Trotzkis Brief vom 8. Oktober 1923 an die Führung der Kommunistischen Partei in Russland

Leo Trotzkis Brief vom 8. Oktober 1923 an die Mitglieder des Zentralkomitees (ZK) und der Zentralen Kontrollkommission (ZKK) der Kommunistischen Partei Russlands war eines der wichtigsten Dokumente, auf deren Grundlage die Linke Opposition in der Sowjetunion den Kampf gegen die entstehende stalinistische Bürokratie aufnahm. Diese Übersetzung wurde erstmals am 22. Oktober 1993 in der Neuen Arbeiterpresse veröffentlicht, der Zeitung, die vom Bund Sozialistischer Arbeiter, dem Vorläufer der Sozialistischen Gleichheitspartei, herausgegeben wurde. Die Übersetzung basierte auf der ersten vollständigen russischen Veröffentlichung dieses Briefes in der Zeitschrift Izvestiia TsK KPSS in ihrer Ausgabe vom Mai 1990, S. 165–175. Die Übersetzung und die Anmerkungen wurden leicht bearbeitet, um das Verständnis des Dokuments zu erleichtern. Eine Einführung in dieses Dokument, die den historischen Kontext erläutert, in dem es verfasst wurde, findet sich in David Norths „Zur Gründung der Linken Opposition“.

Sowjetische Zeitschrift Izvestiia TsK KPSS in ihrer Ausgabe vom Mai 1990: Erste vollständige Veröffentlichung von Leo Trotzkis Brief an das ZK und die ZKK vom 8. Oktober 1923

8. Oktober 1923
Streng vertraulich

An die Mitglieder des ZK und der ZKK[1]

1. Einer der Vorschläge der Kommission des Gen. Dserschinski[2] (die anlässlich der Streiks und ähnlicher Vorkommnisse eingerichtet wurde) besagt, man müsse Parteimitglieder, die von Gruppenbildungen in der Partei Kenntnis haben, verpflichten, dies unverzüglich der GPU, dem ZK und der ZKK mitzuteilen.

Man sollte meinen, dass die Informierung der Parteiorganisation darüber, dass sich parteifeindliche Elemente ihres Rahmens bedienen, für jedes Parteimitglied eine derart elementare Pflicht darstellte, dass keine Notwendigkeit bestünde, darüber sechs Jahre nach der Oktoberrevolution besondere Beschlüsse zu fassen. Dass überhaupt das Bedürfnis nach einem solchen Beschluss entstand, ist ein äußerst besorgniserregendes Symptom, neben dem andere stehen, die nicht weniger eindeutig sind. Das Bedürfnis nach einem solchen Beschluss bedeutet: a) dass sich in der Partei illegale oppositionelle Gruppen[3] gebildet haben, die der Revolution gefährlich werden können, und b) dass in der Partei Stimmungen herrschen, die ermöglichen, dass Genossen, die von solchen Gruppen wissen, die Parteiorganisation nicht davon unterrichten.

Beide Tatsachen zeugen von der außerordentlichen Verschlechterung der innerparteilichen Lage seit dem 12. Parteitag, auf dem die Berichte des Zentralkomitees von vollständiger Einigkeit unter 90 % der Partei sprachen. Allerdings war diese Einschätzung schon damals eine optimistische Übertreibung. Sehr viele Mitglieder der Partei, durchaus nicht die schlechtesten, verfolgten mit größter Besorgnis die Mittel und Methoden, mit denen der 12. Parteitag einberufen wurde.[4] Die Mehrheit der Parteitagsdelegierten teilte diese Besorgnis. Es steht außer Zweifel, dass die überwiegende Mehrheit der Partei angesichts der internationalen Lage und insbesondere angesichts von Lenins Krankheit uneingeschränkt bereit war, das neue Zentralkomitee zu unterstützen. Gerade dieser Wunsch, vor allem im Bereich der Wirtschaft eine einmütige und erfolgreiche Arbeit der Partei zu gewährleisten, sorgte für Ausgleich zwischen den Gruppierungen in der Partei und zwang viele, ihre Unzufriedenheit hinunterzuschlucken und ihre berechtigte Besorgnis nicht von der Tribüne des Parteitags zu äußern.

Sechs Monate Arbeit des neuen ZK haben jedoch die Mittel und Methoden, mit denen der 12. Parteitag einberufen worden war, noch verstärkt. Und das Ergebnis innerhalb der Partei war zum einen die Entstehung offen feindlicher und verbitterter Gruppierungen, zum anderen die Gegenwart zahlreicher Elemente, die um diese Gefahr wissen und trotzdem darüber schweigen. Wir sehen hier sowohl die deutliche Verschlechterung der innerparteilichen Lage als auch die wachsende Entfernung des ZK von der Partei.

Im Oktober 1993 publizierte das IKVI Trotzkis Brief vom 8. October 1923 zunächst auf Englisch im US-amerikanischen International Workers Bulletin

2. Die außerordentliche Verschlechterung der innerparteilichen Lage hat zwei Ursachen: a) das grundlegend falsche und ungesunde innerparteiliche Regime und b) die Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern mit der schweren wirtschaftlichen Lage, die nicht nur auf objektive Schwierigkeiten, sondern auch auf offenkundige, fundamentale Fehler in der Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist. Beide Ursachen sind, wie aus dem folgenden hervorgehen wird, eng miteinander verbunden.

3. Der 12. Parteitag trat unter dem Motto der Smytschka (Bündnis) zusammen [ein Begriff, der das Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft bezeichnete]. Als Autor der Thesen über die Industrie[5] habe ich das ZK vor dem Parteitag auf die äußerst große Gefahr hingewiesen, dass unsere wirtschaftliche Aufgabe auf dem 12. Parteitag in abstrakt–agitatorischer Form vorgestellt wird, obgleich die Aufgabe darin besteht, eine „Umkehr der Aufmerksamkeit und des Willens der Partei“ in Richtung auf die konkreten lebenswichtigen Aufgaben mit dem Ziel der Verbilligung der Selbstkosten für die staatlichen Produkte herbeizuführen. Ich kann allen Mitgliedern des ZK und der ZKK nur raten, sich mit der Korrespondenz des Politbüros aus dieser Periode vertraut zu machen.[6]

Ich wies nach, dass die Neigung, in unserer Agitation einfach die Parole der Smytschka darzulegen und zu verwenden, während ihr wirklicher Inhalt – Planwirtschaft, deutliche Konzentration der Industrie, deutliche Reduzierung der allgemeinen Aufwendungen für Industrie und Handel – außer Acht gelassen wird, dem Bericht über die organisatorischen Aufgaben der Industrie jede praktische Bedeutung rauben würde. Auf Drängen des Plenums hin gab ich allerdings einen Bericht, in dem ich von meiner Seite aus versuchte, die Arbeit des künftigen ZK, das zum ersten Mal ohne Genossen Lenin ausgewählt wurde, nicht zu komplizieren.

