Macron warnt bei Staatsbesuch in Washington vor „Spaltung“ des Nato-Bündnisses

Der dreitägige Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Washington offenbarte die erbitterten wirtschaftlichen und geopolitischen Rivalitäten, die die Nato angesichts des Kriegs gegen Russland in der Ukraine zerreißen.

Am Mittwoch griff Macron öffentlich das 430 Milliarden Dollar schwere Inflationsbekämpfungsgesetz (Inflation Reduction Act, IRA) an, das dieses Jahr vom US-Kongress verabschiedet wurde. Mit etwa 370 Milliarden Dollar der IRA-Mittel wird die Produktion von grünen Technologien in den USA oder Nordamerika – aber nicht in Europa – subventioniert, mit denen die Konzerne auf Elektroautos umstellen, modernere Elektronikprodukte herstellen und Treibhausgasemissionen reduzieren sollen. Macron warnte, eine derart protektionistische Politik, die die europäischen Produkte von den US-Märkten auszuschließen droht, könne die Nato „spalten“.

Der französische Präsident Emmanuel Macron mit der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im US-Kapitol, 1. Dezember 2022 [AP Photo/J. Scott Applewhite]

Am Donnerstag forderte Macron jedoch bei einer freundschaftlichen Pressekonferenz mit Biden die USA auf, gemeinsam mit Frankreich in der Ukraine als „Waffenbrüder“ zu kämpfen. Er sagte kein Wort über die Auswirkungen des Kriegs, der in diesem Winter in Europa eine katastrophale Energiekrise auslösen könnte, und unterzeichnete eine gemeinsame Erklärung, mit der sich Frankreich hinter Bidens aggressiven Kurs gegen Russland und China stellt.

Macrons Auftritt muss als Warnung vor der tödlichen politischen und wirtschaftlichen Krise des Weltkapitalismus verstanden werden. Tief verwurzelte wirtschaftliche Konflikte, die im 20. Jahrhundert zweimal zu Weltkriegen zwischen den USA und Deutschland geführt haben und heute durch den Klimawandel und die Corona-Pandemie verschärft werden, treten im politischen Leben offen zutage. Zudem finden die Nato-Mächte keine anderen Weg mehr, ihre Differenzen zu übertünchen, als die Eskalation militärischer Drohungen gegen atomar bewaffnete Großmächte.

Bei seiner Ankunft in Washington machte Macron deutlich, dass sein Besuch Teil des Kampfs zwischen amerikanischen und europäischen Kapitalisten um globale Märkte ist. Bei einem Mittagessen im US-Kongress am Mittwoch kritisierte er das Inflationsbekämpfungsgesetz (IRA) in Bezug auf das Klima und die Artenvielfalt und erklärte: „Das ist für unsere Unternehmen super-aggressiv.“

Macron fügte hinzu: „Ich will nicht zum Markt für amerikanische Produkte werden, weil ich die gleichen Produkte wie Sie selbst habe. Ich habe eine Mittelschicht, die arbeiten muss, und Menschen, die Arbeit finden müssen. Und die Folge des IRA ist, dass Sie Ihre Probleme lösen und dabei meine verschlimmern. Entschuldigen Sie, dass ich so direkt bin.“

Später am Mittwoch äußerte sich Macron in der französischen Botschaft in Washington erneut über das Inflationsbekämpfungsgesetz: „Die Entscheidungen, die getroffen wurden... sind Entscheidungen, die den Westen spalten werden.“

Macron erklärte, die zunehmenden Kriegsdrohungen der USA gegen China, vor allem wegen Taiwan, richteten sich ebenfalls gegen europäische Interessen: „Wir sollten uns nichts vormachen, hier gibt es ein Risiko: Die Vereinigten Staaten kümmern sich zuallererst um sich selbst – das ist normal, wir tun das auch – und dann um ihre Rivalität mit China. Und dabei werden Europa, und damit Frankreich, in gewisser Hinsicht als Variable behandelt, mit der sie ihre Politik justieren können.“

Trotz der zunehmenden Konflikte zwischen Berlin und Paris sprach Macron auch für einflussreiche Fraktionen der herrschenden Klasse in Deutschland, der Hegemonialmacht der Europäischen Union. Das Nachrichtenmagazin Spiegel geht in einem Artikel mit dem Titel „Warum ein Handelskrieg zwischen USA und EU droht“ auf einige dieser Themen ein.

Der Spiegel schreibt, der IRA knüpfe an die Drohungen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump mit massiven US-Strafzöllen gegen deutsche Autos an und „schreibt auch vor, dass [subventionierte] Produkte aus nordamerikanischer Produktion stammen müssen – und erinnert damit verdächtig an die ,America First‘-Strategie. Europäische Politiker blicken daher mit Grauen über den Atlantik. ... Selbst der Kanzler zeigt sich verärgert. Olaf Scholz warb auf seiner jüngsten Asienreise unablässig für ,mehr Freihandel‘ und ,den großen Fortschritt‘ der Globalisierung. Weder Stoßrichtung noch Zeitpunkt der US-Initiative passen da zu seinen schönen Worten.“

