Nach dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA haben auch die Parteien in Deutschland jede politische und moralische Hemmung verloren. Der Bundestag eröffnete seine Sitzung am gestrigen Mittwoch mit einer Gedenkstunde zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und beendete sie damit, dass er der AfD, die die Nazi-Herrschaft als „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ verharmlost, den roten Teppich ausrollte.
Erstmals in der 75-jährigen Geschichte des Deutschen Bundestags hat eine der großen Fraktionen gemeinsame Sache mit Faschisten gemacht, um einem autoritären und rassistischen Antrag zum Durchbruch zu verhelfen. Die CDU/CSU-Fraktion hatte zwei Anträge, „Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“ und „Für einen Politikwechsel bei der inneren Sicherheit“, eingebracht. Fraktionschef Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, hatte zuvor seine Bereitschaft erklärt, sie gemeinsam mit der AfD zu verabschieden.
Der erste Antrag wurde in namentlicher Abstimmung mit 348 zu 345 Stimmen bei zehn Enthaltungen angenommen. Er fordert „dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarstaaten“, was geltendem EU-Recht widerspricht, die Abschaffung des Asylrechts für alle, die über den Landweg nach Deutschland kommen, und eine „signifikante Erhöhung“ von Haftplätzen, um alle „ausreisepflichtigen Personen“ einzusperren.
Für den Antrag stimmten die Unions-, die FDP- und die AfD-Fraktion, dagegen die SPD, die Grünen und die Linke, während sich das BSW enthielt. Der zweite Antrag wurde nur von der Union unterstützt und fiel mit 190 zu 509 Stimmen durch.
Nach Bekanntgabe des Ergebnisses brach in der AfD-Fraktion Jubel aus. Der AfD-Abgeordnete Bernd Baumann sprach von einem „wahrlich historischen Moment“. Jetzt und hier beginne eine neue Epoche, angeführt von der AfD, sagt er, und stellte seine Partei in eine Reihe mit Donald Trump, Giorgia Meloni, Geert Wilders, Herbert Kickl und anderen rechtextremen Politikern, die in jüngster Zeit zur Macht aufgestiegen sind.
Die gesamte Debatte über die Anträge war von Sicherheitshysterie und rassistischer Stimmungsmache gegen Migranten geprägt. Sie begann mit einer Minute des Schweigens für die Opfer des Anschlags von Aschaffenburg, wo vor einer Woche ein psychisch kranker Flüchtling aus Afghanistan ein Kleinkind und einen Mann getötet hatte.
Dieser und drei weitere, sehr unterschiedliche Anschläge, die sich im Verlauf des vergangenen Jahres in Magdeburg, Mannheim und Solingen ereignet hatten, mussten als Beweis herhalten, dass sich ganz Deutschland in einer Art Ausnahmezustand befinde und Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen, eine akute Bedrohung für die gesamte Bevölkerung darstellten, der nur durch die Abriegelung der Grenzen und massenhafte Abschiebungen zu begegnen sei.
„Was muss in Deutschland eigentlich noch passieren, bevor auch Sie der Meinung sind, dass es sich hier um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handelt“, rief Merz an Bundeskanzler Scholz gewandt. Nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg müssten jetzt endlich Taten statt nur Worte folgen. Seine Zusammenarbeit mit der xenophoben AfD begründete Merz mit seinem „Gewissen“, mit dem er „einfach nicht mehr vereinbaren“ könne, hier untätig zu bleiben.
Weder die SPD noch die Grünen traten dieser üblen Hetze entgegen. Sie griffen Merz zwar wegen seiner Zusammenarbeit mit der AfD an. Darüber kam es wiederholt zu erbitterten Wortwechseln. Aber sie taten dies ausschließlich vom Standpunkt, dass er, wenn er nur wollte, sein Ziel auch mit ihnen erreichen könnte.
Ihr Hauptvorwurf lautete, er sprenge die „demokratische Mitte“ – also die Allparteienkoalition, die sich im Bund und den Ländern seit langem die Macht teilt und bei den Wählern immer verhasster ist. Vor allem die Grünen, die nach der Wahl auf eine Regierungskoalition mit der Union hoffen, flehten Merz regelrecht an, von seinem Kurs abzulassen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der die Debatte mit einer Regierungserklärung eröffnete, bezeichnete den Angriff von Aschaffenburg als unerträglich. „Mir reicht es, und ich bin empört.“ Die Ursache seien aber nicht fehlende Gesetze, sondern ein Vollzugsdefizit im Zusammenhang mit illegalen oder straffälligen Migranten. Es brauche keine neuen Gesetze, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, sondern eine bessere Durchsetzung der bestehenden Regeln.
Er zählte die zahlreichen Gesetze und Maßnahmen auf, mit denen seine Regierung gegen Flüchtlinge vorgegangen sei. „Wir sind das einzige Land in Europa, dem es in den vergangenen Jahren überhaupt gelungen ist, Straftäter nach Afghanistan abzuschieben“, betonte Scholz. Einige Maßnahmen seien hart an die Grenze dessen gegangen, was die deutsche Verfassung und europäisches Recht zuließen.
Scholz warnte Merz nachdrücklich davor, durch Verstoß gegen europäisches Recht die EU zu sprengen, auf die Deutschland angesichts der Bedrohungen durch Putin, Trump und Xi dringender denn je angewiesen sei. Er erinnerte Merz an seine zahlreichen Versprechen, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, und warf ihm vor, wie seine österreichischen Parteifreunde von der ÖVP eine Regierungskoalition mit den Rechtsextremen vorzubereiten.
