Pflegepersonal des britischen NHS im größten Streik seiner 75-jährigen Geschichte

Hunderttausende britische Pflegekräfte befinden sich im größten Konflikt mit dem öffentlichen Gesundheitssystem, dem National Health Service (NHS), seit dieses vor 75 Jahren gegründet wurde. An dem zweitägigen Streik der Gewerkschaft Royal College of Nursing (RCN) haben sich am Montag und Dienstag fast 12.000 Mitarbeitende aus Ambulanzdiensten und Notfallsanitätseinrichtungen beteiligt.

Das Pflegepersonal hatte seit Dezember im Rahmen unterschiedlicher, langwieriger Tarifverhandlungen getrennt gestreikt, aber am Montag wurden zum ersten Mal koordinierte Aktionen durchgeführt.

Streikendes Pflegepersonal im Guys Hospital in London, 6. Februar 2023

Die NHS-Beschäftigten wehren sich gegen eine von der Regierung auferlegte Lohnerhöhung in Form einer Einmalzahlung in Höhe von 1.400 Pfund rückwirkend zum letzten April, was einer Gehaltssteigerung von nur 4 Prozent entspricht. Dies ist weniger als die Hälfte der Inflationsrate bei den Verbraucherpreisen (10,5 %) und liegt sogar noch deutlich niedriger, wenn man den etwas genaueren Wert bei der Preissteigerung im Einzelhandel (über 13 %) zugrunde legt.

Das Krankenpflegepersonal streikt in 73 NHS-Standorten in England, eine Zunahme gegenüber den 44 Einrichtungen, die im Dezember bestreikt wurden, und den 55 im Januar. Einige Standorte umfassen mehrere Krankenhäuser, und dort befinden sich dann Hunderte Pflegekräfte im Ausstand.

Wie bei jedem NHS-Streik wird die Notfallversorgung durch Pflege- und Sanitätspersonal sichergestellt. Das Personal der GMB-Gewerkschaft streikte in sieben von zehn englischen Ambulanzdiensten sowie im nationalen walisischen Dienst.

Tausende von Krankenwagenbesatzungen der Gewerkschaft Unison wollen am Freitag die Arbeit niederlegen. Am selben Tag streiken 4.200 NHS-Physiotherapeuten an 100 Standorten in England.

Obwohl dies der bisher größte Streik unter den mehr als eine Million NHS-Beschäftigten ist, setzen die Gewerkschaften im Gesundheitssektor weiterhin alles daran, die Beschäftigten auf regionaler Ebene und grenzüberschreitend zu spalten.

Ursprünglich sollten in dieser Woche nicht nur das Krankenpflegepersonal in England streiken, wo der NHS für über 55 Millionen Menschen zuständig ist, sondern auch Tausende von Krankenpfleger sowie 1.500 Sanitäter in den Ambulanzfahrzeugen in dem kleineren Ableger des NHS in Wales. Die Aktion des walisischen Krankenpflegepersonals wurde jedoch am Freitag abgesagt, da sich die Gewerkschaften bereit erklärt hatten, über einen von der walisischen Labour-Regierung vorgeschlagenen Tarifvertrag abzustimmen. Die Vereinbarung sieht für das laufende Haushaltsjahr eine mickrige Gehaltserhöhung von drei Prozent vor, und über den Gesamtzeitraum werden nur sieben Prozent angeboten.

Nur 1,5 Prozent werden konsolidiert, der Rest besteht aus einer Einmalzahlung. Damit liegt die Vereinbarung mehr als 12 Prozentpunkte unter der ursprünglichen Lohnforderung von 19,2 Prozent, für welche die Beschäftigten bei der Abstimmung im vergangenen Jahr gestimmt hatten.