Trotzki (in der Mitte) mit Teilnehmern des Dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale, Juni-Juli 1921

4. Die Resolution über die Industrie[7] fordert die Festigung und Verstärkung der Gosplan-Kommission, ihre Bekräftigung als führendes Organ der Planung. Es ist sehr bemerkenswert, dass das ZK nach dem 12. Parteitag eine Notiz erhielt, die Genosse Lenin schon nach seiner Erkrankung niedergeschrieben hatte. Er äußert darin den Gedanken, dass die Gosplan sogar legislative (oder, genauer gesagt, administrativ-leitende) Vollmachten erhalten sollte.[8]

Tatsächlich jedoch ist die Gosplan in der dem Parteitag unmittelbar folgenden Periode immer weiter in den Hintergrund gedrängt worden. Ihre Arbeit an verschiedenen Aufgaben ist nützlich und notwendig, hat aber überhaupt nichts mit der geplanten Regulierung der Wirtschaft in der Form zu tun, wie sie auf dem 12. Parteitag beschlossen worden war. Die Ungereimtheit des Plans tritt in der Arbeit der zentralen und ganz allgemein grundlegenden staatlichen Wirtschaftsorgane am offensten in Erscheinung. In größerem Umfang als vor dem 12. Parteitag werden äußerst wichtige wirtschaftliche Fragen im Politbüro in aller Eile entschieden, ohne entsprechende Vorbereitung und außerhalb ihres Planungszusammenhangs. Die Genossen Rykow und Pjatakow[9], die für die staatliche Industrie verantwortlich sind (wobei Genosse Rykow für die Gesamtwirtschaft zuständig ist) schickten dem ZK am 19. September einen Bericht, in dem sie vorsichtig äußerten, dass „einige Entscheidungen des Politbüros uns dazu veranlassen, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass sich die Leitung der uns anvertrauten staatlichen Industrie unter den sich entwickelnden Verhältnissen äußerst schwierig gestaltet“.

Zwar waren die genannten Genossen nicht bereit, ihren Brief zu verteilen, da sie es für unklug hielten, auf dem Plenum eine Diskussion über diese Frage zu beginnen. Aber dieser formale Umstand (die Weigerung, den Brief zu verteilen) ändert nichts an der Tatsache, dass die Leiter der wirtschaftlichen Tätigkeit die Politik des Politbüros in Wirtschaftsfragen als eine Politik zufälliger, unsystematischer Entscheidungen kennzeichnen, die jede planmäßige Leitung der Wirtschaft „äußerst schwierig“ gestaltet. ln Privatgesprächen wird diese Einschätzung in weitaus kategorischerer Form geäußert. Es gibt kein einziges Partei- oder Sowjetorgan, in dem Wirtschaftsfragen in ihrem inneren Zusammenhang und mit der notwendigen Perspektive untersucht und erarbeitet würden. Um ganz genau zu sein, müssen wir sagen: Eine Leitung der Wirtschaft gibt es nicht, das Chaos kommt von oben.

Alexei Rykow, Vertreter des rechten Flügels der bolschewistischen Führung, 1924 im Kreml

5. Ich werde im Rahmen dieses Briefes nicht versuchen, eine konkrete Analyse unserer Politik im Bereich der Finanzen, der Industrie, der Getreidebeschaffung, des Getreideexports oder der Steuern darzulegen, denn dies würde eine sehr komplexe Argumentation unter Zuhilfenahme umfangreichen Materials erfordern. Heute kann kein Zweifel bestehen, dass einer der Hauptgründe für die gegenwärtige Handels- und Industriekrise der eigengesetzliche, d.h. dem allgemeinen Wirtschaftsplan nicht untergeordnete Charakter unserer Finanzpolitik ist.

Verschiedene große Erfolge in der Industrie werden durch die fehlende Koodination zwischen den Grundelementen der staatlichen Wirtschaft unterbrochen oder gefährdet, und es liegt in der Natur der NEP, dass jede Störung auf dem Gebiet der staatlichen Industrie und des staatlichen Handels das Wachstum des Privatkapitals auf Kosten des Staatskapitals mit sich bringt. Ein wesentliches charakteristisches Moment ist der Umstand, dass das ungeheuer angewachsene Missverhältnis zwischen den Preisen für industrielle und denen für landwirtschaftliche Produkte gleichbedeutend ist mit der Liquidierung der Neuen Ökonomischen Politik, denn für den Bauern – die Basis der NEP – ist es gleichgültig, warum er nicht kaufen kann: weil der Handel durch Dekrete verboten ist, oder weil zwei Schachteln Streichhölzer genau so viel kosten wie ein Pud [16,38 kg] Brot.

Ich werde hier nicht anfangen, im Einzelnen darzustellen, wie die Konzentration – eine Frage auf Leben und Tod für die Industrie – auf Schritt und Tritt gegen „politische“ (d.h. lokale) Erwägungen stößt und weit langsamer voranschreitet, als die Preise für Industrieprodukte. Aber man muss meiner Meinung nach einen geringfügigeren Aspekt des Problems ansprechen, der die ganze Frage außerordentlich klar beleuchtet. Er zeigt, wozu die Leitung der Wirtschaft durch die Partei ausartet, wenn Plan, System und richtige Parteilinie fehlen.

Auf dem 12. Parteitag wurde über empörende Missbräuche von Handels- und Industrieanzeigen seitens einiger Parteiorganisationen berichtet.[10] Worin bestand dieser Missbrauch? Darin, dass manche Parteiorganisationen, die dazu verpflichtet sind, die Wirtschaftsorgane zu leiten, indem sie sie zu höchster Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Sparsamkeit und zu Verantwortungsgefühl erziehen sollen, diese in Wirklichkeit zersetzen, indem sie zu gröbsten und verschwenderischsten Mitteln greifen und den Staat betrügen: Anstatt die Unternehmen einfach mit einer Industriesteuer zugunsten der Parteiorganisationen zu belegen, was ungesetzlich wäre, aber wenigstens einen realen Sinn hätte, zwingt man sie zum Erwerb sinnloser Werbeanzeigen, mit denen dann Papier, Druckerarbeit und anderes vergeudet werden. Das Schlimmste daran ist, dass sich die Wirtschaftsleiter nicht entschließen können, dieser Raubpolitik und Demoralisierung entgegenzutreten, sondern im Gegenteil nach genauer Anweisung des Sekretärs des Gouvernementskomitees für eine halbe oder ganze Seite in irgendeinem „Sputnik des Kommunisten“ brav bezahlen.

Wenn es irgendein Wirtschaftler wagte, sich zu widersetzen, d.h. ein wirkliches Verständnis reiner Parteipflicht zeigte, dann würde er sofort in die Kategorie derer eingestuft, die die „Parteileitung“ nicht anerkennen, mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Nach dem 12. Parteitag haben sich die Dinge mit der möglichen Ausnahme einiger weniger Orte nicht gebessert. Man muss schon überhaupt keine Ahnung davon haben, was richtige Wirtschaftsarbeit und Verantwortungsgefühl bedeuten, um eine derartige „Leitung“ der Wirtschaft durchgehen zu lassen oder zu glauben, dass solche Erscheinungen wenig zu bedeuten haben.

