ARD-Dokumentation deckt Sicherheitsgefahren beim Schienennetz der Bahn auf

Das deutsche Schienennetz ist veraltet und kaputt; es gefährdet Menschenleben. Das macht die Dokumentation „Sicher Bahnfahren!“ deutlich, die am 4. September in der ARD gezeigt wurde.

Anlass der Dokumentation war das tödliche Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen im vergangenen Jahr. Bei der Entgleisung kamen fünf Menschen ums Leben. Die Dokumentation macht deutlich, dass der Unfall nicht einfach ein unglücklicher Zufall, sondern angesichts des maroden Zustands des Schienennetzes früher oder später unvermeidlich war.

Schweißarbeiten bei der Bahn [Photo by to.wi / flickr / CC BY-NC-SA 2.0]

Unter Lokführern war diese Strecke berüchtigt wegen der vielen schadhaften Stellen, die die Züge zur Drosselung der Geschwindigkeit zwangen. Kurz nach dem Unfall tauschten sich Lokführer in einer Whatsapp-Gruppe aus, und die Dokumentation zitiert ihre Kommentare. „Wir wissen alle in welchem Zustand diese Strecke ist…“, heißt es von einem Lokführer. „Ab Tutzing ist alles im Arsch … also quasi wirklich richtig im Arsch“, schreibt ein anderer.

Zwar ist der genaue Auslöser für das Zugunglück bis heute nicht abschließend geklärt. Doch die Verantwortung des Deutsche-Bahn-Konzerns für den maroden Zustand der Strecke steht außer Frage. Eine mögliche Ursache für die Entgleisung sind schadhafte Bahnschwellen. Obwohl schon länger die Gefahr von Betonkrebs bekannt ist, wurden die Schwellen nicht frühzeitig ausgetauscht und instandgehalten.

Bahnexperte Prof. Markus Hecht von der Technischen Universität Berlin erklärt dazu in der Dokumentation: „Das Schlimme ist, man hat das schon Jahrzehnte vorher gekannt und in der Spezifikation erwähnt, dass man so etwas vermeiden sollte. Aber die Betonprüfproben haben das nicht untersucht. Also, die DB trägt da schon eine Mitschuld.“

Die Unglücksstelle Garmisch-Peterskirchen ist kein Einzelfall. Aus internen Bahnunterlagen über sogenannte „Langsamfahrstellen“ geht hervor, dass allein für die Gesamtstrecke München-Garmisch-Mittenwald, auf der sich das Unglück ereignete, nicht weniger als 21 Warnungen herausgegeben wurden. An elf Stellen müssen Züge langsamer fahren, an sieben Stellen wegen Mängeln am Gleiskörper oder Bahndamm.

Ein Lokführer, der anonym bleiben wollte, kommentiert das in der Dokumentation mit den Worten: „Die Langsamfahrstellen im gesamten Streckennetz haben sehr deutlich zugenommen. Das bestätigt, was wir im Kollegenkreis langjährig, jahrzehntelang vermuten: dass das Netz vernachlässigt wird und die Mängel in Kauf genommen wurden.“

Welche Gefahren damit verbunden sind, das machen Daten der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) über das bundesweite Ausmaß der Störungen deutlich. Die BEU sammelt Daten über gefährliche Ereignisse. Für die Jahre 2020 und 2021 hat sie fast 5000 Unfälle oder gefährliche Störungen aufgelistet, das sind mehr als sechs pro Tag. Darunter sind 463 Entgleisungen, 1343 Unfälle mit Personenschaden und 834 Kollisionen. Trotz Pandemie sind diese Zahlen damit 5 Prozent höher als noch vor 10 Jahren.

Um welche Art von Störungen es sich handelt, wird durch Dokumente des Eisenbahnbundesamts veranschaulicht, die das Redaktionsteam der ARD beantragt und schließlich auch erhalten hatte. Es handelt sich um den Schriftverkehr der letzten drei Jahre zu sicherheitsrelevanten Beanstandungen. Die 400 Dokumente, in denen viele Stellen geschwärzt sind, zeigen zahlreiche gefährliche bis lebensgefährliche Mängel auf.