Der Spiegel weist auf die Wahrscheinlichkeit einer Abwanderung der Auto-, Batterie- und Hightech-Produktionsstätten von Europa nach Amerika hin: „Europa stehe nicht mehr nur mit China in einem Systemwettbewerb, sondern in gewissem Maße auch mit den USA, sagt Joe Kaeser, langjähriger Siemens-Chef... Wenn man sehe, wie die US-Regierung mit dem Inflation Reduction Act Investitionen in Amerika fördere, müsse man sich nicht wundern, dass es ,eine Standort- und Kapitalflucht aus Europa und in den Dollar‘ gebe.“

Die Abwanderung der Produktionsstätten aus Europa wird durch die zunehmende Energiekrise in Folge des US-Kriegs gegen Russland in der Ukraine beschleunigt. Washington hat von der EU gefordert, die russischen Erdgasimporte einzustellen, und Biden hat Scholz bei einem Besuch in Washington gewarnt, die US-Regierung wisse, wie man EU-Importen von russischem Gas über die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee „ein Ende bereitet“. Im September kam es prompt zu zwei gewaltigen Explosionen an den beiden Nord-Stream-Pipelines. Die Verantwortlichen dafür sind noch nicht identifiziert, doch der Vorfall hat sich als sehr lukrativ für den US-Imperialismus erwiesen.

Die Energiekosten in Europa sind explodiert, während US-Unternehmen Wucherpreise für Flüssiggas als Ersatz für das russische Gas verlangen. In diesem Sommer sind die amerikanischen Flüssiggasexporte nach Europa im Vergleich zum Vorjahr um das 15-Fache gestiegen, und nach dem Bombenanschlag auf Nord Stream sind sie nochmals in die Höhe geschossen.

Doch der Nato-Krieg in der Ukraine droht nicht nur, europäische Firmen mit hohem Energieverbrauch in den Bankrott zu treiben. Zusammen mit dem globalen Anstieg der Preise für Lebensmittel, Energie und andere wichtige Produkte setzt er eine weitere katastrophale soziale Krise für die europäische Arbeiterklasse in Gang.

Als Macron in Washington eintraf, berichtete Le Monde über Anweisungen seiner Regierung an die Polizei in ganz Frankreich, sich auf Stromabschaltungen vorzubereiten. Der Plan sieht rollierende Blackouts vor, die sechs Millionen Menschen (neun Prozent der französischen Bevölkerung) gleichzeitig betreffen, hauptsächlich von 8 bis 13 Uhr und von 18 bis 20 Uhr. U-Bahnen und Straßenbahnen würden stillgelegt und Schulen, ohne Heizung und Licht, geschlossen werden. Auch die Handynetze und die Notfallnummern von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten könnten zusammenbrechen.

Le Monde fügte hinzu, die Macron-Regierung bereite sich auch auf ein „Blackout-Szenario“ vor, d.h. einen längeren Zusammenbruch des Stromnetzes, „glaubt aber nicht daran“.

Unter diesen Umständen ist Macrons Versprechen, die französische Bevölkerung werde Biden als „Waffenbrüder“ in Kriegen auf der ganzen Welt dienen, politisch kriminell. Macron hofft zweifellos, dass die europäischen Finanzaristokraten auf diese Weise einen Anteil an der Beute aus der Plünderung Russlands, Chinas und der ganzen Welt durch die Nato erhalten werden. Die Kriminalität dieser Kalkulation wird verstärkt durch Macrons offene Missachtung der Auswirkungen auf die Gesundheit und die Lebensgrundlage der arbeitenden Menschen in Frankreich und ganz Europa.

Der einzige Weg, Widerstand gegen diese Politik zu leisten, ist der Aufbau einer internationalen Bewegung unter Jugendlichen und Arbeitern, in der die Streiks gegen Inflation in Amerika, Europa und der Welt mit den Kämpfen gegen imperialistischen Krieg und das kapitalistische System vereint werden.

Die Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991 hat es der Nato nicht nur ermöglicht, blutige Kriege in rohstoffreichen Staaten wie dem Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen und Syrien zu führen. Sie hat Eurasien auch den US-amerikanischen und europäischen Konzernen geöffnet und die geopolitischen Rivalitäten innerhalb des Weltkapitalismus deutlich verschärft. Washington benutzt diese Kriege nicht nur, um schwächere und ärmere Länder auszuplündern, sondern auch, um seinen imperialistischen Rivalen in Europa den Versorgungshahn abzudrehen.

Arbeiter können nicht auf nationaler Ebene Widerstand gegen den imperialistischen Kriegskurs leisten, indem sie die imperialistischen Rivalen Amerikas unterstützen. Macrons Entscheidung, auf Zeit zu spielen und sich zumindest vorläufig zu Washingtons Juniorpartner zu machen, zeigt nur, dass sich der Kriegs-, Austeritäts- und Aufrüstungskurs der europäischen Mächte vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus nicht grundlegend von dem Washingtons unterscheidet.

Arbeiter und Jugendliche, die einen wirklich revolutionären Kampf gegen den Krieg führen wollen, sind eingeladen, am 10. Dezember am Webinar der International Youth and Students for Social Equality gegen den Krieg in der Ukraine teilzunehmen.

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