Die Gewerkschaft Unite war nicht in der Lage, bei den Gesprächen mit dem walisischen Gesundheitsminister Eluned Morgan am Sonntag in letzter Minute ihren eigenen schlechten Deal für die Mitglieder des Rettungsdienstes zu erreichen. Generalsekretärin Sharon Graham erklärte am Montag: „Wir sind nahe dran, aber wir müssen uns bei den Löhnen noch etwas mehr bewegen, anstatt nur eine einmalige Zahlung zu leisten.“ Damit ist klar, wie nahe die Unite einem Abschluss zu Ungunsten der Beschäftigten gekommen war.

Der Arbeitskampf der NHS-Beschäftigten wird von der Gewerkschaftsbürokratie im Keim erstickt. Den Verhandlungen in Wales gingen solche in Schottland voraus, wo sich die Gewerkschaften für eine Vereinbarung stark machten, die von der schottischen Regierung aus nationalistischer SNP und Grünen ausgearbeitet worden war. Diese sieht eine Lohnerhöhung um nur 7,5 Prozent vor, um weitere Streiks zu verhindern.

Die SNP-Regierung hat dann die Vereinbarung für alle NHS-Beschäftigten in Schottland durchgesetzt, gegen den Widerstand der Mitglieder von GMB, RCN und Royal College of Midwives. Die Gewerkschaft RCN teilte am Montag mit, dass die Verhandlungen in Schottland über den Vertrag für das laufende Jahr fortgesetzt werden. Sie versicherte, keine weiteren Streiks zu planen.

In derselben Pressemitteilung bot die RCN-Vorsitzende Pat Cullen an, die Streiks in England auf der Grundlage einer ähnlichen Vereinbarung zu beenden. An den konservativen britischen Premierminister Rishi Sunak gerichtet, sagte sie: „Ihre Regierung wirkt zunehmend isoliert, weil sie sich weigert, die Gespräche über die NHS-Gehälter für 2022-23 wieder aufzunehmen ... was die Streiks der Pflegekräfte beenden würde.“

Die Gewerkschaftsbürokratie sorgte auch dafür, dass sich die Beschäftigten des Gesundheitswesens in der vergangenen Woche nicht den Streiks anschlossen, die zeitgleich von 500.000 Lehrern, Universitätsmitarbeitern, Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und Bahnangestellten stattfanden. Und das war die einzige nennenswerte koordinierte Aktion, die die Gewerkschaften in der gesamten Streikwelle, die immerhin bis zum vergangenen Sommer zurückreicht, bisher organisiert haben.

Die Regierung hat am Montag ihre Weigerung bekräftigt, die Löhne und Gehälter der Arbeiter zu erhöhen. Der britische Gesundheitsminister Steve Barclay erklärte, dass ein auf das letzte Jahr bezogenes Angebot von einmalig vier Prozent schon zu viel sei. Er sagte: „Ich halte es nicht für richtig, zum letzten Jahr, zum letzten April zurückzugehen und also rückwirkend zu schauen. Wir sollten nach vorn blicken, auf die Überprüfung der Löhne und Gehälter jetzt, und konstruktiv mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten.“

Mitglieder der Socialist Equality Party sprachen mit NHS-Beschäftigten im Streik. Sie sind aufgebracht über Tarifvereinbarung, die unter der Inflationsrate liegen, und über ihre entsetzlichen Arbeitsbedingungen. Die Enttäuschung über die Gewerkschaften wächst.

Carlos, ein Rettungssanitäter in Bradford, sagt: „Wir haben 10 bis 13 Jahre Sparrunden hinter uns, mit Kürzungen hier und da und überall. Wenn man sich die Gehälter in den letzten 10 Jahren ansieht, dann sind die Löhne des Ambulanzpersonals um 25 Prozent gesunken, und die Inflation wirkt sich bei uns massiv aus. Wir haben Mitarbeiter, die Lebensmittelspenden annehmen, und wir haben unsere eigene Lebensmittelspende hier auf der Station, weil sich unsere Mitarbeiter nicht einmal die einfachsten Dinge wie Tee, Milch und Brot mehr leisten können.“

