re:publica 2019: Bundespräsident Steinmeier wirbt für Meinungskontrolle und Zensur

Vor den Europawahlen am 26. Mai plant die herrschende Klasse, die Zensur des Internets zu verschärfen und kritische Stimmen mundtot zu machen. Die Eröffnungsrede des amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf der diesjährigen re:publica legte davon beredtes Zeugnis ab. Unter zynischen Verweisen auf das Grundgesetz und das darin verbriefte Grundrecht auf Meinungsfreiheit warb Steinmeier für neue Zensurgesetze und appellierte an die großen Internetkonzerne, bereits bestehende Richtlinien aggressiver umzusetzen.

Wörtlich erklärte er: „Der 70. Geburtstag des Grundgesetzes in diesen Tagen erinnert uns an jenen Zusammenhang, der älter ist als ‚online‘ und ‚offline‘: Freiheit braucht Regeln, und neue Freiheiten brauchen neue Regeln. Und: Mit der Meinungsfreiheit kommt auch eine Meinungsverantwortung.“ Er wisse, „Regeln gibt es bereits viele“ – unter anderem erwähnte er das berüchtigte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) –, aber man werde „über weitere streiten müssen“.

Dann fügte er hinzu: „Wer mit einer Plattform einen politischen Diskursraum schafft, der trägt auch Verantwortung für Demokratie – ob er’s will oder nicht!“ Deshalb brauche es demokratische Regulierung. Er glaube, dass dies „mittlerweile auch im Silicon Valley verstanden“ werde. „Nach vielen Worten und Ankündigungen, nach Gesprächsrunden und fotogenen Politikerterminen“ sei es nun „an der Zeit, dass Facebook, Twitter, YouTube & Co. ihre Verantwortung für die Demokratie endlich wahrnehmen, endlich in die Tat umsetzen!“

Steinmeiers Verständnis von Freiheit und Demokratie zeigt, welcher autoritäre Geist in der herrschenden Klasse 74 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs wieder vorherrscht. Für das deutsche Staatsoberhaupt ist die Meinungsfreiheit kein Menschenrecht, das im Grundgesetz als ein gegen die Staatsgewalt gerichtetes Grundrecht garantiert ist. Für Steinmeier – und damit spricht er für die gesamte herrschende Klasse – gelten politische Standpunkte nur dann als „verantwortlich“ und „demokratisch“, wenn sie auf der Linie der etablierten Parteien und offiziellen Medien liegen. Davon abweichende Positionen müssen „reguliert“, d.h. zensiert und unterdrückt werden.

Das gelte „zum Beispiel beim Thema Transparenz. Solange die schnelle Lüge und die seriöse Nachricht, der überprüfte Fakt und die bloße Meinung, solange Vernunft und Hetze unterschiedslos nacheinander in Newsfeeds auftauchen, solange haben es jedenfalls Demagogen viel zu einfach“, ereiferte sich Steinmeier. Man „brauche glasklare Herkunftssiegel für Informationen – und das vor allem, wenn es um politische Werbung geht! Wer gezielt und Daten-maßgeschneidert politische Botschaften platziert, der muss vom Betreiber und nötigenfalls vom Gesetzgeber dazu gezwungen werden, Gesicht zu zeigen.“

Steinmeier ging nicht näher darauf ein, was er unter „Hetze“ und „unseriösen Nachrichten“ versteht und welche „politische Werbung“ und „politischen Botschaften“ er kontrollieren will. Es ist jedoch offenkundig, worum es ihm geht. Bereits bei den letzten Europawahlen vor fünf Jahren verbat sich Steinmeier als damaliger Außenminister jede Kritik an der deutsch-europäischen Kriegspolitik. Als ihn einige Demonstranten auf der zentralen SPD-Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz wegen seiner Rolle beim rechten Putsch in der Ukraine und der Nato-Offensive gegen Russland als „Kriegstreiber“ bezeichneten, beschimpfte er sie als „Krakeeler“, die „Europa kaputt“ machten, und brüllte sie an: „Ihr habt kein Recht.“

Seitdem hat die herrschende Klasse ihre Politik der militärischen Aufrüstung und der damit verbundenen sozialen Angriffe verschärft und arbeitet fieberhaft daran, die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen dagegen zu unterdrücken. Im Namen des Kampfs gegen „Hate speech“, „Fake News“ und „Desinformation“ im Internet werden vor allem linke und progressive Websites und Standpunkte zensiert.