6. Es besteht kein Zweifel, dass der 12. Parteitag gemeinsam mit der gesamten Partei versuchte, den führenden und kontrollierenden Einfluss der Partei in den Wirtschaftsorganisationen zu verstärken. Insbesondere sollten die Leiter nun wirklich für die Methoden und Ergebnisse ihrer wirtschaftlichen Arbeit zur Verantwortung gezogen werden. Aber gerade in diesem Bereich (Initiative, Sparsamkeit, Verantwortung usw.) waren die Erfolge minimal. Und die Unzufriedenheit der Massen wird vor allem dadurch hervorgerufen, dass sehr viele Wirtschaftsorgane verschwenderisch sind und gegenüber niemandem Rechenschaft ablegen, während sich ihre Leiter umso bereitwilliger der „Parteiführung“ unterordnen (in Form sinnloser Anzeigen und anderer Erpressung), so dass ihre ganze Arbeit im Grunde wie zuvor jeglicher wirklichen Anleitung und Kontrolle entzogen bleibt.

7. Das letzte Plenum des ZK hat eine außerordentliche Kommission für die Reduzierung der Ausgaben und für die Senkung der Preise eingerichtet.[11] Allein diese Tatsache ist ein unerbittliches Zeugnis für die Fehler unserer Wirtschaftsarbeit. Alle Elemente für die Preisfestlegung waren rechtzeitig analysiert worden, und der 12. Kongress hatte die Resolutionen über die Senkung der Produktionskosten und der Handelsausgaben einstimmig verabschiedet.[12] Die Organisationen, die diese Resolutionen hätten verwirklichen sollen, sind wohlbekannt: Der Oberste Sowjet der Volkswirtschaft, die Gosplan, der Sowjet für Arbeit und Verteidigung und das Politbüro als das führende politische Organ.

Was bedeutet die Schaffung einer außerordentlichen Kommission unter solchen Umständen? Dass die bestehenden Organe, deren direkte Aufgabe darin bestand, zu den geringstmöglichen Kosten zu produzieren, nicht die notwendigen Ergebnisse erzielt haben. Was kann eine außerordentliche Kommission erreichen? Von der Seite her kann sie hie und da die Dinge in Bewegung bringen, einen Anstoß in die richtige Richtung geben, auf bestimmten Maßnahmen bestehen und schließlich einfach auf administrativem Wege die Herabsetzung diverser Preise anordnen. Doch es ist vollkommen offenkundig, dass eine mechanische Herabsetzung der Preise durch die staatlichen Organe unter dem Einfluss politischer Motive in der Mehrzahl der Fälle nur die Zwischenhändler bereichern und sich kaum auf den Bauernmarkt auswirken wird.

Ein wirkliches Schließen der Schere[13], d.h. eine Annäherung an eine tatsächliche, wirkliche wirtschaftliche Smytschka, kann nur auf organischem Wege erreicht werden: durch streng geplante Konzentration, durch eine organische, nicht überstürzte Senkung der Produktionskosten und durch eine Garantie der tatsächlichen Verantwortlichkeit der Leiter für die Methoden und Ergebnisse ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Allein die Gründung einer Kommission zur Herabsetzung der Preise ist ein beredter und vernichtender Beweis dafür, dass eine Politik, die die Bedeutung einer planmäßigen operativen Regulierung ignoriert, unter dem Einfluss ihrer eigenen unausweichlichen Folgen wieder zu Versuchen eines kriegskommunistischen Kommandierens über die Preise gezwungen wird. Das eine ergänzt das andere und untergräbt die Wirtschaft, anstatt ihren Zustand zu bessern.

Graphische Darstellung der "Scherenkrise", die Trotzki auf dem 12. Parteitag erläuterte, wo er ein ähnliches Diagramm präsentierte, um das Auseinanderklaffen der landwirtschaftlichen und industriellen Preise zu illustrieren [Photo by Volunteer Marek / CC BY-SA 3.0]

8. Das ungeheure Auseinanderklaffen der Preise zusätzlich zu der Belastung durch eine einheitliche Steuer, die hauptsächlich deswegen bedrückend wirkt, weil sie nicht auf die bestehenden, wirtschaftlichen Verhältnisse abgestimmt ist, hat von neuem die äußerste Unzufriedenheit der Bauern hervorgerufen. Diese wirkte sich sowohl direkt als auch indirekt auf die Stimmung der Arbeiter aus. Schließlich hat die veränderte Stimmung der Arbeiter jetzt auch die unteren Ränge der Partei ergriffen. Oppositionelle Gruppierungen sind aktiv geworden und haben sich vergrößert. Ihre Unzufriedenheit hat sich verschärft.

So hat sich die Smytschka – vom Bauern über den Arbeiter zur Partei – in umgekehrter Richtung gegen uns gewandt. Wer das nicht vorhergesehen oder bis zum letzten Moment davor die Augen verschlossen hat, der hat eine recht anschauliche Lektion erhalten. Die allgemeinen Agitationsformeln der Smytschka führen zu direkt entgegengesetzten Ergebnissen, wenn das zentrale Problem nicht gelöst wird: die Rationalisierung der staatlichen Produktion und das Schließen der Schere. Das war der Kern der harten Auseinandersetzung innerhalb des Politbüros am Vorabend des 12. Parteitags. Das Leben hat diesen Streit unwiderlegbar entschieden. Diese grausame Lehre, deren Lösung wir noch nicht in Angriff genommen haben, hätte man sich mindestens – zur Hälfte, wenn nicht zu drei Vierteln – ersparen können, wenn man auch nur annähernd die Wechselwirkung zwischen den wirtschaftlichen Faktoren berücksichtigt hätte und in geplanter Weise an die Grundprobleme der Wirtschaft herangetreten wäre.

9. Als eine der wichtigsten Aufgaben des neuen ZK bezeichnete der 12. Parteitag die sorgfältige persönliche Auswahl der Wirtschaftler von oben nach unten.[14] Die Aufmerksamkeit des Organisationsbüros auf dem Gebiet der Funktionärsauswahl ging jedoch in eine völlig andere Richtung. Bei Ernennungen, Entlassungen und Versetzungen wurden Parteimitglieder vor allem unter dem Aspekt beurteilt, in welchem Maße sie für die Unterstützung der innerparteilichen Ordnung förderlich oder hinderlich sein könnten, die – heimlich und inoffiziell, aber umso wirkungsvoller – durch das Organisationsbüro und das Sekretariat des ZK durchgesetzt worden ist.

