Deutsche Bahn: Arbeiter fordern Rücktritt des EVG-Vorstands und Offenlegung des Schlichtungsabkommens

Vergangene Woche legte die Schlichtungs-Kommission im Bahn-Tarifkampf ihr Ergebnis vor. Unter den Mitgliedern der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) herrscht darüber Empörung. Die vorgeschlagenen Lohnerhöhungen und die Tariflaufzeit unterscheiden sich nicht merklich vom letzten Angebot der Arbeitgeber und stellen eine massive Reallohnsenkung dar. Wird dieser Schlichtungsspruch angenommen, verdient ein Bahnarbeiter bei Auslaufen des Vertrags im Frühjahr 2025 real im Durchschnitt rund 15 Prozent weniger als im September 2020.

Offenbar gibt es noch weitere Verschlechterungen, die aber von der EVG strikt unter Verschluss gehalten werden. Denn vom 140-seitigen Schlichtungsabkommen, das die EVG-Verhandlungsführer hinter verschlossenen Türen mit dem Bahnvorstand ausgeheckt haben, gibt die Gewerkschaft lediglich die Inhalte bekannt, die sie selbst ausgewählt hat.

Diese Praxis, nur so genannte „Highlights“ zu veröffentlichen, auf die auch Gewerkschaften in den USA und anderen Ländern zurückgreifen, um Armutslöhne durchzusetzen, wird von vielen Arbeitern kritisiert.

Michael H., der offensichtlich Einblick in 73 Seiten des Abkommens hat, die die EVG kurz hochgeladen hatte, um sie dann wieder vom Netz zu nehmen, schreibt: „Welche Sauereien stehen noch in den Unterlagen? Ist es bekannt, dass die Kündigungsfrist des Arbeitnehmers zum Teil von vier Wochen auf sechs Monate verlängert wird? Ist es bekannt, dass die 410 Euro bei den Betrieben, die 100 Prozent Weihnachtsgeld bekommen, um den 13. Teil gekürzt wird und somit nur 378 Euro übrigbleiben? Das sind nur zwei Themen, die ich auf die Schnelle gefunden habe, ich bin sicher, da sind noch mehr drin. Wer da jetzt noch zustimmt, hat einfach nicht verstanden, was die EVG mit uns macht.“

Am Dienstag verkündete der künftige EVG-Verhandlungsführer Frank Hauenstein bei einer Mitgliederkonferenz der Gewerkschaft, dass man die restlichen Inhalte des Schlichtungsabkommens erst nach Abschluss der Urabstimmung veröffentlichen werde. Der Gewerkschaft seien Hauenstein zufolge „die Hände gebunden, was das Weitertragen von Informationen angeht“.

Wenn es nach der EVG geht, soll also das wirtschaftliche Schicksal von hunderttausenden Eisenbahnern und ihren Familien in einer Hinterzimmer-Verschwörung zwischen den ehemaligen Regierungspolitikern Thomas de Maizière (CDU, für die Deutsche Bahn) und Heide Pfarr (SPD, für die EVG) sowie den Spitzen von EVG und DB ausgemacht werden.

Der Bundesvorstand der EVG hat dem Schlichtungsergebnis bereits seine Empfehlung ausgesprochen. Um diese Empfehlung zu überstimmen und das Schlichtungsergebnis abzulehnen, müssten in der Urabstimmung, die Ende der Woche beginnt und bis Ende August läuft, 75 Prozent der Bahnbeschäftigten mit „Nein“ stimmen.

Mit Unterstützung der World Socialist Web Site haben Tramfahrer, Bahnbeschäftigte und andere Verkehrsarbeiter ein Aktionskomitee gegründet, das alle EVG-Mitglieder aufruft, genau das zu tun und der EVG das Verhandlungsmandat zu entziehen. Stattdessen müssen bei der Bahn und allen anderen Verkehrsunternehmen Aktionskomitees aufgebaut werden, in denen Arbeiter ihren Kampf über alle gewerkschaftlichen und nationalen Grenzen hinweg organisieren können.

