Anhaltende Massenproteste haben die bulgarische Regierung von Ministerpräsident Rossen Scheljaskow (Gerb) vergangene Woche zum Rücktritt gezwungen. Damit verschärft sich die politische Krise in dem Land, das zum 1. Januar den Euro als Währung einführen will, weiter.
Am Mittwochabend demonstrierten mehr als 150.000 Menschen im Regierungsviertel der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Sie wandten sich gegen den geplanten Haushalt für das kommende Jahr, der Steuererhöhungen vorsieht, sowie gegen die allgegenwärtige Korruption im Land und forderten den Rücktritt der verhassten Regierung.
Auch in der zweitgrößten Stadt des Landes, Plowdiw, gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, ebenso in über 20 Städten in ganz Bulgarien, darunter Varna, Burgas, Veliko Tarnovo und Razgrad. Auch im Ausland versammelten sich am Mittwoch Bulgaren zu Demonstrationen, wie beispielsweise in London, Berlin, Wien, Zürich und New York.
Die Proteste halten seit Wochen an. Zuvor protestierten über 50.000 Menschen in der Hauptstadt. Vor zwei Wochen kam es nach einer Kundgebung zu Zusammenstößen mit der Polizei, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete.
Ein Büro der Regierungspartei Gerb wurde verwüstet, mehrere Polizeiautos wurden demoliert. Die Beamten setzten Tränengas und Schlagstöcke ein. Es gab mindestens zehn Festnahmen und mindestens drei Verletzte. Einige Demonstranten griffen die Zentrale der DPS, die die Regierung unterstützt, mit Steinen und Flaschen an.
Die Regierungskoalition der rechten, pro-EU-Partei Gerb, die zusammen mit den Sozialisten (BSP) und der nationalistischen ITS regierte, war in der Bevölkerung zutiefst verhasst. Scheljaskow war erst seit Anfang des Jahres im Amt. Nach massiven Protesten im Jahr 2020 gegen die damalige Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissow (Gerb) hat das südosteuropäische Land bereits sieben vorgezogene Neuwahlen erlebt.
Die nächsten Wahlen werden aller Voraussicht nach ebenfalls keine stabile Regierung an die Macht bringen. Auch das zuletzt regierende Bündnis war auf die Unterstützung der türkischen Oppositionspartei DPS angewiesen. Diese wird von dem Oligarchen Delyan Peevski angeführt. Peevski kontrollierte einen bedeutenden Teil der bulgarischen Medien, bevor er sich nach Sanktionen der USA wegen Korruption teilweise davon trennen musste. Auch Großbritannien verhängte 2023 Sanktionen gegen Peevski.
Vergangene Woche lud Staatspräsident Rumen Radew direkt die größte Fraktion im Parlament ein, mit den Gesprächen über eine Regierungsbildung zu beginnen. Sollten sowohl die größte als auch die zweitgrößte Fraktion scheitern, werden in zwei Monaten Neuwahlen abgehalten – was als wahrscheinlich gilt. Bis dahin wird eine Übergangsregierung installiert.
Diese wird versuchen, den Haushaltsentwurf für 2026 zu verabschieden, der in der Bevölkerung auf so heftige Gegenwehr trifft und den die nun zurückgetretene Regierung zuletzt aufgrund der Massenproteste zurückziehen musste. Er sieht eine weitere Erhöhung der Steuern, höhere Sozialabgaben und einen massiven Ausbau des Sicherheitsapparats vor.
Der Haushalt ist der Höhepunkt von drastischen Angriffen auf die Bevölkerung, die in den letzten Jahren immer heftigere Kürzungen in Kauf nehmen musste, um die Kriterien für die Einführung des Euro zu erfüllen.
Seit dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union 2007 haben zahllose Regierungen immer neue Sparpakete verabschiedet, und die EU hat zuletzt immer schärfere Einschnitte in die Haushalte gefordert, um die Konvergenzkriterien zur Euroeinführung zu halten. Die ursprünglich für 2024 geplante Einführung war angesichts einer enorm hohen Inflation gescheitert.