Auf dem 12. Parteitag war gesagt worden, dass als Mitglieder des ZK „unabhängige“[15] Leute gebraucht würden. Dieses Wort bedarf jetzt keiner Kommentare mehr. Danach begann die Einführung des Kriteriums der „Unabhängigkeit“ bei der Ernennung von Sekretären der Gouvemementskomitees durch das Generalsekretariat[16] und weiter von oben nach unten, bis zur letzten Zelle. Dieser Auswahlprozess der Parteihierarchie aus Genossen, die vom Sekretariat als unabhängig im obengenannten Sinne des Wortes angesehen werden, entwickelte sich mit unerhörter Intensität. Es ist nicht nötig, an dieser Stelle gesonderte Beispiele anzuführen, da die gesamte Partei über Hunderte bekannter Fälle unterrichtet ist und darüber spricht. Ich möchte nur auf die Ukraine verweisen, wo wir in den kommenden Monaten zwangsläufig mit schwerwiegenden Folgen dieser wahrlich destruktiven Arbeit konfrontiert sein werden.[17]

Christian Rakowski, einer von Trotzkis engsten Verbündeten, wurde 1923 aus seinem Amt als Führer der Sowjetregierung der Ukraine entfernt

10. Zum schlimmsten Zeitpunkt des Kriegskommunismus hatte das Kooptationswesen innerhalb der Partei auch nicht ein Zehntel der Verbreitung wie heute. Die Ernennung der Sekretäre der Gouvernementskomitees ist jetzt die Regel. Das schafft für die Sekretäre eine im Wesentlichen von den örtlichen Organisationen unabhängige und unkontrollierbare Position. Im Falle von Opposition, Kritik und Unzufriedenheit nimmt der Sekretär seine Zuflucht zu Versetzung, wobei er sich der Zentrale bedient. Auf einer der Sitzungen des Politbüros wurde mit Befriedigung erklärt, dass bei der Zusammenlegung eines Gouvernements die einzige Frage, die die zusammengelegten Organisationen interessierte, die war, wer der Sekretär des vereinigten Gouvemementskomitees sein werde. Der von der Zentrale ernannte und eben dadurch von der örtlichen Organisation nahezu unabhängige Sekretär bildet seinerseits die Quelle weiterer Ernennungen und Entlassungen im Gebiet des Gouvernements. Der von oben nach unten geschaffene Sekretärsapparat zieht in immer stärker eigengesetzlicher Weise alle Fäden an sich. Die Teilnahme der Parteimassen an der wirklichen Formierung der Parteiorganisationen wird immer illusorischer.

Es ist in den letzten ein bis anderthalb Jahren eine besondere Sekretärspsychologie entstanden, deren wesentlicher Zug in der Überzeugung besteht, dass der Sekretär in der Lage ist, jede beliebige Frage ohne Vertrautheit mit dem Wesen der Sache zu entscheiden. Wir können regelmäßig beobachten, wie ein Genosse, der keinerlei organisatorische, administrative oder sonstige Fähigkeiten gezeigt hat, solange er an der Spitze einer Sowjetinstitution stand, wirtschaftliche und andere Fragen herrisch zu lösen beginnt, sobald er auf den Posten eines Sekretärs gerät. Eine solche Praxis ist umso schädlicher, weil sie das Verantwortungsgefühl schwächt und vernichtet.

11. Der 10. Parteitag verlief unter dem Zeichen der Arbeiterdemokratie.[18] Viele Worte von damals, die zum Schutz der Arbeiterdemokratie gesagt wurden, erschienen mir übertrieben und in erheblichem Umfang demagogisch angesichts der Unvereinbarkeit einer vollen, bis ins letzte entwickelten Arbeiterdemokratie mit der Ordnung der Diktatur. Doch es war vollkommen klar, dass die Einengung der Epoche des Kriegskommunismus lebendigeren und umfassenderen Formen der Parteiöffentlichkeit Platz machen muss. Die Ordnung jedoch, die im Grunde schon vor dem 12. Parteitag errichtet worden ist und danach ihre endgültige Festlegung und Formulierung erhalten hat, ist weiter entfernt von Arbeiterdemokratie als die Ordnung der schlimmsten Tage des Kriegskommunismus.

Die Bürokratisierung des Parteiapparats hat durch die bei der Sekretärsauswahl angewendeten Methoden eine unerhörte Entwicklung genommen. Wenn wir in den schlimmsten Stunden des Bürgerkriegs in den Parteiorganisationen und sogar in der Presse über die Heranziehung von Spezialisten, über Partisanenwesen und reguläre Armee, über Disziplin usw. gestritten haben, dann ist jetzt an einen derart offenen Gedankenaustausch über Fragen, die wirklich die Partei bewegen, nicht einmal auch nur zu denken. Es hat sich eine überaus breite Schicht von im Staats- oder Parteiapparat tätigen Parteiarbeitern gebildet, die eine eigene Parteimeinung geradezu aufgegeben haben, zumindest eine öffentlich geäußerte, so als meinten sie, dass die Sekretärshierarchie derjenige Apparat sei, welcher Parteimeinungen und Parteientscheidungen hervorbringe. Unter dieser Schicht, die sich einer eigenen Meinung enthält, zieht sich die breite Schicht der Parteimassen hin, denen gegenüber sich jede Entscheidung schon als eine Art Aufruf oder Befehl darstellt. In dieser breiten Masse der Basis der Partei herrscht außerordentlich starke Unzufriedenheit, sowohl vollkommen berechtigte als auch durch zufällige Ursachen hervorgerufene.

Diese Unzufriedenheit wird nicht auf dem Wege offenen Gedankenaustauschs auf Parteiversammlungen und auf dem Wege des Einwirkens der Massen auf die Parteiorganisationen (Wahl der Parteikomitees, der Sekretäre usw.) beseitigt, sondern sie sammelt sich im Stillen an und führt dann zu inneren Geschwüren. In einer Zeit, da der offizielle, d.h. Sekretärsapparat der Partei immer mehr das Bild einer Organisation bietet, die eine fast völlige Geschlossenheit erreicht hat, gehen Überlegungen und Urteile über die dringendsten und brennendsten Fragen einfach am offiziellen Parteiapparat vorbei und bereiten den Boden für illegale Gruppierungen innerhalb der Partei.

Lenin und Trotzki inmitten von Delegierten des 10. Parteikongresses der Russischen Kommunistischen Partei, Moskau 1921

12. Auf dem 12. Parteitag wurde offiziell Kurs auf die „alten Bolschewiken“ genommen.[19] Es ist vollkommen offensichtlich, dass die Kader der alten Bolschewiki aus dem Untergrund die revolutionäre Hefe und das organisatorische Rückgrat der Partei darstellen. Wir müssen und sollten mit allen normalen ideologischen Mitteln und Maßnahmen der Partei die Auswahl alter Bolschewiki, natürlich mit den erforderlichen Qualifikationen, für die führenden Parteiposten fördern.

