Die Ultima Ratio der EU: Mit Schießbefehl und Coronavirus gegen Flüchtlinge in Griechenland

„Zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt.“ Dieser Satz fiel im Februar 2016, ein halbes Jahr nach Beginn der Flüchtlingskrise. Frauke Petry, damals Vorsitzende der rechtsextremen AfD, forderte, dass Polizisten „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen“, um fliehende Männer, Frauen und Kinder an der deutschen Grenze aufzuhalten.

Damals heuchelten Politiker und Medien noch allseits Empörung. Vier Jahre später ist der Schießbefehl an den Grenzen Europas Realität geworden. Griechische Soldaten setzen nicht nur Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse, sondern auch scharfe Munition gegen Flüchtlinge ein, die im Niemandsland zwischen den beiden Nachbarländern Griechenland und Türkei festsitzen. Die WSWS hatte bereits im März über den brutalen Krieg gegen die Flüchtlinge berichtet. Jetzt belegt der Spiegel in einer ausführlichen Hintergrundrecherche vom 8. Mai die Vorwürfe gegen die griechische Regierung.

Die Ermordung von Muhammed Gulzar

Am 4. März wurde der 42-jährige Pakistaner Muhammed Gulzar an der Grenze entlang des Flusses Evros von einer Kugel getroffen und starb wenige Minuten später. Mit Recherche-Teams von Forensic Architecture, Bellingcat und Lighthouse Reports hat der Spiegel Augenzeugenberichte, Videomaterial und einen Autopsiebericht ausgewertet und den Tathergang untersucht.

Nachdem die türkische Regierung Anfang März die Grenze geöffnet hatte, waren Tausende Flüchtlinge an den Evros gereist, um in die Europäische Union zu gelangen – unter ihnen auch Gulzar und seine Frau Saba Khan (38). Gulzar hatte schon seit 2007 jahrelang in Griechenland gelebt, wo er die Sprache lernte und für ein Unternehmen Kamine reparierte. Aus Liebe zu Khan flog er jedoch nach Pakistan, um sie dort im Januar zu heiraten und mit ihr zusammen zurückzukehren.

Im Grenzgebiet übernachteten sie mit anderen Flüchtlingen auf einer Wiese. Am Tag seiner Ermordung wollte Gulzar noch ein letztes Mal sein Glück versuchen und ging an den Grenzzaun, wo er auf Griechisch auf die Soldaten einredete. Dort traf ihn der tödliche Schuss. Der Bericht zeigt detailliert auf, dass die Grenzschützer regelmäßig scharf schießen. Bei der Überquerung der Evros-Grenze seien Analysen und Zeugen zufolge bereits mindestens zwei syrische Flüchtlinge erschossen und Dutzende schwer verwundet worden.

Migranten fliehen vor dem Tränengas der griechischen Polizei in der Nähe der türkisch-griechischen Grenze bei Pazarkule am 2. März 2020. (AP Photo / Darko Bandic)

Ein griechischer Offizier, der einer Spezialeinheit der Armee an der Grenze angehört, erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir haben sowohl mit Platzpatronen als auch mit scharfer Munition geschossen.“ Die Militärführung habe dafür grünes Licht gegeben.

Wie zu erwarten bestreitet die Regierung unter der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND) die Vorwürfe und spricht von „Fake News“. In einem offiziellen Statement verteidigt sie Griechenlands „Recht, seine Grenzen zu schützen“. Das Dementi ist nur ein schwacher Versuch, den Schein der EU zu wahren. Die Soldaten, die verzweifelte Menschen erschießen, handeln ebenso wenig eigenmächtig wie die Polizisten, die nachts illegale Pushbacks durchführen und Flüchtlinge zurück über die Grenze abschieben.