Nun soll Bulgarien das 21. Mitglied der Eurozone werden. Damit wäre es das ärmste Land mit der Gemeinschaftswährung. 40 Prozent der Bevölkerung leben in Armut oder sind von ihr bedroht. Die Mindestrente liegt unter 300 Euro monatlich, die durchschnittliche Rente mit etwas über 500 Euro nur wenig darüber.
Die durchschnittlichen Löhne liegen bei rund 1.000 Euro pro Monat und damit deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Gerade für junge Menschen ist die Situation prekär. Einen adäquat bezahlten Job zu finden, mit dem man sich und eine Familie über Wasser halten kann, ist so gut wie aussichtslos. Rund 1,8 Millionen Bulgaren leben aktuell im Ausland; dabei handelt es sich häufig um hochqualifizierte junge Menschen, die im Land keine Chance haben.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade junge Menschen maßgeblich an den jüngsten Protesten beteiligt sind. Das Wall Street Journal bezeichnete die Proteste in Sofia als ersten erfolgreichen Regierungssturz der Generation Z in Europa. Tatsächlich treibt auch in Europa die Mischung aus Armut, Perspektivlosigkeit und einer skrupellosen, korrupten herrschenden Klasse die Jugend zu Protesten wie in Indonesien, Marokko, Madagaskar oder Nepal.
Gleichzeitig findet die breite Ablehnung in der Bevölkerung keinen Ausdruck in den etablierten Parteien des Landes. Nahezu alle Parteien waren in den letzten 20 Jahren an der Regierung beteiligt und haben dieselbe Politik umgesetzt. In den letzten Parlamentswahlen lag die Wahlbeteiligung bei nicht einmal mehr 40 Prozent.
Auch die geplante Einführung des Euro wird von einer großen Mehrheit abgelehnt. Selbst eine Umfrage des Finanzministeriums musste eingestehen, dass eine Mehrheit gegen die Einführung ist. Unabhängige Umfragen gehen von knapp 60 Prozent aus, die dagegen sind.
Obwohl die bisherige Währung Lew seit 1999 an den Euro und zuvor bereits an die D-Mark gekoppelt war, wird die Umstellung mit Preissteigerungen einhergehen. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, erklärte, dass die Einführung des Euro im Januar die Inflation anheizen werde.
Berlin und Brüssel haben die Euroeinführung forciert – zum einen aus wirtschaftlichen Interessen und um Bulgarien noch enger in die Allianz gegen Russland einzubinden. Trotz starkem innenpolitischem Druck stand die Gerb-Regierung an der Seite der EU und hat den Krieg gegen Russland unterstützt. Eine Sorge in der EU ist es daher, dass bei möglichen Neuwahlen eher prorussisch orientierte Kräfte ihren Einfluss vergrößern könnten.
Bulgarien spielt eine wichtige geostrategische Rolle durch seine zentrale Lage im Süden Europas und durch den Zugang zum Schwarzen Meer. Während der Haushalt für Bereiche wie Bildung, Gesundheit und Soziales radikal zusammengestrichen wurde, plante die Regierung die Anschaffung neuer Kampfjets für fast eine Milliarde Euro. Auch die Marineeinheiten sollen neue Schiffe erhalten.
Bereits zu Beginn des Ukraine-Kriegs hatte Bulgarien umfassend Kriegsgerät aus Sowjetzeiten geliefert. Nun wird die Rüstungsindustrie des Landes umgekrempelt und ausgebaut.
Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall plant ein neues Werk in Sopot, das Schießpulver und 155-Millimeter-Artilleriegranaten produzieren wird. Das Unternehmen und bulgarische Offizielle haben einen entsprechenden Vertrag im Volumen von mehr als einer Milliarde Euro unterzeichnet. 2027 soll das Werk in Betrieb gehen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen besuchte im September die Fabrik und betonte die Bedeutung Bulgariens als Waffenlieferant für den Krieg gegen Russland. Zu Beginn des Krieges seien „ein Drittel der in der Ukraine genutzten Waffen aus Bulgarien gekommen“, so von der Leyen.
Zuletzt hatte Rheinmetall auch ein Joint Venture für Treibladungspulver im rumänischen Victoria geschlossen. Bis 2030 sollen hier jährlich 20.000 Tonnen Treibladungspulver produziert werden, das als Antriebskraft für Panzer und Raketen dient.
