Perspektive

New York Times fordert Anklage gegen Trump - und verschleiert die Wurzeln der Demokratiekrise in Amerika

Wenn die Leser der New York Times die Sonntagszeitung aufschlagen, finden sie einen langen Leitartikel, der Folgendes darlegt: Eigentlich müsste Donald Trump strafrechtlich verfolgt werden, gleichzeitig könnte eine solche Strafverfolgung zu einem Bürgerkrieg führen.

In dem Leitartikel „Donald Trump steht nicht über dem Gesetz“ werden der US-Justizminister Merrick Garland und seine Behörde aufgefordert, Anklage gegen den Ex-Präsidenten zu erheben. Trump habe versucht, „die Verfassung zu untergraben und den Willen des amerikanischen Volkes umzustoßen“.

Weiter heißt es: „Der Präsident, der bei den Wahlen im Jahr 2020 eine Niederlage erlitten hatte, versuchte, Strafverfolgungsbehörden auf Bundesebene, Beamte der Bundesstaaten und Verwalter des Wahlsystems der Nation einzuschalten in dem verzweifelten Versuch, an der Macht zu bleiben. Als alles andere scheiterte, rief er einen bewaffneten Mob auf den Plan, der das Kapitol stürmte und die Gesetzgeber bedrohte.“

Es hat 19 Monate gedauert, bis die Times-Redakteure die Realität anerkannt haben, auf die die World Socialist Web Site innerhalb weniger Stunden nach dem Putschversuch vom 6. Januar 2021 hingewiesen hat: Der damalige Präsident Trump versuchte mit gewaltsamen Methoden, die US-Regierung zu stürzen und sich im Amt zu halten.

Wenn man auch nur die Hälfte der Behauptungen des Leitartikels ernst nimmt, steht das amerikanische politische System kurz vor dem Zerfall. Was jedoch nicht gesagt wird und nicht gesagt werden kann: Die gesamte Reaktion der Demokratischen Partei auf Trumps Putschversuch ist Teil des Problems.

Die Times möchte ihre Leser glauben machen, dass ein fast erfolgreicher faschistischer (ein Wort, das sie nicht verwendet) Aufstand lediglich auf die verkommene Persönlichkeit von Donald Trump zurückzuführen sei. Wenn jedoch die Strafverfolgung von Trump zu weit verbreiteten Unruhen führen würde, wie die Times behauptet, dann geht das Problem weit über einen einzelnen Mann hinaus. Es müssen starke gesellschaftliche Kräfte am Werk sein.

Der Leitartikel enthält keinerlei Analyse der sozialen und politischen Konflikte, die sich in den letzten 30 Jahren verschärft haben und die zum Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie geführt haben. Wenn aber auf die wirklichen, zugrundeliegenden Ursachen dieses historischen Ereignisses nicht verwiesen wird, dann weil daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Diese wiederum sind für die amerikanische herrschende Klasse, für die die Times spricht, völlig inakzeptabel.

Was sind die wesentlichen Faktoren, die dem Zusammenbruch der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsformen in den Vereinigten Staaten zugrunde liegen?

Die wirtschaftliche Ungleichheit hat sich so weit entwickelt, dass es für den amerikanischen Kapitalismus unmöglich ist, das Profitsystem und die Anhäufung von unermesslichem Reichtum in den Händen einer winzigen Finanzoligarchie mit den verbleibenden Merkmalen der verfassungsmäßigen Legalität und demokratischen Herrschaftsformen in Einklang zu bringen. Die Wirtschaftskrise zeichnet sich nun durch eine schädliche Kombination aus galoppierender Inflation und den ersten Anzeichen eines weltweiten Konjunktureinbruchs, ausufernden Unternehmens- und Bankschulden und einem systematischen Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse aus.

Die weltweite Covid-19-Pandemie hat bisher mehr als 20 Millionen Menschen getötet, darunter mehr als eine Million Menschen in den Vereinigten Staaten. Diese hohe Zahl an Todesopfern ist das direkte Ergebnis von Entscheidungen der herrschenden Klasse, das menschliche Leben dem privaten Profit unterzuordnen.

Am bedrohlichsten ist, dass die großen imperialistischen Mächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, militärische Konflikte fördern, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Es droht jetzt ein direkter Konflikt mit Russland und China, beides Atommächte, mit Aussicht auf einen atomaren Dritten Weltkrieg.

Die Times führt das alles nicht an. Auch ihre Darstellung der Ereignisse vom 6. Januar selbst ist letztlich eine Beschönigung und Vertuschung.

Die Zeitung erwähnt nur am Rande Trumps Bemühungen, „Vertreter von Justiz-, Heimatschutz- und Verteidigungsministerium zu gewinnen, um Beamte in bestimmten Bundesstaaten davon zu überzeugen, die Wahl zu seinen Gunsten zu beeinflussen“. Ausgewichen wird der Frage, wie diese Beamten auf Trumps Appelle reagiert haben. Welche Rolle spielten diese Abteilungen und insbesondere das Militär bei Trumps Putschplänen? Was taten Top-Generäle und zivile Pentagon-Beamte am 6. Januar? Was war der Grund für die 199-minütige Verzögerung beim Einsatz der Nationalgarde von Washington, um das Kapitol gegen einen bewaffneten Mob zu verteidigen?

