Schulöffnungen gefährden das Leben von Tausenden

Die verfrühte Lockerung der Maßnahmen zum Kampf gegen die Corona-Pandemie wird rasch zu neuen Infektionen und Todesfällen führen. Dennoch haben fast alle Bundesländer beschlossen, den Schulbetrieb schrittweise wieder aufzunehmen.

Der Grund sind nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern es ist der Druck der Wirtschaft: Um die Arbeiter zurück in die Produktion zu pressen, müssen auch die Schulen wieder anlaufen.

Zurzeit beschwichtigen alle führenden Landespolitiker, die Lockerungen würden verantwortungsvoll durchgeführt und die Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten. In gutsherrlichem Ton erklärte beispielsweise der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) am Mittwoch: „Unsere Maßgabe heißt: zurück in den Alltag“, doch falls es wieder zu einem größeren Ausbruch kommen sollte, sei „Thüringen gut vorbereitet, darauf zu reagieren“.

Unter den Betroffenen breitet sich indessen große Wut und Sorge darüber aus, dass Schulen als Versuchslabor missbraucht und Kinder, Lehrer und Eltern im Interesse der Profite regelrecht verheizt werden. Eine Umfrage der Hessenschau am Donnerstag ergab, dass trotz der pausenlosen Propaganda fast 41 Prozent der Meinung waren, die Lockerungen kämen zu früh, und nur 18 Prozent sie für richtig hielten.

Tausende Lehrerinnen und Lehrer kehren nur äußerst widerwillig in die Schulen zurück, wo gravierende Mängel bei der Umsetzung der Hygiene- und Schutzbestimmungen vorherrschen. Die Schulministerien zwingen sie auch gegen ihren Willen zum Unterrichten. Gleichzeitig kehren sie in Schulen zurück, deren Verwahrlosung, Lohndumping und Personalmangel schon vor der Pandemie zu Streiks und Protesten geführt hatten.

In Hessen begannen die Schulen schon am 27. April wieder mit dem Unterricht. Er findet unter atemberaubenden Bedingungen statt. Sogar Lehrer über 60 dürfen vor Ort unterrichten, und wer jünger ist, aber zu einer Risikogruppe gehört, muss dies selbst bei Schwerbehinderung durch ein ärztliches Attest nachweisen. Die tägliche Reinigung muss abends von (meist privaten) Putzfirmen erledigt werden, die mit wenig Personal unter großem Lohn- und Zeitdruck ganze Schulen säubern müssen.

In Frankfurt am Main wurde der Eilantrag einer Lehrerin abgewiesen. Mit Hinweis darauf, dass es an ihrer Frankfurter Grundschule keinen hinreichenden Hygieneplan und kein hinreichendes Arbeitsschutzkonzept gebe, hatte sie gegen ihre Zwangsverpflichtung geklagt, der sie sich als beamtete Lehrerin nicht entziehen kann.

Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie „nicht erwarten“ könne, „mit einem bis ins Letzte ausgefeilten Hygieneplan eine Null-Risiko-Situation an der Schule anzutreffen“. Die Richter hielten es nicht einmal für nötig, die Bedingungen an der betreffenden Schule in einem Ortstermin zu prüfen.

Das war schon der zweite Fall in wenigen Tagen. Kurz zuvor hatte das Verwaltungsgericht Gießen den Eilantrag der Konrektorin einer Grundschule im Kreis Marburg Biedenkopf ebenfalls abgelehnt. Sie hatte gefordert, dass zuerst eine Arbeitsschutz-Überprüfung durch eine medizinische oder virologische Fachkraft stattfinden müsse, ehe der Unterricht anlaufen könne, da die Corona-Pandemie „unwägbare gesundheitliche Gefahren“ mit sich bringe. Doch die Richter wiesen sie im Eiltempo ab.

„Unverantwortlich“ sei diese Politik, urteilte der Deutsch- und Geschichtslehrer Frederik im Gespräch mit der World Socialist Web Site. „Diese Lehrerinnen haben im Grunde völlig Recht“, sagte der Lehrer, der an einer Haupt- und Realschule im Kreis Groß-Gerau unterrichtet. „Jeder, der an einer staatlichen Schule arbeitet, kann bestätigen, dass die Hygienepläne realistischer Weise nicht umgesetzt werden können.“

Weiter berichtete Frederik, dass die ältesten Schüler bereits seit dem 27. April zurück in der Schule seien, um sich auf ihre Abschlussprüfungen vorzubereiten. Von insgesamt 600 Schülern sei das fast ein Drittel, so dass jede Klasse immer auf zwei nebeneinanderliegende Schulklassen aufgeteilt werden könne. Was jedoch werden solle, wenn mehr Kinder kommen, sei völlig ungewiss. „Je mehr Kinder kommen, desto unwahrscheinlicher ist die Einhaltung der Regeln“, so der Lehrer.