Darunter befinden sich:

  • ein Signal im bayrischen Pocking, das umgestürzt ist, weil es durchgerostet war, und sechs weitere Signale in der Gegend, denen dasselbe drohte.
  • ein Gleis in Rostock, das gesperrt werden musste, weil seine Spurbreite zu breit war. Reisende waren durch eine drohende Entgleisung direkt in Gefahr.
  • ein Fehler bei der Standortwahl von Signalen in Essen. Dem Schriftverkehr zufolge bedeutete dies erhebliche Gefahr für Leib und Leben. Der Betrieb wurde verboten, und das Amt drohte mit einem Zwangsgeld von 50.000 Euro.

Die aufgelisteten Gefährdungen wurden durch Stichproben entdeckt und sind damit nur die Spitze eines Eisbergs. Die Dokumentation zeigt beispielhaft zwei Stellen vor Ort, an denen die Sparmaßnahmen bei der Netzinstandhaltung direkt Menschenleben gefährden.

An einem Bahnübergang in München ist die Schranke kaputt, nachdem ein Auto dagegen gefahren ist. Seitdem ersetzen zwei Arbeiter die Schranke. Immer dann, wenn ein Zug heranfährt, müssen sie den Bahnübergang mit Flatterbändern absperren. Dies immer und immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Schon mehrmals ist es beinahe zu Zusammenstößen gekommen, weil das Flatterband fehlte.

Ähnlich die Situation in Sauerlach (Oberbayern), wo Arbeiter im Schichtbetrieb eine Behelfsschranke öffnen und schließen müssen. Wann der nächste Zug kommt, erfahren sie per Anruf. Die bisherige Schranke war veraltet, und eine neue kann angeblich erst in zwei Jahren geliefert werden.

Im Verlauf der Dokumentation kommen verschiedene Bahnarbeiter zu Wort, die von ihren Erfahrungen mit dem Netz und der Instandhaltung berichten. Ein Anlagenverantwortlicher aus dem Südwesten, der anonym bleiben möchte, berichtet, dass man oft Monate auf dringende Reparaturen warten müsse. In dieser Zeit nähmen jedoch die Mängel und Kosten weiter zu.

Der Mitarbeiter berichtet: „In den letzten 10 bis 20 Jahren hat man vieles vergammeln lassen, weil das Finanzierungssystem Fehler hat. Reparaturen muss die Bahn zahlen. Sobald aber neu gebaut wird, zahlt der Bund, aber dann gleich alles. Für die Bahn ist es also viel lukrativer, so lange auf Verschleiß zu fahren, bis der Bund den Neubau zahlt.“

Wenn Unfälle durch Schäden am Gleis passieren, haftet der dafür zuständige Anlagenverantwortliche persönlich. Bei dem jetzigen Zustand bedeutet dies für den Betreffenden Dauerstress. Es entspricht der gängigen Praxis, die Verantwortung mit dem Hinweis auf „menschliches Versagen“ auf einen Sündenbock abzuladen. Die eigentlichen Ursachen – das Kaputtsparen der Strukturen, die ständig wachsende Arbeitslast bei schlechten Löhnen, die Kapitulation vor der Profitabilität – werden ignoriert.

Der Anlagenverantwortliche betont in der Dokumentation, dass es zunehmend schwerer werde, alle auftretenden Mängel zu erfassen. Die Bezirke seien ständig größer geworden. Nur mit einer Verdopplung des Personals wäre die Arbeit noch machbar. „Klar hat Sicherheit oberste Priorität. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie lange ich das noch machen will. Der Druck, der auf einem lastet, ist extrem hoch“, erklärt der Bahnbeschäftigte. Obwohl er seine Sorgen bereits mehrfach an die Führungsebene gemeldet hat, ist keine Verbesserung erkennbar.

„Dafür die Verantwortung zu übernehmen, da muss man schon ein dickes Fell haben, um das hinzukriegen“, erklärt auch Lukas Sing, ein ehemaliger Bezirksleiter der DB, der heute in der Schweiz arbeitet. Er und seine Kollegen haben bereits 2019 einen Brandbrief an die Führungsebene der Bahn geschrieben. Darin hieß es: „Der Anlagenverantwortliche läuft Gefahr die Übersicht der Fehlerentwicklung zu verlieren. Dies führt zu sicherheitsrelevanten Auswirkungen im Eisenbahnbetrieb.“ Die Konzernführung hat darauf nie geantwortet.