Als die EVG nach dem „Scheitern“ der Tarifverhandlungen Ende Juni die Urabstimmung ankündigte, geißelte das Aktionskomitee in einem Statement das „doppelte Spiel“ der Gewerkschaftsbürokratie und warnte, dass die EVG hinter dem Rücken ihrer Mitgliedschaft einen Ausverkauf vorbereite. Das vom EVG-Vorstand unterstützte Schlichtungsergebnis bestätigt diese Warnung auf ganzer Linie und zeigt, dass Arbeiter vor einem harten politischen Kampf stehen, der sich nicht nur gegen den Bahnvorstand, sondern auch gegen die EVG-Bürokratie richten muss. Ihre Verbündeten in diesem Kampf sind die Arbeiter im Öffentlichen Dienst und bei der Post – wo Verdi die gleiche Rolle spielt wie die EVG – und die streikenden Verkehrsarbeiter in ganz Europa.

In den sozialen Medien zeigt sich die enorme Wut, die unter Eisenbahnern über den EVG-Ausverkauf herrscht. Der Artikel der WSWS mit dem Titel „Stimmt gegen den Schlichterspruch und für unbefristeten Streik!“ wurde bereits weit über 8000 mal gelesen. Unter den Posts der EVG in den sozialen Medien sammeln sich tausende Kommentare, die das Schlichtungsergebnis und die Rolle der EVG verurteilen.

Ein typischer Kommentar stammt von Jens auf Instagram. „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Da wird eine Schlichtungsschlussvereinbarung als positiver Schlichterspruch deklariert, wo das Ergebnis des ‚Schlichterspruchs‘ beschissener ist als der Ausgangspunkt über den geschlichtet werden sollte“, schreibt er und bezieht sich auf ein Angebot, dass die EVG zuvor im Laufe der Tarifverhandlungen abgelehnt hatte. „Angedacht waren mal 650 Buletten bei 12 Monaten. Ich lach mich gleich tot. Oder soll ich lieber heulen über so viel Schneid und Durchsetzungskraft bei der EVG?“

Laura D. schreibt auf Facebook: „Tut mir leid, aber so was wird uns nach Monaten hingeworfen und jetzt haben wir das Wort? Ihr seid leider Monat für Monat mehr eingeknickt und der Arbeitgeber hat erreicht, was er wollte – und zwar: keine Streiks im Sommer. Ich fühle mich von den Aussagen am Anfang der Verhandlung und jetzt von der EVG im Stich gelassen. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Davon mal abgesehen, dass ich als langjährige Mitarbeiterin von der Inflationsprämie nichts sehe, weil ich ‚leider‘ seit 1.06. ein popliges Jahr in Elternzeit bin. Ich und viele andere hätten einen Abschluss erwartet, der uns besser für die Zukunft absichert – vor allem für die Rente.“

Besonders empört sind die Beschäftigten über die Spaltung der Belegschaft, die in den zusätzlichen „Strukturanpassungen“ vereinbart wurden. Während das von der EVG empfohlene Schlichtungsergebnis für alle Berufsgruppen empfindliche Reallohnsenkungen bedeutet, sind die Unterschiede bei den nominellen Lohnerhöhungen massiv. So bekommen beispielsweise Triebfahrzeugführer und Disponenten laut EVG lediglich eine durchschnittliche nominelle Erhöhung von 12,3 bzw. 8,8 Prozent über 25 Monate, weil sie diese Strukturanpassung nicht erhalten.

Die EVG hatte die Diskrepanz der nominellen Lohnsteigerungen in einem Kommentar damit gerechtfertigt, dass die Funktionsgruppe 4 (Triebfahrzeugführer) bereits auf dem „höchsten Niveau“ aller Gruppen liege. Ihr Entgelt wurde aber bereits in den Vorjahren – unter dem Vorwand der Covid-19-Pandemie – nicht oder kaum erhöht.

Offensichtlich spekuliert die EVG darauf, dass mindestens 25 Prozent ihrer Mitgliedschaft das schlechte Ergebnis aus purer Verzweiflung annehmen, und setzt dafür die mithilfe der Strukturanpassungen „höheren“ Lohnsteigerungen für Zugbetreuer und Fahrdienstleiter als Köder ein. Diese absichtlich spaltende Funktion des Schlichtungsergebnisses wird von vielen Arbeitern angegriffen.