Carlos fuhr fort: „Ich denke, die Forderung nach 19 Prozent ist realistisch. Nicht nur die Krankenpfleger, sondern auch Sanitäter, Lehrkräfte und Postangestellte sind im Streik. Es gibt so viele Menschen, die gemeinsam auf die Straße gehen, denn es hat zehn Jahre lang Sparmaßnahmen gegeben. Und wenn wir uns nicht wehren, wird es noch schlimmer. Sogar die Ärzte wehren sich, wollen streiken. Ich denke, ein Generalstreik hätte eine große Wirkung: wir alle zusammen.“

Er sagte auch: „Die Gewerkschaften sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Leider haben sich Gewerkschaften und Regierungen in gewisser Weise miteinander vermischt, und das ist in vielen anderen Ländern auch der Fall. Die Gewerkschaften stehen eher auf der Seite der Arbeitgeber als auf der Seite der Arbeiter.“

Ethnea, eine Krankenpflegerin am St. Thomas‘ Hospital in London, sagt: „Seit 10 Jahren erfährt das Pflegepersonal keine Wertschätzung. Und das habe ich gespürt. Wir haben ständig Lohnerhöhungen unter Inflationsniveau, und man fühlt sich so unter Wert.“ Ihre Kollegin Rebekah fügt hinzu: „Die Schuld liegt bei der Labour Party [Regierung 1997-2010], sie hat die Kopplung der Lohnerhöhungen an die Inflation abgeschafft.“

Annie, eine frisch ausgebildete Krankenpflegerin im Christie-Krankenhaus in Manchester, sagt: „Es ist für mich nicht ideal, wenn ich im Krankenhaus auf der Krebsstation neun oder zehn sehr kranke Patienten zugewiesen bekomme. Das wird künftige junge Menschen abschrecken, den Pflegeberuf zu ergreifen. Die Regierung versucht, die tatsächlichen Gründe für die Vorgänge im NHS zu verschleiern. Wir sollen guten Willen zeigen und weitermachen. Aber das geht jetzt zu Ende, denn die Patienten sind nicht sicher.

Ich bin auch der Meinung, dass die Labour Party nicht stark genug zurückgeschlagen hat, und dass die Öffentlichkeit mit all den Streiks im ganzen Land endlich anfängt, das zu begreifen. Wir haben im ganzen Land Kundgebungen abgehalten, aber im öffentlichen Sektor müssen alle zusammenkommen, Feuerwehrleute, Krankenpfleger, Postangestellte, Bahnangestellte, alle. Ich bin mit einem Generalstreik einverstanden. Die Art und Weise, wie der öffentliche Sektor geführt wird, muss sich grundlegend ändern.“

SEP-Mitglieder verteilten Flugblätter mit einer Erklärung zum Arbeitskampf der NHS-Beschäftigten. Darin heißt es: „NHS-Beschäftigte brauchen entschlossene, kampfbereite Organisationen, nicht solche, die dazu beitragen, Lohnkürzungen und Sparmaßnahmen der Regierung durchzusetzen. NHS FightBack, eine Initiative der Socialist Equality Party, fordert den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees in jeder Einrichtung, um den Gewerkschaftsapparaten den Kampf zur Verteidigung des NHS und für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aus der Hand zu nehmen.“

Weiter heißt es: „Der Kampf für einen existenzsichernden Lohn im NHS erfordert die Einheit der mehr als eine Million Beschäftigten im Gesundheitswesen mit den Millionen anderer Beschäftigter, die im gesamten öffentlichen und privaten Sektor für die Verteidigung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen. Dieser Kampf muss auf der Grundlage eines sozialistischen Programms geführt werden: Es braucht massive Finanzmittel, die finanziert werden, indem die Superreichen besteuert werden und die Arbeiter die Kontrolle über die großen Konzerne, auch die Pharmakonzerne, übernehmen. Die medizinische Forschung und die Arzneimittelproduktion müssen von den Zwängen des privaten Profitstrebens befreit werden.“

Loading