Perspektive

Selenskyjs Kriegsvisite in Berlin und Deutschlands neuer Drang nach Osten

Am Sonntagvormittag wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Rahmen seiner Europareise mit militärischen Ehren vor dem Kanzleramt in Berlin empfangen. Die Kulisse mit mehreren Dutzend uniformierten und bewaffneten Soldaten war martialisch. Nach einem Gespräch und einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) flogen die beiden Regierungschefs unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen gemeinsam nach Aachen, wo Selenskyj den Karlspreis erhielt.

Bundeskanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Empfang mit militärischen Ehren vor dem Kanzleramt in Berlin [AP Photo/Matthias Schrader]

Selenskyjs Besuch in Berlin markiert ein neues Stadium des Eingreifens des deutschen Imperialismus in den Ukrainekrieg. De facto befindet sich Deutschland wieder im Krieg mit Russland und folgt damit einer dunklen Tradition. Bereits im 20. Jahrhundert versuchte der deutsche Imperialismus zweimal, Russland militärisch zu unterwerfen, und beging dabei fürchterliche Verbrechen. Nun versucht es die herrschende Klasse ein drittes Mal. Wie in den beiden vorangegangenen Kriegen ist die Ukraine dabei ein zentrales Schlachtfeld. Und erneut stützt sich der deutsche Imperialismus auf rechte ukrainische Nationalisten.

Die offiziellen Phrasen über die Verteidigung von „Freiheit“ und „Demokratie“ sind nichts als Propaganda. Jeder, der historisch nicht völlig naiv ist, weiß, dass es wieder um die alten Fragen geht. Den erneuten „Drang“ des deutschen Imperialismus nach Osten und einen dritten „Griff nach der Weltmacht“. Niemand sollte sich Illusionen machen. Den deutschen Panzern werden am Ende auch deutsche Soldaten folgen und sie werden nicht an der russischen Grenze halt machen.

Die Mobilisierung der deutschen Militärmaschinerie ist bereits jetzt die umfassendste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Tag vor Selenskyjs Ankunft hatte die Bundesregierung eine massive Aufstockung ihrer Militärhilfe für die ukrainische Armee verkündet. „Deutschland bereitet sein bislang größtes militärisches Unterstützungspaket für die Ukraine vor“, schrieb das Auswärtige Amt auf Twitter.

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„Es umfasst Artillerie, Luftverteidigung, gepanzerte Kampffahrzeuge und militärtechnische Kapazitäten im Wert von über 2,7 Milliarden Euro“. Konkret gehe es u.a. um 30 weitere Kampfpanzer vom Typ Leopard 1 A5, 20 Schützenpanzer Marder, 18 Haubitzen, 100 gepanzerte Kampffahrzeuge, 4 Luftabwehrsysteme IRIS-T SLM, 12 IRIS-T SLS-Werfer plus die dazugehörigen Raketen und Artillerie-Munition.

Darüber hinaus plant die deutsche Rüstungsindustrie den Bau von Panzern und anderer Waffensysteme direkt in der Ukraine. „Die Verträge sind unterzeichnet“, frohlockte Rheinmetall-Chef Armin Papperger. Rheinmetall habe ein Joint Venture zur Reparatur und dem Bau von Panzern mit dem ukrainischen Staatskonzern Ukroboronprom gegründet. Die Zusammenarbeit bei Panzern sei dabei „nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Kooperation“, schreibt das Handelsblatt. In den kommenden Tagen sollen „die Verträge für zwei weitere Gemeinschaftsfirmen unterzeichnet werden – für die Bereiche Munition und Luftverteidigung“.

Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Selenskyj beschwor Scholz den militärischen Schulterschluss mit Kiew. „Die enge Verbindung wird die Beziehungen unserer beiden Länder zueinander auf Jahrzehnte hinaus prägen“, erklärte er. „Im Angesicht des Schreckens, des himmelschreienden Unrechts, rücken wir noch enger zusammen. Wir unterstützen die Ukraine nicht nur humanitär, sondern auch politisch, finanziell und natürlich auch mit Waffen.“

Scholz prahlte mit dem Ausmaß der bisher erfolgten Militärhilfe und stellte klar, dass all dies erst der Anfang ist. „Seit Beginn des Krieges beläuft sich allein unsere bilaterale Unterstützung der Ukraine auf 17 Milliarden Euro, und wir haben die Weichen dafür gestellt, dass diese Hilfe auch in den nächsten Jahren sichergestellt wird.“ Deutschland sei „nach den USA jetzt der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine“ und man werde „das auch weiterhin bleiben.“ Das mache „die Größe des Pakets“ deutlich. Man werde „die Ukraine so lange unterstützen, wie es notwendig ist.“

Das erklärte Ziel Berlins ist die vollständige Niederlage des russischen Militärs in der Ukraine. Kiew verlange „zu Recht, und mit unserer völligen Unterstützung, dass [ein Frieden] nicht bedeuten kann, einfach den Krieg einzufrieren und dass von russischer Seite ein Diktatfrieden formuliert wird,“ erklärte Scholz.

Um ihrerseits einen „Siegfrieden“ durchzusetzen, führen die imperialistische Mächte zunehmend einen direkten Krieg gegen die Atommacht Russland. Es sei „völlig normal“ in so einer militärischen Auseinandersetzung, „dass auch der Angegriffene ins gegnerische Territorium vorgeht, um beispielsweise Nachschubwege zu unterbinden“, erklärte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) jüngst. Das ist ein Blankoscheck für ukrainische Angriffe auf Russland und kommt einer direkten Kriegserklärung an Russland nahe.

Öffentlich gerechtfertigt wird die Kriegseskalation, die immer akuter die Gefahr eines atomaren Weltkriegs heraufbeschwört, mit der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen „Angriffskrieg“. Auch das ist nichts als Propaganda. Tatsächlich ist in der Ukraine nicht Moskau der Hauptaggressor, sondern die imperialistischen Mächte. Mit der langjährigen militärischen Einkreisung Russlands hat die Nato die reaktionäre Intervention des Putin-Regimes bewusst provoziert. Nun eskaliert sie den Konflikt immer weiter, um das rohstoffreiche Land zu unterwerfen und sich auch die Ukraine einzuverleiben.

Damit knüpft vor allem der deutsche Imperialismus an seine historischen Großmachtpläne an. Schon im Ersten Weltkrieg gehörte die Kontrolle der rohstoffreichen und geostragisch zentralen Ukraine – neben der Herstellung der deutschen Hegemonie über „Mitteleuropa“ – zu den erklärten Kriegszielen des Kaiserreich. Der Historiker Oleh S. Fedyshyn schreibt dazu in seinem Buch „Deutschlands Drang nach Osten und die ukrainische Revolution 1917-1918“:

Zunächst hatten die Deutschen nicht vor, über Kiew hinauszugehen. Dann beschlossen sie, bis nach Charkow vorzustoßen. Bald darauf überzeugte die Erkenntnis, dass die Kohle des Donezbeckens für den Betrieb der ukrainischen Industrie und den Transport absolut notwendig war, die Deutschen davon, dass sie auch in dieses Gebiet vordringen mussten, um die Region vor den Bolschewiken sicher zu machen. Schließlich dehnten die Deutschen ihre Herrschaft noch weiter nach Osten aus, indem sie etwa ein Drittel des Dongebiets besetzten und sich schließlich in Georgien niederließen. ... Während die politischen und rechtlichen Verhältnisse in der Ukraine unklar blieben, war eine Sache unbestritten: Deutschland war fest entschlossen, seine Ausbeutung der ukrainischen Wirtschaft zu intensivieren. Dies würde zwangsläufig zu einer Vertiefung des politischen Engagements des Reichs nicht nur in der Ukraine, sondern im gesamten Osten führen.

