Berliner Professoren verteidigen Gaza-Proteste

„Versammlungsfreiheit ist das Recht auf Dissens, auf abweichende Meinung. Grenzen setzt das Strafrecht und nicht die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland oder eine Beeinträchtigung der außenpolitischen Belange Deutschlands.“

So lautete ein Kernsatz auf der Bundespressekonferenz vom Dienstag, die sich mit den Protesten an Hochschulen gegen den Krieg in Gaza befasste. Professor Clemens Arzt, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin Staats- und Verwaltungsrecht unterrichtet, zeichnete ein vernichtendes Bild davon, wie Regierungen und Behörden demokratische Grundrechte missachten.

Bundespressekonferenz (v.l.): Prof. Clemens Arzt, Prof. Michael Wildt, Prof. Miriam Rürup, Prof. Michael Barenboim [Photo by Jung & Naiv / youtube / screenshot]

Neben Arzt stellten sich Professor Michael Wildt, emeritierter Historiker mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der HU Berlin, Miriam Rürup, Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums und Professorin für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam, und Michael Barenboim, Professor für Ensemblespiel und Violine an der Said-Barenboim Akademie, den Fragen der Journalisten.

Sie hatten – neben mittlerweile mehr als tausend anderen Dozenten aus dem In- und Ausland – einen offenen Brief unterzeichnet, der Studierende, die gegen den Genozid in Gaza protestieren, gegen die Repressionsmaßnahmen der Universitätsleitungen und gegen Polizeigewalt in Schutz nimmt. Medien und Regierungsvertreter hatten mit hysterischen Angriffen auf den offenen Brief reagiert. Die WSWS hat darüber berichtet.

Auf der Pressekonferenz wurden diese Angriffe kategorisch zurückgewiesen. Wildt und Rürup argumentierten für eine „kontroverse Debatten- und Streitkultur“ an den Universitäten und für die Stärkung ihrer „Selbstregulierungskräfte“.

„Studierende haben ein Recht, gegen den Terror der Hamas ebenso wie gegen den Krieg in Gaza zu demonstrieren, gegen die israelische Besatzung und für das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf gleiche Rechte, auf politische Selbstbestimmung,“ sagte Wildt. „Wo, wenn nicht an den Universitäten, zu denen Kritik, kontroverse Debatten und Streitkultur gehören, sollte es Räume geben, um diese Auseinandersetzung zu führen.“

In einer Atmosphäre, die von Polarisierung, Emotionalisierung und Pauschalisierung geprägt ist, sorgten sich viele Lehrende um ein offenes Klima in ihren Universitäten. „Diese Sorge war meine Motivation, das Statement zu unterschreiben,“ so Wildt. Antisemitismus und Rassismus dürften keinen Platz an den Universitäten haben. „Aber wer glaubt, die Polizei würde Antisemitismus vom Platz schaffen, der irrt. Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe. An den Universitäten brauchen wir Räume, in denen offen diskutiert werden kann.“

Rürup bezeichnete die Protestcamps als „Zeichen für eine gelebte Debattenkultur“. Sie plädierte dafür, „das Gespräch zu suchen“. „Aufklärung, Streit, produktiver Streit“ seien auch eine Form des Eingreifens.

Prof. Arzt zerpflückte die Rechtfertigungen, mit denen Protestcamps aufgelöst und Proteste untersagt wurden, und wies nach, dass sie eklatant gegen geltende Gesetze und die geltende Rechtsprechung verstoßen.

Er zitierte aus einer Presseerklärung der Berliner Polizei, die das brutale Vorgehen gegen ein Protestcamp an der Freien Universität (FU) am 7. Mai rechtfertigt. Die Teilnehmer einer „nicht angezeigten Kundgebung“ auf dem Gelände der FU „trugen unter anderem Palästina-Tücher, hielten Transparente hoch und skandierten zum Teil pro-palästinensische Sprechchöre“, heißt es darin. „Zeitgleich bauten sie im Hof Zelte und Pavillons auf.“ Als die Verantwortliche der FU ein Räumungsbegehren und einen Strafantrag vorlegte, „löste die Polizei die Versammlung auf“.

Arzt wies nach, dass dies in jeder Hinsicht rechtswidrig war. „Es wurden also Sprechchöre skandiert, Palästinatücher getragen und Transparente hochgehalten,“ sagte er. „Das ist das Wesen einer Versammlung im Schutzbereich des Artikel 8 Grundgesetz der Versammlungsfreiheit. Von Straftaten ist zu diesem Zeitpunkt zumindest in der Presseerklärung nicht die Rede.“ Weder die Nichtanzeige der Versammlung noch der Umstand, dass sie auf dem Gelände der Universität stattfand, könnten nach geltender Rechtslage die Auflösung rechtfertigen.

