„Wenn ich zur Arbeit gehe, ist es, als geh‘ ich in den Krieg“

Steigende Zahl tödlicher Unfälle bei der Bahn ist Ergebnis der Profitorientierung

Bei der Deutschen Bahn AG häufen sich schwere und tödliche Unfälle. Der Tod eines jungen Lokführers am vergangenen Sonntag bei Paderborn (NRW) ist in diesem Jahr schon der neunte tödliche Unfall, deutlich mehr als in den Jahren davor.

Das Aktionskomitee Bahn, das sich am Dienstagabend wieder getroffen hat, stellt das Thema „Sicherheit“ ins Zentrum seiner Arbeit. Es ruft Eisenbahner auf, alle Informationen zusammenzutragen, die dazu dienen, Aufschluss über die wirklichen Ursachen dieser Unfälle zu geben.

Bahnunfall bei Paderborn [Photo by FB-Gruppe "Der Eisenbahner" ]

Bei dem grauenhaften Zugunglück vom Sonntagnachmittag, den 10. September, wurde der junge Lokführer Jonas (32) getötet. Er war allein mit einem Güterzug, vom Zementwerk kommend, in Richtung Strecke Paderborn-Soest unterwegs, als offenbar das Bremswerk versagte. Der Zug entgleiste mitten im Ort Geseke, die Lokomotive stellte sich quer, und zwölf schwer beladene Waggons verkeilten sich ineinander. Jonas geriet unter einen tonnenschweren Kesselwagen und verstarb. Er konnte erst am Montagmittag, nach Abpumpen des Zements, geborgen werden.

Die ARD-Sendung „Brisant“ hat ein Video publiziert, das deutlich zeigt, dass die Lok schon im Fahren brannte und der Zug ungebremst bergab auf die Einmündung in die Hauptstrecke zu fuhr. Der Lokführer befand sich zwischen zwei Waggons, um die Hauptleitung zu lüften und eine Notbremsung einzuleiten. Kurz zuvor hatte er telefonisch um eine Streckensperrung gebeten.

In den FB-Gruppen machen Eisenbahner ihrer Trauer Luft. Mehmet Gül, ein Arbeitskollege des Getöteten, gedenkt diesem voller Hochachtung: „Die Lok hat während der Rangierfahrt Feuer gefangen, und Jonas hat sein Leben dafür gelassen, um den Zug zum Stoppen zu bringen!!! Er versuchte, ohne groß nachzudenken, weiteres Leben zu schützen: Er hat sich selbst geopfert …“

Jonas der Lokfuehrer der in Geseke zu Tode kam [Photo by FB-Gruppe "Der Eisenbahner" ]

Jonas‘ viel zu früher Tod ist kein Einzelfall: Nur zwei Tage zuvor wurde am Freitag, den 8. September, ein 19-jähriger Bahn-Azubi in Hannover-Linden bei Leit- und Sicherheitstechnik (LST)-Arbeiten getötet; die näheren Umstände sind nicht bekannt. Bis zum 10. September ist es dieses Jahr bei der DB AG neunmal zu tödlichen Unfällen gekommen:

  • 16. Januar 2023: Auf der Strecke zwischen Nürnberg und Regensburg erfasst eine Lokomotive zwei Arbeiter, die mit Rodungsarbeiten beschäftigt sind. Ein Bahnmitarbeiter wird getötet, sein Kollege schwer verletzt.
  • 4. Februar 2023: Am Bahnhof Bebra (Osthessen) wird ein Rangierarbeiter von einem rollenden Eisenbahnwaggon erfasst und getötet.
  • 23. Februar 2023: Bei nächtlichen Arbeiten wird ein 56-jähriger Baggerfahrer an einer Eisenbahnunterführung in Bremerhaven tödlich verletzt.
  • 4. Mai 2023: Ein IC erfasst zwei junge Gleisarbeiter, die in Hürth bei Köln im Zusammenhang mit einer Kabelverlegung Gleisstopfarbeiten ausführten. Beide sind auf der Stelle tot. Fünf weitere Kollegen können im letzten Augenblick zur Seite springen. Die Deutsche Bahn publiziert zunächst einen Tweed über „unbefugte Personen auf der Strecke“, den sie nach Protesten zurückziehen muss.
  • 14. Juni 2023: Bei Stade wird ein 28-jähriger Bahnmitarbeiter vom Regionalzug Hamburg-Cuxhaven erfasst und getötet. Er ist mit Rückschnittarbeiten neben dem Gleis beschäftigt. Seine zwei Kollegen, darunter sein Bruder, können sich retten.
  • 2. Juli 2023: Auf dem Rangierbahnhof Hamm (NRW) gerät ein 26-jähriger Eisenbahner zwischen einen rollenden Zug und einen stehenden Waggon und wird tödlich verletzt.