So sperrt Facebook immer wieder kritische Accounts – u.a. von Organisationen, die sich gegen Kriegs- und Polizeigewalt wehren. In Deutschland wurden seit dem Inkrafttreten des sogenannten NetzDG zehntausende Beiträge unter dem gleichen Vorwand gelöscht. Und Google zensiert nach intensiven „Gesprächsrunden“ mit deutschen Regierungskreisen die World Socialist Web Site.

Auch der aktuelle Verfassungsschutzbericht der Großen Koalition greift auf Begriffe wie „Desinformation“ zurück, um jede linke Opposition gegen die offizielle Politik zu kriminalisieren. „Weltweit sendende TV-, Radio- und Internetkanäle betreiben gezielt Propaganda und Desinformationskampagnen“, heißt es im Abschnitt „Propaganda und Desinformation“. An einer anderen Stelle prahlt der Inlandsgeheimdienst, „präventive Maßnahmen“ hätten „zu einer hohen Aufmerksamkeit gegenüber einer möglichen Desinformation beigetragen und zu verstärkten Schutzmaßnahmen geführt“.

Das erklärte Ziel des Verfassungsschutzes, der eng mit der AfD kooperiert, ist die Verfolgung sozialistischer Parteien. So führt der Verfassungsschutzbericht die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) erstmals als „linksextremistische Partei“ und „Beobachtungsobjekt“. Als Grund dafür nennt der Verfassungsschutz einzig und allein ihre politische Opposition „gegen die bestehende, pauschal als ‚Kapitalismus‘ verunglimpfte staatliche und gesellschaftliche Ordnung, gegen die EU, gegen vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus sowie gegen die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und auch gegen die Partei DIE LINKE“.

Die Entwicklung erinnert zunehmend an die dunkelsten Zeiten der europäischen Geschichte. Seit nunmehr einem Monat schmort der Wikileaks-Gründer Julian Assange mit der schweigenden Unterstützung der Bundesregierung im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Sein einziges Vergehen: er und Wikileaks haben die Kriegsverbrechen der US-Regierung und ihrer europäischen Verbündeten enthüllt. Dafür droht ihm nun die Auslieferung in die USA und möglicherweise die Todesstrafe.

Die SGP lässt sich davon nicht einschüchtern. Sie geht rechtlich gegen den Verfassungsschutzbericht vor, organisiert Veranstaltungen und eine zentrale Kundgebung zur Freiheit von Assange.

Steinmeiers Rede betrachtet sie als Kampfansage. Bereits im vergangenen Herbst hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Parteien, die sich im Europawahlkampf nicht an die vorgegebene politische Linie halten, mit Sanktionen und Strafen gedroht. Nun warnt Steinmeier: „Es sind verhältnismäßig kleine Gruppen, die unverhältnismäßig großen Lärm erzeugen! […] Überlassen wir die politischen Räume im Netz nicht den tobenden Scheinriesen!“

Der Grund für die Hysterie des Bundespräsidenten ist nicht schwer zu verstehen. Die herrschende Klasse fürchtet, dass das sozialistische Programm der SGP Masseneinfluss gewinnt. Bereits 2016 hatte eine YouGov-Umfrage ergeben, dass in Deutschland „deutlich mehr Menschen eine positive Meinung zum Sozialismus [haben] als zum Kapitalismus“. Seitdem hat sich die Arbeiterklasse weiter radikalisiert.

In den vergangenen Monaten haben Hunderttausende gegen die AfD und die rechte Politik der Regierung, gegen Internetzensur und Polizeistaatsaufrüstung und für die Enteignung milliardenschwerer Hedgefonds und Immobilienhaie demonstriert. Im Februar beteiligten sich Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Diensts an Warnstreiks gegen katastrophale Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne. Im März streikten Tausende Verkehrsarbeiter der BVG in Berlin und legten die Stadt lahm. In ganz Europa und weltweit nehmen Streiks und Proteste zu.

Die SGP und ihrer Schwesterparteien in der Vierten Internationale geben dieser Stimmung und den sich entwickelnden Kämpfen eine klare Orientierung und Perspektive. Alle die konsequent gegen die Rückkehr des deutschen Militarismus, die Zunahme von Armut, den Aufstieg der Rechten und die wachsende Gefahr eines Dritten Weltkriegs kämpfen wollen, rufen wir auf, unseren Wahlkampf zu unterstützen und sich bewusst dem Kampf für Sozialismus anzuschließen.

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