Besonders hart ging Arzt mit FU-Präsident Günter Ziegler ins Gericht, der am 17. Mai in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Auflösung des Protestcamps an der FU unter anderem mit der mangelnden Dialog- und Gesprächsbereitschaft der Protestierenden begründet hatte.

„Friedlichkeit im Sinne des Artikels 8 Grundgesetz kann nicht durch aggressive Parolen oder Inhalte von Meinungskundgaben gefährdet werden, wie die Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben haben,“ sagte Arzt dazu. „Noch so aktives Rufen von Parolen ist keine Unfriedlichkeit im Sinne des Versammlungsrechts oder im Sinne des Strafrechts. … Dialogfähigkeit und Dialogwillen sind von Artikel 8 nicht eingefordert.“

Scharf geißelte er auch das willkürliche Verbot bestimmter Parolen durch Innenministerin Nancy Faeser (SPD): „Damit entscheidet die Exekutive, nicht mehr der parlamentarische Gesetzgeber, wie zum Beispiel bei der Volksverhetzung. Bei der Leugnung des Holocaust entscheidet jetzt die Innenministerin, was noch gesagt werden darf in diesem Land. Und die Polizei setzt darauf ab und leitet die Strafverfolgung ein. Das finde ich abwegig.“

Auf die Frage, einer Journalistin, ob das Versammlungsrecht nicht „ausgenutzt“ werde, antwortete der Jurist: „Man kann Versammlungsfreiheit nicht ausnutzen. Versammlungsfreiheit ist Versammlungsfreiheit. Versammlungsfreiheit ist das Recht auf abwegigste Meinungen, egal ob die Mehrheitsgesellschaft sie trägt oder nicht.“ Die Grenze setze das Strafrecht.

Er sehe in der Bundesrepublik die Tendenz, dass das Versammlungsrecht und die Versammlungsfreiheit seitens der Exekutive mehr und mehr eingeengt werde, warnte Arzt.

Die Berliner Polizeipräsidentin sei vor einigen Wochen vor die Presse getreten und habe gesagt, sie verstehe die Diskussion um Beschränkungen der Versammlungsfreiheit gar nicht. Man habe doch von 35 Demonstrationen nur 17 verboten. „Die Aussage hat mich innerlich erschüttert, muss ich als Versammlungsrechtler gestehen,“ sagte Arzt. „Meiner Schätzung nach haben wir in den fünf Jahren vorher keine 17 Versammlungen verboten. … Die Tendenz geht immer mehr zu einer restriktiven Auslegung der Versammlungsfreiheit, die völlig dem widerspricht, was wir seit dem Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Mitte der 80er Jahre bis vor kurzem an Freiheitsrechte entwickelt haben.“

Als einziger auf dem Podium solidarisierte sich Michael Barenboim auch inhaltlich mit dem Anliegen der Protestierenden. Sein einleitender Beitrag gipfelte in dem Satz: „Für mich steht fest: Die Studierenden haben nicht nur das Recht zu protestieren, sondern sie haben recht zu protestieren.“

Der Musiker setzt sich seit langem für die Rechte der Palästinenser ein. Er ist seit 24 Jahren Mitglied des von seinem Vater, dem Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim gegründeten West-Eastern Divan Orchestra, in dem jüdische, palästinensische und Musiker aus dem ganzen Nahen Osten spielen, und hat selbst 2020 das West-Eastern Divan Ensemble gegründet.

Barenboim ging direkt auf den Grund der Studierendenproteste ein, „nämlich die vernichtende Gewalt in Gaza. Über 35.000 Tote, knapp 80.000 Verletzte und über 10.000 weitere gelten als vermisst und werden unter den Trümmern vermutet. Zerstörte Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Moscheen und Kirchen. Eine hungernde Bevölkerung, zum großen Teil mehrfach vertrieben, versucht irgendwie zu überleben, in menschenunwürdigen Umständen.“ In den ersten vier Monaten seien in Gaza mehr Kinder getötet worden, als in Konflikten weltweit innerhalb der letzten vier Jahre.

Barenboim ging darauf ein, dass Israel des Genozids vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt sei und dass diese Anklage als plausibel angesehen werden müsse. Die Richter hätten mit einer überwältigenden Mehrheit von 15 zu 2 für die Aufnahme des Falls gestimmt. Er erwähnte die Denunzierung der Palästinenser als „human animals“ durch Verteidigungsminister Galant und das Beschwören von „Amalek“ durch Premierminister Netanjahu. Die relevante biblische Passage besage: „Schone es nicht, sondern töte Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.“

Am Ende der Konferenz betonte Barenboim noch einmal, dass die Unterdrückung der Palästinenser die Ursache des Konflikts sei. Es gebe drei Kategorien von Palästinensern: In Gaza lebten sie seit vielen Jahren in einem „Freiluftgefängnis“, in der Westbank unter einer „gewaltsamen, illegalen Besatzung“, und in Israel, wo sie 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, als „Bürger zweiter Klasse“ – seit dem berüchtigten Nation State Law von 2018 sogar auch formal.