Ebenso erwähnt die Times nicht die weit verbreitete Unterstützung für Trumps falsche Behauptungen über „gestohlene Wahlen“ innerhalb der Führung der Republikanischen Partei. Dies schließt die Mehrheit ihrer Kongressabgeordneten ein, die das Ergebnis des Wahlleutekollegiums nicht bestätigen wollten – selbst nachdem die Angreifer aus dem Kapitol verschwunden waren. Stattdessen zitiert die Times „hochrangige republikanische Vertreter“, die vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses gegen Trump ausgesagt haben. Der Leitartikel steht damit im Einklang mit Präsident Bidens Appellen an seine „republikanischen Kollegen“, mit der jetzigen Regierung zusammenzuarbeiten. Dieselben „Kollegen“ hatten zuvor Bemühungen unterstützt, eine Wahl zu kippen, die Biden mit sieben Millionen Stimmen Vorsprung gewonnen hatte.

Die Ereignisse vom 6. Januar 2021 sind nicht in einem Vakuum entstanden. Sie sind das Ergebnis einer langwierigen Krise der amerikanischen Demokratie. Kritische Punkte in der Entwicklung bis heute sind die gestohlene Wahl im Jahr 2000 und die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Bush und dann unter Obama eingeführten polizeistaatlichen Maßnahmen. Letztere sind bis heute wirksam und stellen einen regelrechten Amoklauf gegen demokratische Rechte dar, der immer weitergeht. Jüngstes Beispiel für diese Entwicklung sind die Entscheidungen der Kabale von Faschisten und Theokraten am Obersten Gerichtshof.

Auch der 6. Januar ist kein Ausreißer im Weltgeschehen. Überall auf der Welt häufen sich die Angriffe auf die Demokratie und der Übergang zur Diktatur: in Brasilien, auf den Philippinen, in Sri Lanka und jüngst in Australien, wo bekannt wurde, dass Premierminister Scott Morrison 2021 heimlich die Kontrolle über fünf wichtige Ministerien übernommen hat, um als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie seine quasi-diktatorische Macht zu festigen. In Europa stehen Trump-Sympathisanten kurz davor, sowohl in Italien als auch in Großbritannien das Ruder zu übernehmen.

Der Leitartikel in der Times enthält eine Reihe von Verweisen auf die Zeit des Bürgerkriegs. Er enthält die pauschale Aussage, dass Trump beim Angriff auf die verfassungsmäßige Regierung und die Rechtsstaatlichkeit weiter gegangen ist als jeder andere Präsident je zuvor. Der amerikanische Bürgerkrieg hat seinen Ursprung jedoch nicht in den Persönlichkeiten von Jefferson Davis und Abraham Lincoln, sondern er entsprang einem „unüberwindbaren Konflikt“ zwischen zwei Gesellschaftsordnungen, der Sklavenarbeit und der freien Arbeit. Welcher soziale Konflikt liegt dem gegenwärtigen Ausbruch des Bürgerkriegs in Amerika zugrunde? Dazu schweigt die Times.

Wenn man ihren Leitartikel liest, kommt man nicht umhin zu vermuten, dass die Times weniger von der Sorge um das Schicksal der amerikanischen Demokratie getrieben ist als von einer anderen Angst. Sie fürchtet, dass eine Rückkehr von Trump und den Republikanern an die Macht die laufende Eskalation im Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland in der Ukraine durchkreuzen und massive soziale Konflikte in den Vereinigten Staaten auslösen könnte, die das kapitalistische System selbst bedrohen.

Die Times befürchtet, dass Trump bei einem Vorgehen des Justizministeriums gegen ihn seine rechte Anhängerschaft mobilisiert und „zivile Unruhen“ auslöst. Doch weder der Leitartikel noch die Demokratische Partei rufen zum Widerstand gegen solche Angriffe auf. Im Gegenteil, jener Flügel der Finanzaristokratie, der die Demokratische Partei unterstützt und zu dem auch die gut betuchten Redakteure gehören, hat weit mehr Angst vor den Folgen eines solchen Aufrufs als vor allem, was Trump tun könnte.

Die Times fordert eine Anklage gegen Trump, doch tatsächlich hat die Demokratischen Partei, für die die Times spricht, mit ihrer Politik die Tendenzen zu Autoritarismus und Diktatur verstärkt. Zentral ist dabei, dass die Hauptlinie der Regierungspolitik von Präsident Biden – der Krieg gegen Russland und die Vorbereitung eines Krieges gegen China – notwendigerweise zunehmend repressive Methoden gegen die Arbeiterklasse im eigenen Land beinhaltet.

Die Verteidigung der Demokratie ist vollkommen von dem Eintritt der Arbeiterklasse als unabhängige Kraft in das politische Leben der USA abhängig. Aber eine solche Mobilisierung kann sich nicht nur auf die Fragen der formalen Demokratie und die Verteidigung der Verfassungsnormen beschränken. Es geht unmittelbar darum, die sozialen Rechte der Arbeiterklasse durchzusetzen, Arbeitsplätze zu verteidigen, einen angemessenen Lebensstandard und soziale Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung zu erlangen. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn die Arbeiterklasse für ein sozialistisches und antikapitalistisches Programm kämpft.

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