verbrechen und bereiten neue vor.

Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) pflegte enge Beziehungen zum indonesischen Diktator und Massenmörder Suharto, den er seinen „Freund“ nannte. Der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß unterhielt enge Beziehungen zum chilenischen Diktator Pinochet. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock traten erst letzte Woche in Berlin Seite an Seite mit dem Schlächter von Kairo, Abdel Fattah al-Sisi, auf, den sie als neuen Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel feierten.

Der Antisemitismus diente den Nazis als Mittel, die Wut kleinbürgerlicher, vom Abstieg bedrohter Bevölkerungsschichten gegen die Juden zu lenken. Sozialisten haben das Gift des Antisemitismus dagegen aufs Schärfste bekämpft. Jetzt dient die verlogene „Antisemitismus-Kampagne“ dazu, jeden zu kriminalisieren, der sich gegen Unterdrückung und Militarismus ausspricht.

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