Übereilte Lockerungen setzen Tausende Menschenleben aufs Spiel

Zu schnell und zu unkontrolliert wird der Corona-Lockdown wieder aufgehoben. Damit werden völlig unnötigerweise Tausende Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Weltweit stellen die Regierungen die Interessen der Wirtschaft über Gesundheit und Leben der arbeitenden Bevölkerung.

Diese zahlt dafür einen hohen Preis. Das zeigt sich ausgerechnet zum heutigen 12. Mai, dem internationalen Tag der Pflegenden. Es ist der 200. Geburtstag von Florence Nightingale, der Statistikerin und weltbekannten Pionierin der Krankenpflege.

Weltweit haben sich schon weit über 90.000 Pflegekräfte am Coronavirus angesteckt. Mindestens 260 von ihnen sind an Covid-19 gestorben. Das sind die offiziellen Zahlen, die dem Internationalen Rat der Krankenpfleger (ICN) vorliegen. Sie sind zweifellos um ein Vielfaches zu niedrig, denn viele Länder ermitteln diese besonderen Zahlen nicht oder weigern sich, sie zu veröffentlichen.

Auch in Deutschland ist das volle Ausmaß der Pandemieopfer nicht bekannt. Bis zum 5. Mai wurden laut Robert-Koch-Institut (RKI) über 10.100 Beschäftigte im Gesundheitsbereich mit Covid-19 angesteckt, und 16 von ihnen sind daran gestorben. Das geht aus einem RKI-Lagebericht vom vergangenen Mittwoch hervor. Da nicht alle Corona-Fälle auf Berufsgruppen aufgeschlüsselt werden, ist auch dies längst nicht die vollständige Zahl.

Schon seit drei Tagen liegt die entscheidende Reproduktionszahl (R-Wert) wieder über dem kritischen Wert von 1,0. Der Wert gibt an, wie viele weitere Personen ein Infizierter während seiner Erkrankung im Schnitt mit dem Virus ansteckt. Dieser Wert, der am Sonntagabend bei 1,13 lag, zeigt damit an, dass die Zahl der Neuinfektionen wieder deutlich zu steigen beginnt.

Allein aus Flüchtlingsheimen, Obdachlosenunterkünften und Gefängnissen sind laut dem erwähnten RKI-Bericht vom 6. Mai fast 7500 Coronafälle gemeldet worden, wobei sich die Zahl der Verstorbenen darunter auf mindestens 31 Menschen beläuft – auch hier mit eingestandener Dunkelziffer.

Mit der allgemeinen Lockerung der Corona-Maßnahmen steigen zwangsläufig wieder die Coronazahlen aus Schulen, Seniorenheimen, dem Nahverkehr, der Industrie und der gesamten arbeitenden Bevölkerung. Mindestens 25 Bauarbeiter des Tunnel-Projekts von „Stuttgart 21“ sind positiv getestet worden. In einem Callcenter in Bremen haben sich elf Mitarbeiter infiziert, und 50 weitere könnten betroffen sein. Sie haben sich in einem „zu kleinen“ Saal aufgehalten, wie das Unternehmen dem Medienportal „buten-un-binnen“ gegenüber einräumte.

Als wahre Corona-Hotspots gelten die Landkreise mit Betrieben der Fleischindustrie, in denen Ende letzter Woche hunderte Schlachtereiarbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden waren.

Seither sind im Kreis Coesfeld im Münsterland (NRW) die Infektionszahlen dramatisch weiter angestiegen. Dort musste der Schlachthof von Westfleisch am Freitag den Betrieb einstellen, nachdem 151 meist rumänische Arbeiter positiv getestet worden waren. Im gesamten Kreis betrug die kritische Zahl an Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner Ende der Woche 96 – das ist fast doppelt so viel wie der vom RKI festgelegte kritische Grenzwert von 50 Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner. Im Münsterland sind einschließlich der Stadt Münster bis zum 11. Mai über 4000 Menschen an Covid-19 erkrankt und 160 gestorben.

In Thüringen hat sich der Kreis Sonneberg als neuer Hotspot erwiesen, Infektionsschwerpunkt ist ein Krankenhaus mit Covid-19-Patienten. Dort haben sich mindestens 20 Beschäftigte mit dem Coronavirus infiziert; dabei sind allerdings noch nicht alle 600 Beschäftigten getestet worden.