Aber die Art und Weise, wie diese Auswahl heute stattfindet – die Methode der direkten Ernennung von oben – birgt eine große Gefahr: Mit dieser Methode werden die alten Bolschewiki von oben nach Maßgabe des Kriteriums der „Unabhängigkeit“ in zwei Gruppen eingeteilt. Der alte Bolschewismus an sich wird daher in den Augen der Gesamtpartei gewissermaßen für alle Absonderlichkeiten des gegenwärtigen innerparteilichen Regimes und für die schweren Fehler beim wirtschaftlichen Aufbau verantwortlich gemacht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder aus jungen Revolutionären besteht, die nicht im Untergrund gestählt wurden, oder aus Mitgliedern, die von anderen Parteien zu uns gekommen sind. Die wachsende Unzufriedenheit über den eigengesetzlichen Sekretärsapparat, der sich mit dem alten Bolschewismus identifiziert, kann, wenn sich die Dinge auf diesem Wege weiterentwickeln, schwere Folgen für die Bewahrung der ideologischen Hegemonie und organisatorischen Führung der Untergrund-Bolschewiken in unserer Partei haben, die nun eine halbe Million Mitglieder zählt.

Lew Kamenew und Leo Trotzki mit Delegierten des 12. Parteikongresses der Russischen Kommunistischen Partei, Moskau April 1923

13. Ein schlimmes Symptom war der Versuch des Politbüros, den Etat auf dem Verkauf von Wodka aufzubauen[20], d.h. die Einkünfte des Arbeiterstaates von den Erfolgen der Wirtschaftsorganisation unabhängig zu machen. Nur der entschiedene Protest innerhalb und außerhalb des ZK vereitelte einstweilen diesen Versuch, der nicht nur der Wirtschaftsarbeit, sondern auch der Partei selbst einen äußerst schweren Schlag versetzt hätte. Doch der Gedanke an eine weitere Legalisierung des Wodkas ist vom ZK auch bis jetzt noch nicht verworfen worden. Es besteht absolut kein Zweifel, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen dem eigengesetzlichen Charakter der Sekretärsorganisation, die immer unabhängiger von der Partei wird, und der Tendenz gibt, einen von Erfolg oder Misslingen der kollektiven Aufbautätigkeit nach Möglichkeit unabhängigen Etat zu entwerfen. Der Versuch, die ablehnende Haltung gegenüber der Legalisierung des Wodkas zu einem regelrechten Verbrechen gegen die
Partei zu machen, und die Entfernung eines Genossen aus der Redaktion des Zentralorgans, der die Freiheit zur Erörterung dieses verhängnisvollen Plans verlangt hatte, werden für immer zu den unwürdigsten Momenten in der Geschichte der Partei gehören.

14. Die Armee war und ist von der unsystematischen Wirtschaftsleitung und dem oben charakterisierten Parteiregime nicht weniger schwer betroffen. Die Beschlüsse des Politbüros hinsichtlich der Armee tragen stets episodischen oder zufälligen Charakter. Die Grundfragen des Aufbaus der Armee oder ihrer Vorbereitung auf Militereinsätze sind im Politbüro niemals behandelt worden, da das Politbüro, das mit einer Vielzahl anderer Fragen überlastet ist, niemals Gelegenheit hat, auch nur ein einziges Problem in allen Einzelheiten und in geplanter, systematischer Weise zu untersuchen. Wirtschaftliche und internationale Ereignisse rufen beim Politbüro innerhalb kürzester Frist direkt entgegengesetzte Beschlüsse zur Armee hervor.

Um nicht zu sehr in die Einzelheiten dieser Frage zu gehen, werde ich nur darauf hinweisen, dass zur Zeit des Curzon-Ultimatums[21] im Politbüro zwei Mal die Frage gestellt wurde, ob die Armee um 100.000 oder 200.000 Mann vergrößert werden sollte. Nur mit großer Mühe konnte dieser Vorschlag abgeschmettert werden. Im Juli, als ich im Urlaub war, wies das Zentralkomitee den Revolutionären Militärrat [Rewwojensowjet] an, einen Plan zur Reduzierung der Armee um 50.000 oder 100.000 Mann auszuarbeiten. Der Generalstab arbeitete im Juli und August fieberhaft an diesem Auftrag.

Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee zur Zeit des Bürgerkriegs, nach der Oktoberrevolution

Ende August wurde er wegen der Ereignisse in Deutschland[22] widerrufen und durch die Anweisung ersetzt, einen Plan zur Stärkung der Armee zu entwerfen. Jede solche Anweisung, die komplexe und schwierige Planungen erfordert, löst eine Serie von entsprechenden Vorschlägen, Anweisungen und Fragen vom Zentrum an die abgelegenen Distrikte aus. In letzteren entsteht der Eindruck, dass dem Rewwojensowjet bei seiner Arbeit jede Leitlinie fehlt. Ein Mitglied des Zentralkomitees, das, sollte man meinen, wissen müsste, auf welche Beweggründe diese Beschlüsse zurückzuführen sind, ging so weit, eben diese Schlussfolgerung über die widersprüchlichen Anweisungen des Rewwojensowjets in einer Militärzeitschrift des ukrainischen Militärdistrikts in gedruckter Form zu äußern.

Was die Auswahl der Partei unter Aufsicht der offiziellen Parteiinstitutionen angeht, so versetzt sie dem moralischen Zusammenhalt der Armee keinen geringeren Schlag. Genau dieselbe systematische Arbeit, die von oben gegen (beispielsweise) den alten ukrainischen Sownarkom gerichtet wurde, traf und trifft auch den Rewwojensowjet dieser Republik. Das Werk schreitet in letzterem Falle etwas langsamer und in etwas vorsichtigeren und versteckteren Formen voran. Aber im Wesentlichen erlebt man hier wie dort vor allem die Ernennung von Personal, das bereit ist, zur Isolierung der führenden Armee-Organe beizutragen.

Von oben her wird ein doppeltes Spiel in die inneren Beziehungen des Militärapparats hineingetragen. Für gewöhnlich indirekt, aber gelegentlich auch recht offen, wird der Rewwojensowjet der Partei entgegengestellt, obwohl es kaum eine andere Sowjetinstitution gibt, die sich so streng an Buchstaben und Geist nicht nur der Parteitagsbeschlüsse, sondern auch aller Resolutionen des Politbüros hält. Der Rewwojensowjet duldet in seinen Räumen weder eine Verurteilung noch auch nur eine Diskussion über diese Beschlüsse, obwohl sie sich, wie oben ausgeführt, nicht immer durch Umsicht oder Koordination auszeichnen.

Der einfachste Schritt bestünde darin, den Rewwojensowjet zu ersetzen. Vorerst entschließt sich das Organisationsbüro noch nicht zu diesem Schritt, aber es treibt seine Organisationspolitik im militärischen Bereich voran und zwingt damit das gesamte ernsthafte Personal in der Armee, sich die Frage zu stellen: Wo wird dieses Werk enden und wohin führt es?

15. Die Sicherstellung der Kampffähigkeit der Armee hängt heute zu neun Zehnteln nicht von der Kriegsbehörde, sondern von der Industrie ab. Der generell unsystematische Charakter der Wirtschaft wirkt sich selbstredend voll und ganz auf die Industrie aus, die die Armee beliefert. Das Auswechseln des Führungspersonals, das auch hier nach Maßgabe des Kriteriums der „Unabhängigkeit“ stattfand, ging in einem solchen Tempo vor sich, dass die Produktion für das Militär, die in der heutigen außerordentlich verantwortlichen Periode mit zehnfacher Energie hätte vorangehen müssen, beinahe drei Monate lang praktisch ohne wirkliche Führung blieb.