„Es gibt Fehler in der Schiene drin, die man nur mit Ultraschall erkennt“, erklärt Lukas. „Wenn man da zu viele hat und nicht hinterherkommt, die Schienen zu wechseln, zu schleifen oder zu bearbeiten, weil man dafür kein Personal hat, dann wird es halt schwierig. Dann ist das ein Sicherheitsrisiko, das man von außen aber gar nicht unbedingt sehen kann.“

Immer mehr Bahnbeschäftigte sorgen sich über den Zustand des Schienennetzes. Der oben zitierte Lokführer, der anonym bleiben möchte, erklärt, die DB Netz AG sei für ihn „kein sicherer Infrastrukturbetreiber mehr“. Er schilderte die Schockmomente, wenn sich die Lokomotive oder der Triebzug aufschaukeln, weil im Gleis eine Unebenheit besteht. Da bekomme man den Eindruck: „Jetzt ist es vorbei – jetzt kommt es zu einer Entgleisung.“

Tatsächlich ist der schreckliche Unfall von Garmisch-Partenkirchen ja kein Einzelfall. Mehrmals haben der veraltete Zustand von Bahn- und Gleistechnik, schlechte Wartung oder Materialfehler in den letzten Jahren zu tragischen Unfällen geführt. Allein in Bayern kamen dadurch zahlreiche Menschen ums Leben. Zwischen Bad Aibling und Kolbermoor stießen 2016 zwei Meridian-Züge frontal aufeinander, zwölf Menschen starben. In der Nähe von Aichach kam es 2018 zu einem folgenschweren Zusammenstoß zwischen einem Regionalzug und einem Güterzug. Zwei Menschen, darunter der Lokführer, verloren ihr Leben. Im Februar letzten Jahres stießen südlich von München zwei S-Bahnen frontal zusammen; dabei starb ein Mensch.

Die zunehmende Unfallgefahr ist keineswegs ein bayrisches oder deutsches Problem. Erst vor wenigen Tagen wurden in Norditalien fünf Gleisarbeiter von einem heranrasenden Zug erfasst und getötet. In den USA wurden innerhalb von zwei Monaten zwei Lokführer-Anwärter getötet, als sie aus den Waggons, die sie steuerten, herausgeschleudert und überrollt wurden. Davor war es in Griechenland zum tödlichsten Zugunfall der Landesgeschichte gekommen, als ein Hochgeschwindigkeitszug voller Ferienrückkehrer, vorwiegend Studierende, mit einem Güterzug zusammenprallte. 57 Menschen, darunter acht Eisenbahner, wurden getötet.

Die Hauptursache für die drohenden Gefahren und verheerenden Unfälle ist das Profitstreben der Banken und Konzerne: Es fordert die restlose Privatisierung und Deregulierung der einst staatlichen Bahnkonzerne. In Deutschland begann das Kaputtsparen, als die Bundesregierung den letztlich gescheiterten Versuch unternahm, die Bahn gewinnbringend an die Börse zu bringen. Um Kosten zu reduzieren, wurden die Bahntöchter ausgegliedert und systematisch umgebaut. Vor allem wurde am Personal gespart. Für Lokführer, Zugbegleiter, Fahrdienstleiter, Gleisarbeiter und andere Eisenbahner führte dies dazu, dass ihr Arbeitsbereich seither ständig vergrößert und ihr Einkommen verringert wird. Heute sind sie mit endlosen Überstunden, Personalmangel und wachsendem Stress konfrontiert.

Eisenbahner und Lokführer haben mehrfach versucht, dagegen den Kampf aufzunehmen. Im Frühjahr kam es zu mehreren Warnstreiks bei der Bahn, die praktisch zu 100 Prozent befolgt wurden. Die Lokführer führten in den letzten Jahren mehrere wochenlange Streiks, um sich gegen sinkende Einkommen, steigende Arbeitshetze und Arbeitsplatzabbau zu wehren.

Lokführer und Eisenbahner sind allerdings nicht nur mit dem Bahn-Vorstand und der Bundesregierung konfrontiert, sondern auch mit den Gewerkschaften, der EVG und der GDL, die auf der anderen Seite stehen und mit dem Vorstand und der Regierung zusammenarbeiten. Aus diesem Grund wurde während der jüngsten Tarifauseinandersetzung das unabhängige Aktionskomitee Bahn gegründet.

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