So schreibt etwa René auf Instagram: „Ich bin Lokführer und Mitglied der EVG. Ich habe euch bei meinen Kollegen stets verteidigt. Aber dieses Schlichtungsergebnis zu empfehlen, ist für mich nicht nachvollziehbar. ‚Gemeinsam geht mehr‘? Ich erkenne da kein Gemeinsam mehr. Für mich war es das jetzt wahrscheinlich mit der EVG. Das kann doch nicht tatsächlich euer Ernst sein. Ich bin stinksauer und echt enttäuscht, dass euch die Lokführer tatsächlich am Allerwertesten vorbei gehen.“

Viele Zugbegleiter und Fahrdienstleiter solidarisieren sich mit den Lokführern und Disponenten. So schreibt etwa Serkan Ö.: „Ich profitiere vom Abschluss, werde aber trotzdem aus Solidarität ablehnen. Entweder kriegen es alle oder niemand.“

Ralf T. fordert auf Facebook: „Dieser Bundesvorstand sollte sofort zurücktreten. Ein Bundesvorstand, der von ‚Solidarität‘ und von ‚Nur gemeinsam sind wir stark‘ redet, von ‚Wir lassen uns nicht spalten‘ und dann nicht den Mut hat, einen Schlichterspruch, der genau diese Spaltung zum Ziel hat, einstimmig abzulehnen, gehört entmachtet. Ihr hattet es selbst in der Hand.“

Auf Twitter schreibt John D.: „Wer braucht eine solche Gewerkschaft? Dafür der ganze Aufriss? Die EVG ist tatsächlich eine Eisenbahn-Gewerkschaft, aber eben keine Eisenbahner-Gewerkschaft.“

Und Yannik O. kommentiert auf Facebook: „Meine Kündigung für diese Arbeitgebergewerkschaft folgt dann in den nächsten Wochen. Ich hoffe es werden einige folgen. Was ihr hier abzieht, ist an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten. Wie war das nochmal? Gemeinsam sind wir stark! Dass ich nicht lache!“

So wie Yannik kündigen viele EVG-Mitglieder an, anlässlich des Ergebnisses aus der Gewerkschaft auszutreten. Andreas S. schreibt, das Schlichtungsergebnis sei kein Kompromiss. „Das ist ein Einknicken vor dem Arbeitgeber. Hauptsache es wird nicht gestreikt. Das war sowieso von Anfang an euer Ziel. Wenn ich schon als Triebfahrzeugführer nicht mit mehr Lohn rechnen kann, muss ich eben die Mitgliedschaft kündigen. So hole ich mir wenigstens eine kleine Lohnerhöhung.“

Und Marcus B. schreibt: „Es wird leider Zeit darüber nachzudenken, nach über 30 Jahren Mitgliedschaft und vielen Jahren aktiver Arbeit auf Wiedersehen zu sagen. Diese Empfehlung ist ein Schlag ins Gesicht aller Mitglieder.“

Diese Wut über die EVG ist berechtigt. Doch um alle Bahnbeschäftigten in einem gemeinsamen Kampf zu vereinen, reicht es nicht aus, bei dieser Wut stehen zu bleiben. Den Weg vorwärts zeigen die Arbeiter bei der Post und dem öffentlichen Dienst, die dort von der Gewerkschaft unabhängige Aktionskomitee gegründet haben. Weltweit nehmen Arbeiterinnen und Arbeiter den Kampf gegen die Klassenkriegspolitik auf, mit der die kapitalistischen Eliten und ihre Regierungen ihren nächsten Weltkrieg finanzieren wollen.

Wir rufen alle Eisenbahnerinnen und Eisenbahner auf, sich über das Formular unten zu registrieren oder eine Whatsapp-Nachricht an die Nummer +491633378340 zu schreiben, um mit Gleichgesinnten Kontakt aufzunehmen und den Aufbau eines Aktionskomitees bei der Bahn in Angriff zu nehmen.

Loading