Anstatt sich um die Industrie überhaupt und um die Militärindustrie insbesondere zu kümmern, wurde auf dem letzten Plenum der Versuch unternommen, eine Gruppe von ZK-Mitgliedern unter der Führung von Stalin in den Rewwojensowjet hineinzuschicken[23]. Abgesehen von der innerparteilichen Bedeutung dieser Maßnahme, die keiner Erläuterung bedarf, werden unsere Nachbarn die bloße Ankündigung eines neuen Rewwojensowjet zwangsläufig als Übergang zu einer neuen, d.h. aggressiven Politik auffassen. Nur mein auf das Entschiedenste geäußerter Protest hielt das Plenum von der sofortigen Durchführung der genannten Maßnahme ab. Das Plenum verschob die Schaffung eines neuen Rewwojensowjets „bis zur Mobilmachung“.

Auf den ersten Blick erscheint unerklärlich, weshalb wir einen derartigen Vorschlag im Voraus verwirklichen und in Dutzenden Exemplaren in Umlauf bringen sollten, wenn doch absolut nicht bekannt ist, wann, unter welchen Umständen und ob überhaupt eine Mobilmachung notwendig sein wird, und wen genau die Partei dann mit der Militärarbeit beauftragt. Aber in Wirklichkeit zählt diese Direktive, die auf den ersten Blick so unklar erscheint, zu den indirekten Vorbereitungen auf das oben erwähnte Ziel. Sie sind typisch für die Praxis der Mehrheit im Politbüro und im Organisationsbüro.

Darüber hinaus beschloss das Plenum, dem Rewwojensowjet sofort ein oder zwei Mitglieder des Zentralkomitees „mit dem besonderen Auftrag zur Überwachung der Militärindustrie“ beizuordnen, obwohl diese in keiner Weise dem Rewwojensowjet untersteht und beinahe drei Monate lang ohne Leiter gewesen war. Auf dieser Grundlage ließ das Politbüro die Genossen Laschewitsch und Woroschilow[24] in den Rewwojensowjet aufnehmen. Genosse Woroschilow, „mit dem besonderen Auftrag zur Überwachung der Militärindustrie“ betraut, verbleibt unterdessen in Rostow. Im Wesentlichen ist auch diese Maßnahme, wie oben erwähnt, eine vorbereitende.

Nicht umsonst hat Kuibyschew[25] auf den ihm von mir gemachten Vorwurf, dass die wirklichen Motive des Vorschlags über die Ablösungen im Militärischen Revolutionsrat nichts mit den offiziell erklärten Motiven zu tun hätten, diesen Widerspruch nicht nur nicht bestritten – wie hätte er sich auch bestreiten lassen? – sondern mir offen gesagt: „Wir halten es für notwendig, gegen Sie zu kämpfen, doch wir können Sie nicht zum Feind erklären. Daher sind wir gezwungen, derartige Methoden anzuwenden.“

16. Die gegenwärtig rasch zunehmende Krise in der Partei kann natürlich nicht mit Repressionsmaßnahmen überwunden werden, unabhängig davon, wie berechtigt oder unberechtigt sie in jedem gegebenen Falle sein mögen. Die objektiven Schwierigkeiten der Entwicklung sind sehr groß. Sie werden durch das von Grund auf verkehrte Parteiregime aber nicht verringert, sondern verstärkt, indem die Aufmerksamkeit von kreativen Aufgaben abgelenkt und auf innerparteiliche Gruppierungen gerichtet wird, indem – oft unter Missachtung seiner Stellung in Partei oder Sowjet – Personal künstlich ausgewählt wird, indem eine geachtete und kompetente Führung durch formale Befehle ersetzt wird, bei denen man ausschließlich auf den passiven Gehorsam aller rechnet.

Dieses innerparteiliche Regime, das die wirtschaftliche Entwicklung untergräbt, war und ist der unmittelbare Grund für die wachsende Unzufriedenheit mancher, für die Apathie und Passivität anderer, und für die praktische Entfernung wieder anderer von ihrer Arbeit. Vielleicht könnte die Partei zeitweilig mit dem gegenwärtigen unterdrückerischen innerparteilichen Regime leben, wenn es wirtschaftliche Erfolge sicherstellen würde. Aber das ist nicht der Fall. Deshalb kann dieses Regime nicht lange dauern. Es muss geändert werden.

17. Hatten der unsystematische Charakter der Wirtschaftspolitik und der Sekretärsbürokratismus in der Parteipolitik schon vor dem 12. Parteitag Unruhe ausgelöst, so hat wohl andererseits niemand erwartet, dass diese Politik derart rasch ihren Bankrott enthüllen würde. Die Partei tritt in die vielleicht entscheidendste Epoche der Geschichte mit der schweren Last der Fehler ihrer führenden Organe. Die Aktivität der Partei ist erstickt. Mit großer Sorge blickt die Partei auf die schreienden Widersprüche unserer Wirtschaftsarbeit mit all ihren Folgen. Mit vielleicht noch größerer Sorge sieht die Partei die Zerstrittenheit, die um den Preis der Lähmung der führenden Partei und der Sowjetorgane von oben in ihre Reihen getragen wird.

Die Partei weiß, dass die offiziellen Motive für Ernennungen, Entlassungen, Ablösungen und Versetzungen in keiner Weise den wahren Motiven entsprechen oder der Sache dienen. Das Ergebnis ist der Zusammenbruch der Partei. Zum 6. Jahrestag der Oktoberrevolution und am Vorabend der Revolution in Deutschland ist das Politbüro genötigt, den Entwurf einer Verordnung zu erörtern, der besagt, dass jedes Parteimitglied verpflichtet ist, den Parteiorganisationen und der GPU von illegalen Gruppierungen in der Partei Mitteilung zu machen. Es ist völlig offensichtlich, dass eine solche Ordnung und ein solcher Zustand der Partei unvereinbar mit den Aufgaben sind, die der Partei allein aus der Tatsache der deutschen Revolution erwachsen können und aller Wahrscheinlichkeit nach erwachsen werden.

Dem Bürokratismus der Sekretäre muss ein Ende bereitet werden. Die Parteidemokratie muss zumindest in den Bereichen, in denen der Partei Verknöcherung und Entartung drohen, zu ihrem Recht kommen. Die unteren Schichten der Partei müssen sich im Rahmen der Parteiprinzipien darüber äußern, womit sie nicht zufrieden sind; sie müssen die tatsächliche Möglichkeit erhalten, in Übereinstimmung mit den Parteistatuten und, was die Hauptsache ist, mit dem Gesamtsinn unserer Partei ihren organisatorischen Apparat zu gestalten. Entsprechend den wirklichen Anforderungen unserer Arbeit, vor allem in der Industrie und insbesondere in der Militärproduktion, müssen die Kräfte der Partei umgruppiert werden.