Dies ist das mörderischste Jahr bei der Bahn seit vielen Jahren. In ihrem Geschäftsbericht zum letzten Jahr weist die Bahn für das Jahr 2020 im Ganzen sechs tödliche Unfälle, vier für 2021 und sieben für 2022 aus. Und jetzt, im Jahr 2023, hat mit neun tödlichen Unfällen vor Mitte September schon einer pro Monat stattgefunden! Und es ist ein europaweites Phänomen: Gerade sind am 1. September in Norditalien fünf Gleisarbeiter vom Zug erfasst und getötet worden.

Bei der DB AG häufen sich zudem auch die anderen Unfälle, die nur mit großem Glück nicht tödlich ausgehen. Nur einen Tag nach Jonas‘ Tod kam es am Montag, 11. September, in Köln-Kalk zu einem weiteren, entsetzlichen Fall, als ein Bahnmitarbeiter von einem Regionalexpress erfasst wurde. Der Mann musste noch vor Ort reanimiert werden und kam mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus. Am 6. Juni geriet auf einer DB-Baustelle zwischen Hamburg-Langenfelde und Stellingen ein Baggerfahrer mit der Schaufel seines Fahrzeugs an die Oberleitung und wurde vom Stromschlag schwer verletzt.

Einen ähnlichen Unfall erlitt vor zehn Tagen auch Frank S., ein Mitglied des Aktionskomitees. Er wurde am Montag, den 4. September, bei DB-Netz-Arbeiten an der Oberleitung in der Nähe von Frankfurt von einem schweren Stromschlag getroffen. „Ich hätte tot sein können“, sagte Frank, der schwerverletzt in die Spezialklinik kam, große Schmerzen und noch einen langen Leidensweg vor sich hat.

Das Aktionskomitee Bahn nahm Franks Unfall zum Anlass, seine Mitglieder und alle Eisenbahner aufzurufen, relevante Informationen zu sammeln, um sie öffentlich zu machen. Denn die Medien übernehmen rasch die Version der Bahn AG, der Polizei, der Berufsgenossenschaften oder der Gewerkschaften. Schon ein erster Anruf bei der Bundespolizei hatte ergeben, dass in Franks Fall die Ermittlungen „in die Richtung gehen, dass menschliches Versagen vorliegt“. Dabei sitzen die wirklichen Verantwortlichen im Bahnvorstand und der Bundesregierung, der die Bahn gehört. Sie nehmen mit ihren rigorosen Einsparungen menschliche Fehlentscheidungen und Unfälle in Kauf.

Dies wird immer dort sichtbar, wo Arbeiter selbst zu Wort kommen. In den FB-Gruppen von Eisenbahnern und Lokführern finden sich zahlreiche Beiträge, die die eigentlichen Ursachen solcher Katastrophen konkret aufzeigen. So bezeichnet ein Fahrdienstleiter in der FB-Gruppe „Der Eisenbahner“ die vorherrschenden Zustände als „Krebsschaden“ und verortet sie „schon in der oberen Ebene, sprich Betrabüro, Feinplaner etc.“ [„Betra“: das sind die „Betrieblichen Anweisungen“, die vor jedem Arbeitsschritt zur Feststellung der notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zwingend vorgeschrieben sind]. Er schildert eine Nachtschicht, die zwei Fahrdienstleiter zusammen bewältigen mussten:

Letzte Nacht mussten wir 3 Betren einrichten und 1 Betra aufheben (mit Einbau Gleisschaltmittel und deren Prüfung), gleichzeitig Weichenprüfarbeiten. Dazu kamen noch Arbeiten von Fahrbahn und von dem Oberleitungsmitarbeiter. Alles war auf eine Uhrzeit gelegt, und jeder wollte gleichzeitig anfangen […] Nebenbei (wobei das Wort NEBENBEI in diesem Zusammenhang nicht existieren dürfte) sind wir noch Züge gefahren. Sehr fragwürdig alles. Aber so wird der Druck, welcher auf der Bahn lastet, weiter gegeben.