Man könne nicht zu Israel stehen als Idee und gleichzeitig die Besatzung unterstützen. Das widerspreche auch dem deutschen Grundgesetz, in dem stehe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gelte für die Palästinenser genauso. Der Holocaust sei das wahrscheinlich schlimmste Verbrechen der Menschheit. Aber ihn hätten die Deutschen begangen. „Die Palästinenser haben damit nichts zu tun. Die Palästinenser waren nicht dabei.“

Ein Stream der bemerkenswerten Bundespressekonferenz, den die Medienplattform „Jung & Naiv“ auf Youtube zur Verfügung stellte, löste im Chat einen Sturm der Begeisterung aus. Innerhalb eines Tages gab es rund 600 Kommentare, die durchweg ihre Zustimmung zum Ausdruck brachten und sich bei den teilnehmenden Professoren bedankten.

„Diese STUNDE ist in Zeiten abnehmenden Lichts ein Leuchtfeuer der Demokratie“, so ein Nutzer, der sich auf den Titel des Bestsellerromans von Eugen Ruge von 2011 bezieht. „Wahnsinnsrunde! Eigentlich viele Selbstverständlichkeiten, hätte man vor 5-10 Jahren gesagt. Aber das HEUTE so was möglich ist, ich hatte eine Stunde Tränen in den Augen ...“, konstatiert ein anderer. „Ich sitz hier mit offenem Mund und kann gar nicht glauben, wie mutig Prof. Barenboim ist – und dabei trägt er nur Fakten vor. Aber diese werden in Deutschland eben totgeschwiegen.“

In diesem Tenor geht es weiter: „Endlich mal normale Menschen“ – „Die Stimmen solcher grandiosen Persönlichkeiten brauchen wir mehr im Land“ – „Können die nicht einfach Deutschland regieren?“ – „Wow, sehr gute Standpunkte. Warum haben diese Menschen keine Beraterpositionen in der Bundesregierung?“ – „Balsam für die Seele“ – „Ich hab schon lange nicht mehr so viel Vernunft aus Deutschland gehört“, usw.

Es gibt große Sorge über die gegenwärtige Kriegspropaganda und Antisemitismus-Hetze, mit der die Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für das rechtsextreme israelische Regime begründet werden. „...Ich kritisiere die israelische Regierung sehr und auch die Waffenlieferungen Deutschlands an Israel. Ich bin aber alles andere als eine Antisemitin. Es war so verletzend, das ständig hören zu müssen“, schreibt eine Teilnehmerin. „Die Politik versagt quer durch die Bank was das Thema und die Außenpolitik anbelangt! Gerade die Einseitigkeit der Politik schürt Antisemitismus“, bemerkt eine andere.

Viele beklagen die Desinformationskampagne der öffentlichen Medien, großen Zeitungen und der Politik. „Diese Pressekonferenz sollte den ganzen Tag im deutschen Fernsehen laufen“, heißt es in einem Beitrag. Auch andere kritisieren, dass der Stream dieser BPK nicht in den öffentlichen Sendern gezeigt wird.

Eine Chat-Teilnehmerin bemerkt: „Das war mit Abstand die beste Pressekonferenz, die ich jemals in Deutschland gehört habe. Bei dem sonstigen Müll, der auf den Pressekonferenzen verteilt wird, hatte ich mehr und mehr den Eindruck, dass Deutschland unmöglich das Volk der Dichter und Denker sein kann.“

Unwillkürlich drängen sich auch Erinnerungen an die dunkle deutsche Geschichte auf. Ein Chat-Teilnehmer drückt dies mit den Worten aus: „Solch ein Dialog und solche Stimmen sind es, was Deutschland von seiner dunklen Vergangenheit (und momentan, einer auch dunklen Zukunft) erlösen kann.“

Die Diskussion lässt spüren, wie sehr in der Bevölkerung die Abscheu wächst gegen die herrschende Politik von Krieg und Repression. Je heftiger Staat und Polizei gegen junge Protestierende vorgehen, die ihre demokratischen Rechte wahrnehmen und gegen einen völkermörderischen Krieg demonstrieren, je dicker die Lügen und Verdrehungen in den Medien sind, umso mehr reift die Erkenntnis unter vielen Arbeiter und Jugendlichen, dass die Zeit für Gegenwehr auf die Tagesordnung rückt.

„Wir haben nicht nur das Recht zu protestieren, wir haben die menschliche Pflicht zu protestieren !!!“ schreibt eine Nutzerin.

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