Ohne die Beschlüsse des 12. Parteitags zur Industrie wirklich auszuführen, ist es unmöglich, einem stabilen Lohnniveau für die Arbeiter und dessen systematischer Anhebung auch nur nahezukommen. Der schmerzloseste und kürzeste Ausweg aus dieser Lage würde darin bestehen, dass die gegenwärtig führende Gruppe alle Folgen des von ihr künstlich aufrechterhaltenen Regimes anerkennt und ihre aufrichtige Bereitschaft unter Beweis stellt, sich an der Umorientierung des Parteilebens in eine gesündere Richtung zu beteiligen. In diesem Falle könnten die Methoden und organisatorischen Formen für einen Kurswechsel problemlos gefunden werden. Die Partei würde freier atmen. Genau dies ist der Weg, den ich dem Zentralkomitee vorschlage.

Joseph Stalin im Jahr 1943 [AP Photo]

18. Den Mitgliedern von ZK und ZKK ist bekannt, dass ich mit aller Entschiedenheit und Bestimmtheit im ZK gegen eine falsche Politik, insbesondere hinsichtlich der Wirtschaft und des Parteiregimes, gekämpft habe, dass ich es jedoch grundsätzlich vermieden habe, den Kampf im ZK auch nur einem sehr engen Kreis von Genossen zur Beurteilung vorzutragen. Das gilt auch für Genossen, die bei einem einigermaßen richtigen Parteikurs einen bedeutenden Platz in ZK und ZKK einnehmen müssten. Ich muss feststellen, dass meine anderthalbjährigen Bemühungen[26] zu keinem Resultat geführt haben. Es droht dazu zu kommen, dass die Partei in eine plötzliche Krise von ungewöhnlicher Schärfe gerät, und in dem Fall hätte die Partei das Recht, jedem, der die Gefahr sah, sie aber nicht offen beim Namen nannte, vorzuwerfen, dass er die Form höher stellte als den Inhalt.

Angesichts der eingetretenen Lage halte ich es nicht nur für mein Recht, sondern auch für meine Pflicht, das, was ist, jedem Parteimitglied mitzuteilen, das ich für genügend geschult, reif, diszipliniert und infolgedessen fähig halte, der Partei dabei zu helfen, ohne fraktionelle Krämpfe und Erschütterungen aus der Sackgasse herauszufinden.

L. Trotzki


[1]

L.D. Trotzkis Brief wurde unter folgenden Bedingungen geschrieben: 1) die immer schärfere Wirtschaftskrise im Land, die das „Smytschka“ [Bündnis] zwischen Arbeitern und Bauern zu zerbrechen drohte, 2) die zunehmende Bürokratisierung des Parteiapparats und 3) das spürbar aktive Vorgehen der herrschenden so genannten „Troika“ (G.E. Sinowjew, L.B. Kamenew und J.W. Stalin), die darauf abzielte, L.D. Trotzki zu diskreditieren und politisch zu isolieren. Der Anlass für das Schreiben war der Beschluss des ZK-Plenums vom September 1923, die Zusammensetzung des Revolutionären Militärrats der Republik (Rewwojensowjet) zu ändern und sechs Mitglieder des Zentralkomitees der Partei in ihn aufzunehmen. Der Brief wurde vor seiner Veröffentlichung im Mai 1990 in der Izvestiia TsK KPSS niemals vollständig veröffentlicht. Verschiedene Auszüge daraus erschienen zuerst in der Zeitschrift Sotsialisticheskii vestnik [Sozialistischer Herold] (Berlin) Nr. 11(81) vom 24. Mai 1924, S. 9–10 und in der sowjetischen Presse, in der Zeitschrift Molodoi kommunist [Junger Kommunist] 1989, Nr. 8, S. 49.

[2]

Gemeint ist die Kommission, die sich aus F. E. Dserschinski, G. E. Sinowjew, W. M. Molotow, A. I. Rykow, J. W. Stalin und M. P. Tomski zusammensetzte und gemäß einem Beschluss des Politbüros des ZK vom 18. September 1923 zur Analyse der wirtschaftlichen und innerparteilichen Lage gebildet wurde. Trotzki wurde Anfang November zum Mitglied der Kommission ernannt, sah sich jedoch gezwungen, bis zum 14. November aus der Kommission auszuscheiden, da er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands und der Arbeitsüberlastung in anderen Kommissionen an keiner einzigen Sitzung teilnehmen konnte. In seinem Schreiben, in dem er seinen Rückzug aus der Kommission begründete, wies er darauf hin, dass die Sitzungen der Kommission häufig kurzfristig anberaumt wurden, was es ihm „physisch unmöglich“ machte, an den Sitzungen teilzunehmen. Die aktive Teilnahme an den Sitzungen war zuvor vom PB für seine Mitglieder zur Pflicht gemacht worden.

[3]

Dies bezieht sich auf „Arbeiterwahrheit“ und „Arbeitergruppe der KPR“. Die Gruppe „Arbeiterwahrheit“ war innerhalb der KPR (B) eine illegale Gruppe, die im Frühjahr 1921 entstanden war. Ihre Teilnehmer waren der Meinung, dass die KPR (B) [Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki)] mit dem Übergang zur NEP „ihre Bindungen und Kontakte zum Proletariat unwiderruflich verlieren“ werde. Die „Arbeiterwahrheit“ setzte sich zum Ziel, „Klassenklarheit in die Reihen der Arbeiterklasse zu bringen“. In einigen ihrer illegalen Veröffentlichungen stellte sie sich die Aufgabe, eine neue Arbeiterpartei zu gründen. Die „Arbeitergruppe der KPR“ wurde im Frühjahr und Sommer 1923 von G. Mjasnikow und N. Kusnezow, Mitgliedern der ehemaligen „Arbeiteropposition“, die aus der Partei ausgeschlossen worden waren, gegründet. Ihr schlossen sich mehrere alte Bolschewiki an, die sich den Beschlüssen des 10. und 11. Kongresses der KPR (B) über die Unzulässigkeit innerparteilicher Gruppierungen nicht unterordneten. Die „Arbeitergruppe der KPR“ hielt es für notwendig, in allen Fabriken und Betrieben Sowjets (Räte) von Arbeiterdeputierten zu bilden, die Direktoren von Trusts und Syndikaten auf Sowjetkongressen zu wählen, bei der Leitung der Industrie dem Prinzip der „proletarischen Demokratie“ zu folgen, die Gewerkschaften zu Kontrollorganen zu machen, den Sowjet der Volkskommissare abzuschaffen und „die herrschende Gruppe in der Partei zu beseitigen“, die sich „entscheidend von der Arbeiterklasse gelöst hat“. Das Plenum des ZK der KPR (B) stellte im September 1923 fest, die Gruppen „Arbeiterwahrheit“ und „Arbeitergruppe der KPR“ leisteten „antikommunistische und antisowjetische Arbeit“, und es erklärte, dass die Teilnahme an ihnen mit der Mitgliedschaft in der KPR (B) unvereinbar sei. Durch einen Beschluss der Zentralen Kontrollkommission vom Dezember 1923 wurden aktive Teilnehmer dieser Gruppen aus der Partei ausgeschlossen.