Dabei hängt von jeder Aufgabe, die diese Kollegen in einer Schicht lösen müssen, buchstäblich das Leben ihrer Kollegen ab! Es wird deutlich, dass der systematische Abbau von Personal und der ständig wachsende Arbeitsdruck zwangsläufig zu Unfällen führen müssen.

Auf dem letzten Aktionskomitee-Treffen vom Dienstag meldete sich ein Rangierbegleiter von DB Cargo zu Wort und erklärte zu dem Terminus „menschliches Versagen“:

„Das ist eine gut eingefädelte Taktik: Man hat wenig Personal, und die, die noch da sind, sind so überfordert oder so unter Druck, so gestresst, so müde, dass es automatisch über kurz oder lang zu einem Unfall kommt. Dann hat natürlich die Bahn gewonnen, denn es ist ja ‚menschliches Versagen‘. Dabei sind die Bedingungen das Problem, unter denen wir arbeiten.“ Und er schilderte seine Arbeit auf einem „Riesenbahnhof, der mehrere Kilometer Gleise hat“.

Zuletzt seien sie mit vier Kollegen an der Arbeit gewesen, für die eigentlich 12 Beschäftigte vorgesehen seien. „Da schüttelt man nur noch den Kopf und sagt: Wie kann das funktionieren?“ Sein Fazit:

Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit gehe, ist es, als gehe ich in den Krieg. Und ich sorge mich um meine Familie, denn wenn mir was passieren sollte – wer kümmert sich dann um meine Kinder und um meine Frau? Die Gewerkschaft arbeitet für die Bahn, und die Regierung, die ist eigentlich der Kopf der Schlange. Wir brauchen aber die Sicherheit, dass uns auf der Arbeit nichts passiert. Und sollte mir was passieren - dass man mir dann nicht die Schuld in den Schuhe schiebt.

Auf dem Treffen berichteten mehrere Mitglieder des Aktionskomitees, dass an großen Rangierbahnhöfen die notwendigen Stromabschaltungen manchmal aus Zeitdruck nicht erfolgen, aber Arbeiter dennoch hochsteigen und ihr Leben riskieren. Die Beiträge machten deutlich, wie dringend der Aufbau von unabhängigen Aktionskomitees in allen Betrieben jetzt ist: Nur wenn die Sicherheit wieder an erster Stelle steht, können die tödlichen und schweren Unfälle gestoppt werden.

Zum Schluss des Aktionskomitee-Treffens, nach der Diskussion über eine Reihe von anderen wichtigen Themen, äußerte sich Ulrich Rippert, führendes Mitglied der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) und der Redaktion der WSWS, noch einmal zum Thema Arbeitsunfälle und Sicherheit. Er sagte:

Wir brauchen mehr Kontrolle über die Arbeitsabläufe und -Prozesse. Man hat oft die Vorstellung, dass die Gewerkschaften das machen, aber das ist völlig falsch. In Wirklichkeit ist es genau andersherum: Diese Unfälle können nur stattfinden, weil die Gewerkschaft der ständigen, systematischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zustimmt und gleichzeitig Reallohnsenkung durchsetzt, so dass viele nicht mehr bereit sind, unter diesen Bedingungen eine so gefährliche, anstrengende und unterbezahlte Arbeit zu leisten. Dadurch fehlen Arbeitskräfte, dadurch steigt die Arbeitsbelastung, und dadurch nimmt die Gefahr von Arbeitsunfällen ständig zu.

Diese Arbeitsunfälle seien in Zukunft nur zu verhindern, fuhr er fort, „wenn wir selbst aktiv werden. Und das bedeutet, wir müssen uns unabhängig organisieren. Wir müssen die Kontrolle und die Zwangsjacke des Gewerkschaftsapparats sprengen und selbst die Kontrolle übernehmen. Die Gesundheit der Arbeiter muss Vorrang vor den Profiten haben.“ Die Gründung des Aktionskomitees sei dazu der erste, wichtige Schritt.

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