Als besonders problematisch erweist sich der Schulbetrieb, der praktisch in allen Bundesländern seit dem 27. April schrittweise wieder aufgenommen wird. Kaum werden die Schulen geöffnet, schon häufen sich die Meldungen über Coronafälle unter Schülern aus dem ganzen Bundesgebiet, und viele einzelne Klassen oder ganze Schulen müssen wieder schließen. Dies betrifft beispielsweise das Nicolaus-Kistner-Gymnasium in Mosbach, nahe Heilbronn (Baden-Württemberg). Dort hat sich die Schulleitung nach einem bestätigten Coronafall entschlossen, den Präsenzunterricht bis zum Beginn der Abiturprüfungen wieder einzustellen.

Im Rheingau-Taunus (Hessen) schickte die Theißtalschule in Niedernhausen eine ganze Jahrgangsstufe und drei Lehrerinnen in Quarantäne, nachdem ein Schüler positiv auf SARS-CoV2 getestet worden war. Auch die Albert-Schweitzer-Schule in Offenbach ist betroffen. Dort ist fünf Tage nach der Wiedereröffnung ein Schüler an Corona erkrankt. In Quarantäne befinden sich dort jetzt rund 30 Personen, darunter drei Lehrer.

Im rheinland-pfälzischen Sinzig im Kreis Ahrweiler wurde der Präsenzunterricht für eine ganze Jahrgangsstufe eingestellt, als ein 17-jähriger Gymnasiast positiv auf SARS-Cov2 getestet worden war. In der gleichen Stadt Sinzig wurde beim Testen festgestellt, dass auch die Mitarbeiterin einer Senioreneinrichtung am Coronavirus erkrankt war, wodurch weitere 52 Kontaktpersonen in dem Heim in Gefahr geraten sind.

Anders reagierten offenbar Gesundheitsamt und Schulleitung eines Gymnasiums in Düsseldorf, der nordrhein-westfälischen Hauptstadt, als auch dort zwei Schüler an Covid-19 erkrankten. Nur die beiden betroffenen Schüler wurden in häusliche Quarantäne geschickt. Die Begründung lautete, von den anderen Mitschülern oder Lehrern sei keiner eine „Kontaktperson der Kategorie 1“.

Gleichzeitig häufen sich die Warnungen von Medizinern und Virologen vor dem laschen Umgang mit dem Virus. Einer von ihnen ist der Intensivmediziner Matthias Baumgärtel vom Klinikum Nürnberg-Nord. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung warnte er eindringlich davor, das Virus zu unterschätzen.

Baumgärtel betonte, dass zahlreiche Patienten, die in seiner Klinik trotz Intensivpflege an Covid-19 starben, „keine wesentlichen Vorerkrankungen“ hatten und „sicher noch viele Jahre oder Jahrzehnte“ hätten leben können. „Die jüngste Patientin, die wir verloren haben, war 38 Jahre alt – auch sie ohne Vorerkrankung … Natürlich ist die Krankheit gefährlicher, je älter die Patienten sind. Aber auch die Mittfünfziger haben es schwer, sie zu überstehen, wenn sie intensivmedizinisch erkrankt sind.“

Tatsächlich erweise sich Covid-19 als keine bloße Lungenkrankheit, sondern als „Multiorganerkrankung … viele Patienten bekommen Thrombosen, gefährliche Blutgerinnsel in den Gefäßen. Bei vielen unserer Patienten versagt die Leber. Die Niere ist häufig ein Problem, und natürlich das Herz. Wir erleben auch neurologische Symptomatiken: Patienten mit Schlaganfällen, auch jüngere. Bei einem Patienten traten plötzlich Lähmungserscheinungen auf.“

Über die Lockerungen der Bundes- und der Länderregierungen sei er „jeden Tag wieder aufs Neue überrascht“, fuhr Baumgärtel fort. „Das geht einfach zu schnell.“ Es liege völlig auf der Hand, dass die Ausgangsbeschränkungen „Tausende Leben gerettet haben, weil Menschen sich nicht infiziert haben und nicht ins Krankenhaus mussten. Ich kann nur vor dem Leichtsinn warnen, jetzt zu schnell zu viel zu wollen.“

Das Interview bestätigt, wovor die World Socialist Web Site seit langem warnt: Die herrschende Klasse gefährdet nicht nur die Gesundheit von hunderttausenden Arbeitern und Schülern und ihren Familien und Freunden, sondern auch deren Leben.

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