Diese Einschätzung haben mehrere Wissenschaftler bestätigt.

In der Hessenschau erklärte der Frankfurter Virologe Martin Stümer, dass die geballten Lockerungen ihm deutlich zu weit gingen. „Wir drohen die Kontrolle zu verlieren: Genau das braucht das Virus.“

Als „riskant“ bezeichnete auch der Virologe Christian Drosten die Schulöffnungen. Am Dienstag, dem 5. Mai kritisierte er im NDR-„Coronavirus-Update“ scharf den politischen Druck, den „manche Politiker“ auf Wissenschaftler ausübten, damit sie passende Argumente für die Lockerungen lieferten.

So werde etwa dem Direktor eines Forschungsinstituts gesagt: „Du bist doch hier der Chef vom Ganzen. Wir brauchen jetzt Zahlen!“ Dann sei die Gefahr groß, dass halbfertige Studien herausgegeben würden, die noch dazu auf der Pressestelle, also von Journalisten und nicht Wissenschaftlern, für die Öffentlichkeit aufbereitet würden: „Und schon ist eine Fehlinformation in der Welt.“ Wenn jetzt in Umlauf gebracht werde: „Die Wissenschaft hat festgestellt, dass die Schulen geöffnet werden können“, dann sei das falsch und irreführend und könnte viele Menschenleben kosten.

Drosten betonte, dass Kinder aller Altersgruppen und selbst Kleinkinder ebenso viele infektiöse Viren im Hals ansammeln können wie Erwachsene. Das habe sowohl seine eigene Studie an der Berliner Charité ergeben, als auch eine weitere Studie aus Genf, die von der Virologin Isabella Eckerle stamme. Er sagte: „Wir haben statistisch keinen Grund für die Annahme, dass die [Coronaviren-] Konzentration im Rachen von Kindern unterschiedlich zu Erwachsenen sei.“

Zu den älteren Schülern bezog sich Drosten auf die Untersuchung eines Corona-Ausbruchs an einem französischen Gymnasium. Aus ihr sei die „besondere Dramatik“ einer normalen Pausensituation von 15- bis 19-jährigen Schülern auf dem Schulhof zu ersehen. Diese verglich der Virologe bezüglich der Infektionsgefahr ausdrücklich mit der berüchtigten Gaststätte im österreichischen Skiort Ischgl, von der sich der Virus über ganz Europa ausgebreitet hatte.

Doch die Regierungspolitiker kümmern sich nicht darum.

Lehrer Frederik nannte das gegenüber der WSWS ein „Hochfahren der Wirtschaft auf Kosten der Menschen“. Die Lehrerinnen und Lehrer würden erpresst, obwohl allen klar sei: „Es wird noch mehr Tote geben.“

Er fuhr fort, die Pandemie habe den Trend der sozialen Polarisierung verstärkt, der schon zuvor klar abzusehen gewesen sei. An seiner Schule, die auch Kinder von Opel-Arbeitern in Rüsselsheim besuchen, sei klar zu erkennen, dass Arbeiterkinder jetzt zusätzlich benachteiligt würden. Beim Online-Unterricht habe sich gezeigt, dass in manchem Haushalt nur ein Computer und oft kein Drucker vorhanden seien. „Da hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet.“

Frederik fügte hinzu, ihm sei was Wichtiges klar geworden: „Unsere Schulen sind eigentlich nicht in erster Linie für die Erziehung da, sondern es sind eine Art Kasernen, in denen die Kinder beaufsichtigt und weggesperrt werden können.“

Er selbst könne zurzeit nur die allernötigsten Themen im Hinblick auf die Prüfungen durchnehmen. Die Schüler hätten bereits ihre Bücher abgeben müssen. „Eigentlich hatte ich vor, mit ihnen jetzt über den 8. Mai und die Befreiung vom Faschismus vor 75 Jahren zu sprechen.“ Das sei jedoch jetzt kaum noch möglich.

Von den DGB-Gewerkschaften erwartet Frederik keinerlei Widerstand: „Die GEW übt zwar Kritik, doch sie schlägt keine Schritte vor, die dem Staat gefährlich werden könnten.“

Tatsächlich hat die GEW schon Mitte April ihr Einverständnis für die Schulöffnungen erklärt. In Hessen begrüßte die Gewerkschaft am 24. April die Erklärung von Kultusminister Alexander Lorz (CDU) ausdrücklich, dass die Notbetreuungen für alle Kinder von Lehrkräften geöffnet würden, damit die Lehrer in die Schulen zurückkehren könnten.

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