Ähnlich argumentierte Vizekanzler Robert Habeck, der Kanzlerkandidat der Grünen. Er äußerte großen Respekt vor Merz’ „Gewissen“, das ihn bewogen habe, die Anträge einzubringen. Darum gehe es heute aber nicht, diskutiert werde: „Stimmt die Union in so einer wichtigen Frage mit der AfD?“ Dies wäre ein „Dammbruch“. Auch Habeck warnte davor, mit nationalen Alleingängen die EU zu sprengen.
Sahra Wagenknecht, deren BSW-Gruppe sich bei der Abstimmung enthielt, gab Union und AfD verbale Schützenhilfe, indem sie der Regierung vorwarf, nicht aggressiv genug gegen Flüchtlinge vorzugehen. „Nicht gemeinsame Abstimmungen im Bundestag haben dazu geführt, dass die Umfragewerte der AfD durch die Decke gehen, sondern das jahrelange Versagen der Migrationspolitik.“
Im Bundestag erhob sich nicht eine Stimme, die die demokratischen Rechte von Migranten und Flüchtlingen prinzipiell verteidigte und der Hetzkampagne entgegentrat. Lediglich außerhalb des Parlaments meldeten sich Menschenrechtsorganisationen und die Evangelische und die Katholische Kirche zu Wort. Letztere äußerten in einer vierseitigen gemeinsamen Stellungnahme ihr tiefes Befremden über „Zeitpunkt und Tonlage der aktuell geführten Debatte“. Sie sei „dazu geeignet, alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren und trägt unserer Meinung nach nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei.“
Wie ist diese gemeinsame Haltung aller etablierten Parteien in einer Frage zu erklären, die selbst die sonst so angepassten Kirchen zum Protest bewegt?
Der Angriff richtet sich nur vordergründig gegen Flüchtlinge und Migranten. Diese dienen als Blitzableiter für eine soziale Krise, die durch Kürzungen, steigende Preise und Steuersenkungen für die Reichen hervorgerufen wurde, für die SPD, Grüne, Union und FDP ebenso wie die Linke gemeinsam verantwortlich sind. Und die Polizeivollmachten sowie die Zerstörung demokratischer Grundrechte, die heute mit der Abwehr von Flüchtlingen gerechtfertigt werden, dienen morgen dazu, rebellierende Arbeiter und Jugendliche zu unterdrücken.
Die kommende Regierung bereitet – ganz unabhängig vom Wahlausgang – massive soziale Angriffe vor. Alle Parteien sind sich einig, die Rüstungsausgaben zu verdoppeln und zu verdreifachen. Bei VW, Mercedes, Zulieferfirmen und anderen Betrieben werden Hunderttausende qualifizierte Arbeitsplätze zerstört.
Am selben Tag, an dem die Union den Schulterschluss mit der AfD vollzog, veröffentlichten die Präsidenten der vier Spitzenverbände der Wirtschaft einen gemeinsamen Aufruf, der zu einer Kehrtwende in der Steuer-, Sozial- und Energiepolitik nach der Bundestagswahl aufruft. Eine Allianz von rund 140 Verbänden rief zu einem „Wirtschaftswarntag“ auf. An Kundgebungen in mehreren Städten beteiligten sich jeweils bis zu 1000 kleinere Unternehmer.
Dieses Programm, das enorme Angriffe auf die Einkommen und sozialen Errungenschaften der Arbeiter voraussetzt, erfordert faschistische Methoden. Das ist der wirkliche Grund für die Annährung des Ex-Blackrock-Managers Merz an die AfD.
Man kann das auch in den USA verfolgen. Galt Donald Trump bei einem ersten Wahlsieg noch als Außenseiter, stehen heute die reichsten und mächtigsten Wirtschaftsbosse hinter ihm. Elon Musk, der reichste Mann der Welt, soll für Trump die Staatsaugaben um ein Drittel senken – d.h. die Sozialausgaben auf Null zusammenstreichen. Musk ist nicht zufällig einer der wichtigsten Unterstützer von AfD-Chefin Alice Weidel.
Auch Trump nutzt die Abwehr von Flüchtlingen als Hebel, um einen Polizeistaat aufzubauen, das Militär im Inneren einzusetzen und einen rechten Mob zu mobilisieren. Die Demokraten leisten keinen Widerstand dagegen, weil sie dieselben Klasseninteressen – die Interessen der Wall Street und des Militärs – vertreten.
Auch hier sollte sich niemand durch die Aufregung von SPD und Grünen beeindrucken lassen. Scholz und Habeck haben völlig recht, wenn sie Merz vorwerfen, eine Regierung unter Einschluss der AfD vorzubereiten. Aber sie werden – wie die Demokraten in den USA – alles tun, um den Widerstand dagegen zu unterdrücken und die „Ordnung“ zu bewahren. Die Gewerkschaften werden sie dabei unterstützen. Zudem arbeiten sie in den Parlamentsausschüssen und auf kommunaler Ebene selbst mit den Faschisten zusammen.
Der Widerstand gegen die Faschisten kann nur von der Arbeiterklasse kommen. Sie wird nicht zulassen, dass Kollegen und Nachbarn abgeschoben, ihre Löhne dezimiert, ihre Arbeitsplätze zerstört, Bildung und Gesundheit privatisiert und Renten und Sozialleistungen zerschlagen werden.
Um diesen Kampf zu führen braucht sie eine politische Perspektive und eine eigene Partei, die Arbeiter international vereint und für den Sturz des Kapitalismus kämpft. Dafür tritt die Sozialistische Gleichheitspartei zur Bundestagswahl an.