Die Antiflüchtlingspolitik in Griechenland hat System. Sie wird nicht einfach am Evros oder in Athen entworfen, sondern in Brüssel und Berlin. Noch als die beißenden Tränengaswolken über dem Grenzgebiet hingen, eilte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), an die Ägäis und lobte Griechenland als „europäischen Schild“. Sie erteilte Premierminister Kyriakos Mitsotakis einen Freischein bei der Abwehr von Flüchtlingen, versprach bis zu 700 Millionen Euro Unterstützung sowie eine Verstärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments, darunter Politiker der Grünen, SPD und Linkspartei, fühlten sich nach dem Spiegel-Artikel bemüßigt, von der EU-Kommission eine Untersuchung zu fordern – ein altbekanntes Prozedere, um die eigenen Verbrechen zu vertuschen. „Der Todesschuss an Europas Grenze“, wie der Spiegel seine Recherche übertitelt, ist das Ergebnis eines regelrechten Kriegs der EU gegen Flüchtlinge, der von den sozialdemokratischen, grünen und „linken“ Parteien genauso aggressiv geführt wird, wie von den nominell rechten.

Seit dem Abkommen der EU mit der Türkei 2016, das in Griechenland unter der pseudolinken Syriza (Koalition der radikalen Linken) vereinbart wurde, herrscht ein rigoroses Abschreckungsregime im Süden Europas. Millionen Menschen werden vor die Alternative gestellt, im Mittelmeer zu ertrinken oder in einem der überfüllten Lager auf den ägäischen Inseln dahinzuvegetieren.

Das Coronavirus ist unsere größte Sorge

Die Situation verschlimmert sich noch durch die Aussicht auf eine Corona-Infektion, wenn das Virus die Lager erfassen sollte. Am Dienstag teilte die griechische Gesundheitsbehörde mit, dass zwei neuangekommene Flüchtlinge positiv getestet wurden, aber keine Symptome aufwiesen. Gesundheitspersonal hatte neun zufällig ausgewählte Flüchtlinge kontrolliert – von insgesamt 70 Menschen, die in der letzten Woche auf der Insel Lesbos angekommen waren und als Vorsichtsmaßnahme in einer Einrichtung unter Quarantäne gestellt wurden.

Statt die Bedingungen in der Corona-Krise zu mildern, hat die Regierung ihren Kurs gegen Flüchtlinge weiter verschärft. Vor einer Woche verabschiedete das griechische Parlament ein neues Migrationsgesetz, das weitere Hürden für Asylverfahren und eine Ausweitung der Inhaftierung von Flüchtlingen vorsieht. Während das Asylrecht in Griechenland faktisch schon länger außer Kraft ist, hatte Mitsotakis es am 1. März auch offiziell ausgesetzt. Obwohl das gegen EU-Recht verstößt, wurde der Schritt in Brüssel gebilligt.

Da die ND derzeit über eine Stimmenmehrheit im Parlament verfügt, konnte sie das Gesetz auch ohne Syriza (die vor der Abstimmung den Saal verließ) und die anderen Parteien durchbringen. Die zahnlose Kritik, die Syriza an Teilen des Gesetzentwurfs vorbrachte, ist nur das übliche Beiwerk ihrer ansonsten flüchtlingsfeindlichen Agenda. Als die Armee an der Evros-Grenze mit Tränengas auf die Menschen losging, hatte sich Syriza-Chef Alexis Tsipras hinter Mitsotakis gestellt und sich mit der Bilanz seiner Regierung beim Vorgehen gegen Flüchtlinge gebrüstet.

Angesichts der wachsenden Infektionsgefahr im berüchtigten Moria-Lager auf Lesbos, wo 20.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind, haben die Flüchtlinge dort begonnen, ihren Schutz selbst in die Hand zu nehmen. Sie gründeten Mitte März die Gruppe „Moria Corona Awareness Team“. Sprecher ist der 30-jährige Apotheker Deen Mohammad Alizadah, der 2018 mit seiner Familie aus Afghanistan floh und seit November 2019 in Moria lebt.

„Das Coronavirus ist unsere größte Sorge“, erklärte er am Dienstag in einem Interview mit der taz. „Ein Ausbruch wäre hier sehr gefährlich und würde in kurzer Zeit viele Menschen infizieren. Die wichtigste Vorsichtsmaßnahme ist physischer Abstand, wie man es überall auf der Welt zu praktizieren versucht. Hier ist das völlig unmöglich.“

Ihr Team hätten sie gegründet, weil „es keinerlei offizielle Hilfe gab, um mit der Pandemie umzugehen – nicht einmal Informationen. Wir wollten immerhin das tun, was in unserer Macht steht, um uns zu schützen.“ Die 40 Teammitglieder – Flüchtlinge aus sechs verschiedenen Ländern – sind dreimal die Woche im Lager unterwegs, um trotz der widrigen Bedingungen zu helfen und aufzuklären.