[4]

Der 12. Parteitag der KPR (B) tagte vom 17. bis 25. April 1923 in Moskau. Wenn L.D. Trotzki von den „Mittel und Methoden“ spricht, mit denen der Parteitag einberufen wurde, denkt er an die Tatsache, dass an seinem Vorabend auf vielen Provinzparteitagen die Delegierten für den Parteitag ohne Ersatzkandidaten auf Empfehlung der Sekretäre der Provinzkomitees gewählt wurden, die ihrerseits seit Sommer 1922 auf Empfehlung des Zentralkomitees gewählt worden waren, d.h. sie wurden faktisch vom Sekretariat ernannt, das von Joseph Stalin geleitet wurde.

[5]

Ein Teil von Trotzkis Thesen wurde in der Ausgabe Stenograficheskii otchet 12-ogo s'ezda RKP/b v Moskve, [Stenografische Aufzeichnung des 12. Parteitags der KPR (B)] Moskau 1968, S. 810–815 abgedruckt.

[6]

Für einen Teil dieser Korrespondenz, siehe ebd., S. 816–820.

[7]

Vgl. ebd., S. 675–688.

[8]

Hier bezieht sich Trotzki auf W.I. Lenins Werk „Über die Übertragung von Gesetzgebungsfunktionen an den Gosplan“ (vgl. W.I. Lenin Werke, Bd. 45).

[9]

Alexej I. Rykow (1881–1938), Parteimitglied seit 1898, 1923 Mitglied des Politbüros des ZK, Vorsitzender des Obersten Sowjets der Volkswirtschaft, stellvertretender Vorsitzender des Sowjets der Volkskommissare und des Sowjets für Arbeit und Verteidigung. Im Jahr 1917 und danach war er ein prominenter Vertreter des rechten Flügels der bolschewistischen Führung. Juri (Grigorii) L. Pjatakow, (1890–1937), Parteimitglied seit 1910, 1923 stellvertretender Vorsitzender von Gosplan und des Obersten Sowjets der Volkswirtschaft. Er wurde ein Führer der Linken Opposition.

[10]

Stenograficheskii otchet 12-ogo s'ezda RKP/b v Moskve, S. 327–328.

[11]

Trotzki bezieht sich auf das Septemberplenum 1923 des Zentralkomitees der KPR (B).

[12]

Stenograficheskii otchet 12-ogo s'ezda RKP/b v Moskve, S. 680–681.

[13]

Die „Preisschere“ war die wachsende Kluft zwischen den Preisen für industrielle und landwirtschaftliche Güter. Anfang Oktober 1923 lag der Index der Einzelhandelspreise im Vergleich zu den Preisen von 1913 bei 187 bzw. 58 [wobei 1913=100] (Ekonomicheskaia zhizn', 11. Oktober 1923).

[14]

Stenograficheskii otchet 12-ogo s'ezda RKP/b v Moskve, S. 673.

[15]

Vgl. ebd., S. 68, 200–201; siehe auch Anmerkung 4.

[16]

Trotzki bezieht sich hier auf das Sekretariat des Zentralkomitees, das von Josef Stalin geleitet wurde.

[17]

Trotzki bezieht sich auf die Absetzung des Vorsitzenden des Sownarkom [Rat der Volkskommissare] in der Ukraine, C. G. Rakowski – einer seiner engsten Gesinnungsgenossen und ein künftiger Führer der Linken Opposition – und die Ersetzung vieler Sowjetmitarbeiter nach dem Juni–Plenum 1923 des Zentralkomitees der ukrainischen Kommunistischen Partei.

[18]

Der 10. Kongress der KPR (B) fand vom 8. bis 16. März 1921 in Moskau statt. Auf ihm wurde unter anderem eine Resolution „Zu den Fragen des Parteiaufbaus“ verabschiedet, in der von der Notwendigkeit der Demokratisierung des innerparteilichen Lebens die Rede ist (vgl. Stenograficheskii otchet desiatogo s'ezda RKP (b) [Stenografisches Protokoll des Zehnten Kongresses der KPR (B)], Moskau 1963, S. 559–571).

[19]

Stenograficheskii otchet 12-ogo s'ezda RKP/b v Moskve, S. 705–706.

[20]

Auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPR (B) am 26. und 27. Juni 1923 wurde die Frage der Einführung eines staatlichen Monopols für den Verkauf von Wodka diskutiert. In seinen damaligen Briefen, insbesondere in einem Schreiben an das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission der KPR (B) vom 29. Juni, protestierte Trotzki kategorisch gegen diese Maßnahme.

[21]

Das Memorandum des britischen Außenministers G. Curzon vom 8. Mai 1923 erwies sich als ein erfolgloser Versuch, Druck auf die sowjetische Regierung auszuüben. Der Vorfall provozierte eine kurzzeitige Verschlechterung der sowjetisch–britischen Beziehungen, was sich jedoch rasch erledigte und sogar zur Stärkung der internationalen Position der UdSSR beitrug.

[22]

Dies bezieht sich auf die revolutionären Ereignisse in Deutschland, die sich im Sommer 1923 abzeichneten. Siehe auch: Peter Schwarz, „Deutschland 1923: Die verpasste Revolution“.

[23]

Dies bezieht sich auf einen Beschluss des Septemberplenums des Zentralkomitees, mehrere Mitglieder des Zentralkomitees in den Rewwojensowjet der Republik einzuführen und unter dessen Vorsitzenden ein Exekutivorgan zu schaffen, zu dessen Mitgliedern S.S. Kamenew, G.L. Pjatakow, E.M. Skljanskij, M.M. Laschewitsch, J.W. Stalin und andere gehören sollten.

[24]

Michail M. Laschewitsch (1884–1928), Parteimitglied seit 1901. 1922–25 Vorsitzender des Sibirischen Revolutionskomitees, ab November 1925 Mitglied des Revolutionssowjets der UdSSR, 1918–1919 und 1923–1925 Mitglied des Zentralkomitees. Kliment E. Woroschilow (1881–1969), Parteimitglied seit 1903, 1921–1924 Mitglied des Südostbüros des Zentralkomitees der KPR (B), Kommandeur der Truppen des Militärbezirks Nordkaukasus. Ab 1924 Kommandeur der Truppen des Moskauer Militärbezirks, Mitglied des Rewwojensowjets der UdSSR. Mitglied des Zentralkomitees seit 1921. Woroschilow war seit dem Bürgerkrieg einer der engsten Verbündeten Stalins.

[25]

Valerian V. Kuibyschew (1888–1935), Parteimitglied seit 1904. In den Jahren 1922–1923 Sekretär des Zentralkomitees der KPR (B). Ab 1923 Vorsitzender der Zentralen Kontrollkommission und Volkskommissar der Arbeiter- und Bauerninspektion.

[26]

Trotzki bezieht sich auf die Zeit ab Frühjahr 1922, als Stalin das Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPR (B) übernahm.

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