Im Zweiten Weltkrieg knüpfte Hitler nahtlos an diese Politik an. Vor allem der deutsche Historiker Fritz Fischer zeigte auf, dass eine direkte Linie von der deutschen Besetzung der Ukraine im Ersten Weltkrieg zu den Nationalsozialisten führte. Einer der Mitbegründer des Nazi-Parteiblatts Völkischer Beobachter, dessen politische Vorstellungen auch in Hitlers „Mein Kampf“ einflossen, war der ehemalige deutsche Statthalter in Kiew, „Hetman“ Skoropadsky. Im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, der zum Holocaust führte und mindestens 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete, spielte die Eroberung der Ukraine eine zentrale Rolle. „Die geopolitisch-strategische und ökonomische Zielsetzung (‚Nach Ostland wollen wir reiten!‘) ist Kontinuität des wilhelminisch-alldeutschen Expansionismus“, erklärte Fischer in seinem Buch „Hitler war kein Betriebsunfall“.

Nun verfolgt der deutsche Imperialismus erneut das Ziel, die Ukraine und andere Länder, die einst der Sowjetunion und dem Russischen Reich angehörten, aus dem Einflussbereich Moskaus zu lösen und unter die Kontrolle der von Deutschland dominierten Europäischen Union zu bringen. Die Verleihung des Karlspreises an Selenskyj markiere „einen neuen Auftakt – den Auftakt für unser weiteres Zusammenwachsen in Europa, gemeinsam mit der Ukraine, mit den Staaten des westlichen Balkans, mit Moldau und perspektivisch auch mit Georgien“, erklärte Scholz am Sonntag in Aachen.

Mit anderen Worten: Hinter der deutschen Kriegsoffensive stehen im Kern die gleichen imperialistischen Gelüste wie damals. Seit der Wiedervereinigung arbeitet die herrschende Klasse systematisch daran, Europa unter deutscher Führung zu organisieren, um seine globalen geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen – und das zunehmend mit kriegerischen Mitteln. Bereits bei der blutigen Aufspaltung Jugoslawien und beim Nato-Bombardement Serbiens spielte der deutsche Imperialismus eine zentrale Rolle. Es folgten Kriegseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan, im Nahen Osten und in Afrika. In Bezug auf Russland treibt Berlin nicht nur der Hunger nach den gewaltigen Rohstoffvorkommen des Landes, sondern auch der Wunsch nach Vergeltung für die vergangenen Kriegsniederlagen.

Während alle Bundestagsparteien – allen voran die nominell linken – den Kriegs- und Aufrüstungskurs vorantreiben, hat die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) die Rückkehr des deutschen Militarismus von Anfang an bekämpft und bereits 2014 – kurz nach dem anti-russischen Putsch in der Ukraine – in einer Resolution gewarnt:

Die Geschichte meldet sich stürmisch zurück. Knapp 70 Jahre nach den Verbrechen der Nazis und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg knüpft die herrschende Klasse Deutschlands wieder an die imperialistische Großmachtpolitik des Kaiserreichs und Hitlers an. Das Tempo, mit der die Kriegshetze gegen Russland eskaliert, erinnert an den Vorabend des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. In der Ukraine arbeitet die Bundesregierung mit den Faschisten von Swoboda und dem Rechten Sektor zusammen, die in der Tradition von Nazi-Kollaborateuren aus dem Zweiten Weltkrieg stehen. Sie benutzt das Land, das sie in beiden Weltkriegen besetzt hatte, um erneut gegen Russland vorzugehen.

Dieser Prozess ist weit fortgeschritten. Deutschland und die anderen imperialistischen Mächte wetteifern um die Bewaffnung der ukrainischen Armee und die in ihr agierenden faschistischen Kräfte, um Russland zu besiegen. Dabei ist klar, dass die Rückkehr Deutschlands als aggressive Kriegsmacht auch die Spannungen zwischen den europäischen Mächten und vor allem zwischen Deutschland und den USA verschärfen wird. Vom Standpunkt der deutschen Bourgeoisie ist der Kampf um die Vorherrschaft in Europa und über die Ukraine und Russland letztlich die Vorbereitung einer erneuten Konfrontation mit den USA.

Die einzige Möglichkeit, die Katastrophe eines vernichtenden dritten Weltkriegs abzuwenden, ist der Aufbau einer sozialistischen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse – einschließlich der ukrainischen und russischen – gegen Krieg und dessen Ursache: den Kapitalismus. Schließt euch noch heute der SGP und ihren internationalen Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale an und beteiligt euch an diesem Kampf.

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