Am 10. Mai und damit bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen richtete das Corona Awareness Team einen Brief an die EU, die Regierungen der Mitgliedsländer und die Öffentlichkeit. Sie empören sich darin über die bisherige Tatenlosigkeit und das Schweigen der Politik.

„Wir fragen: Sind wir es nicht wert, eine Antwort zu bekommen, während so viele über Moria sprechen und ein deutscher Minister es sogar ‚Europas Schande‘ nannte?“ Gemeint ist Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), der mit dieser Aussage Anfang des Monats lediglich auf den Punkt brachte, was das gewollte Ergebnis der EU-Politik ist.

„Schon über zwei Monate sind vergangen, in denen dieses und andere Lager die Coronakrise ohne jede Hilfe meistern mussten. Wir waren auf uns allein gestellt und haben versucht, uns zu helfen, so gut wir konnten.“ Noch immer hätten sie im Lager nur drei Stunden am Tag Wasser. Sie fordern Unterstützung bei der Lösung der „brennendsten Probleme“ wie Wasser, Müll, Isolation, Essensausgabe, Hygiene und Desinfektion, Feuerschutz, Sicherheit und Bildung.

Auch in anderen Lagern ist die Situation zugespitzt. Im überfüllten Camp auf der Insel Samos, wo 7000 Menschen in einer ehemaligen Militäranlage für rund 650 Personen leben, brachen Ende April zum wiederholten Mal verheerende Brände aus, bei denen rund 500 Flüchtlinge ihr Obdach und Hab und Gut verloren.

Die Ankündigung mehrerer EU-Länder, ein paar Dutzend oder Hundert Flüchtlingskinder aufzunehmen, kann nur als Spott gelten. Die deutsche Regierung hatte Anfang April die Aufnahme von 50 Flüchtlingskindern versprochen, die vom Virus besonders gefährdet sind. Doch sogar diese lächerliche Zahl war eine Mogelpackung, wie sich schnell herausstellte. Von den 47 Kindern und Jugendlichen, die am 18. April in Hannover ankamen, stand keines auf einer Liste mit Vorerkrankten, die Hilfsorganisationen erstellt hatten. Stattdessen hatte fast die Hälfte von ihnen Verwandte in Deutschland und damit einen rechtlichen Anspruch auf Familienzusammenführung.

Die Forderungen der Flüchtlinge müssen dringend erfüllt und alle Vorerkrankten – allen voran Frauen und Kinder – sofort gerettet und aus den Lagern evakuiert werden. Doch die gesamte Erfahrung der letzten Jahre beweist, dass Appelle an die Regierung oder die EU nutzlos und irreführend sind. Die Millionen Flüchtlinge sind für die herrschende Klasse lediglich ein lästiges Nebenprodukt, ein Kollateralschaden ihrer Kriegspolitik, den es einzudämmen und wenn nötig zu beseitigen gilt. Bestenfalls dienen sie als Sündenbock, um den giftigen Spaltpilz des Nationalismus und Rassismus in der Bevölkerung zu verbreiten.

Der Appell der Moria-Flüchtlinge wird deshalb in der Politik- und Konzernelite Europas auf taube Ohren stoßen. Er muss sich an die internationale Arbeiterklasse richten, die mit der Öffnungskampagne aller Regierungen unter hoher Lebensgefahr zurück in die Betriebe gezwungen wird. Alle Arbeiter in Europa – ganz gleich welcher Herkunft – müssen dringend Schutz- und Aktionskomitees gründen, um der tödlichen Ultima Ratio der EU ihre eigene Perspektive entgegenzusetzen: die Vereinigung von Flüchtlingen und Arbeitern in ganz Europa und weltweit gegen die kapitalistische EU und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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