Die gefährliche Wiederöffnung von Schulen und Kitas

Immer mehr Bundesländer heben alle Corona-Beschränkungen an den Grundschulen und Kitas bis spätestens Ende Juni wieder auf. Damit provozieren die Kultusminister neue Corona-Ausbrüche, die das Leben von Kindern, Erziehungskräften und Familien gefährden.

Die Ministerpräsidenten beherzigen dabei ausdrücklich die Empfehlung der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, Stefanie Hubig (CDU), die letzte Woche das Abstandsgebot an den Einrichtungen für obsolet erklärt hatte. Entsprechend verkündete auch Winfried Kretschmann (Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, am gestrigen Mittwoch im Mittagsmagazin: „Ab 29.6. können alle Kinder wieder in die Kita und die Grundschule zurückkehren, Abstandsgebot wird hierfür aufgehoben.“

Kaum je erwähnen die Medien jedoch die Folgen derartiger Entscheidungen für Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern. So erfährt der Normalzuschauer zwar alle Einzelheiten über neue Corona-Ausbrüche in China, dagegen kaum etwas über die Hotspots in Berlin, Magdeburg oder Düsseldorf.

Tatsächlich mussten in Nordrhein-Westfalen (NRW) schon am Dienstag eine ganze Reihe von Schulklassen wieder schließen, weil neue Covid-19-Fälle aufgetaucht waren. Erst am Tag davor, dem 15. Juni, hatte NRW die Schulen und Kitas für alle rund 630.000 Grundschüler und hunderte Vorschulkinder uneingeschränkt und ohne Abstands- und Maskenpflicht wieder aufgemacht.

In Wuppertal-Barmen mussten daraufhin alle 350 Kinder einer Grundschule wegen neuer Infektionsfälle auf SARS-CoV-2 getestet werden. Die Eltern, die stundenlang vor der Schule auf ihre Kinder warteten, schüttelten verständnislos die Köpfe, und eine Mutter sagte: „Das ist ein fürchterlicher Stress für die Schüler, bestimmt auch für die Lehrer. Sowas hätte doch nicht sein müssen!“

Ein ähnliches Bild bot sich in Düsseldorf, Ahlen und Nordwalde (Münsterland). Überall wurden Klassen und teilweise ganze Schulen wieder geschlossen, und Kontaktpersonen und ihre Familien wurden in Quarantäne versetzt – diesmal ohne dass eine Notbetreuung organisiert werden konnte. Bis Mittwoch kamen Corona-Diagnosen an sechs weiteren Schulen in NRW hinzu, wie die WAZ berichtete: Drei der Schulen befinden sich in Bochum, die andern drei in Dortmund, Werne und Kreuztal.

In zahlreichen weiteren Bundesländern gibt es ähnliche Fälle. Wie der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU), hatten die zuständigen Bildungsminister überall erklärt, sie wollten alle Grundschüler noch vor den Sommerferien „testweise“ wieder in die Schule schicken.

Daraufhin mussten in Magdeburg am 11. Juni acht Schulen, eine Kita und ein Jugendheim wieder geschlossen werden. Sachsen-Anhalt gehört ebenfalls zu den Bundesländern, in denen alle Grundschüler wieder täglich und ohne Abstandsgebot in den Präsenzunterricht geschickt worden sind. 158 Covid-19-Erkrankte werden derzeit in Magdeburg gezählt. Unter ihnen befinden sich jetzt auch ein Lehrer und sieben Kinder. Ein weiterer Corona-Patient ist nur wenige Tage, nachdem er positiv auf Covid-19 getestet worden war, im Krankenhaus verstorben.

Die Quelle des neuen Ausbruchs ist bisher nicht bekannt, hängt aber möglicherweise mit einem weiteren Corona-Hotspot in Berlin-Neukölln zusammen, wo bis zum Mittwoch 70 Corona-Erkrankte gezählt wurden. In Neukölln hat der rot-rot-grüne Berliner Senat fast 400 Haushalte unter Quarantäne gestellt. Auch dort wird vermutet, dass sich das Virus über die Schulen weiter ausgebreitet hat.

Die Ministerpräsidenten aller Parteien berufen sich unisono auf die jüngste Studie mehrerer Universitäten unter Federführung der Uni Heidelberg, der zufolge sich Kinder nicht als treibende Faktoren der Pandemie erwiesen hätten.

„Die Wissenschaftler haben überzeugend deutlich gemacht, dass insbesondere Kinder von der Pandemie kaum betroffen sind“, sagte beispielsweise Ties Rabe (SPD), der Schulsenator von Hamburg. Es sei höchste Zeit, die Schulen für Kinder wieder zu öffnen, denn: „Corona ist für Kinder und Jugendliche ungefährlicher als die Grippe.“

Auch die saarländische Bildungsministerin Christine Steichert-Clivot (SPD) kündigte die vollständige Rückkehr zum Regelbetrieb ohne Abstand und Maskenpflicht nach den Sommerferien an. „Ein Regelbetrieb mit Abstandsregelungen ist überhaupt nicht denkbar“, behauptete Steichert-Clivot am Dienstag.

Was alle diese Politiker verschweigen: Die Studie, auf die sie sich jetzt stützen, ist während des gesellschaftlichen Lockdowns der vergangenen Monate erstellt worden. Kein Wunder, dass sie kein gefährliches Infektionsgeschehen in den Schulen – die ja geschlossen waren! – feststellen konnte.

So wenig man bisher über Covid-19 weiß, so ist doch eins sicher: Die Aussage, Kinder würden sich deutlich weniger anstecken als Erwachsene, ist mittlerweile widerlegt. Schon vor Wochen hatte der Charité-Virologe Christian Drosten nachgewiesen, dass sich im Rachen von Kindern eine ebenso große Virenlast wie bei Erwachsenen findet.

in seinem jüngsten Corona-Update im NDR vom 16. Juni berichtete Drosten nun von einer Antikörper-Studie aus Schweden, dem einzigen Land, in dem die Grundschulen seit Pandemieausbruch ständig geöffnet waren.

Die Studie, die am 20. Mai veröffentlicht wurde, ergab, dass sich von den Kindern, die fast täglich Umgang mit Gleichaltrigen hatten, mindestens genauso viele angesteckt hatten wie von den Erwachsenen: Während durchschnittlich 6,5 % der Erwachsenen im Alter von 20 bis 65 Jahren Antikörper aufwiesen, waren es bei Kindern von 0 bis 19 Jahren sogar 7,5 %. Zur uneingeschränkten Öffnung der Schulen hierzulande sagte Drosten darauf, er könne „keinen Grund erkennen, warum es bei uns anders sein sollte“.

Insgesamt zeigte das Beispiel von Schweden eins deutlich: Obwohl Schweden pro 100.000 Einwohner viermal so viele Tote wie Deutschland aufweist, hat die gefährliche Strategie, in der Bevölkerung eine „Herdenimmunität“ zu erreichen, mit 6,5 % infizierten Erwachsenen ihr Ziel bei weitem verfehlt. Dabei sind in dem Land von kaum 10 Millionen Einwohnern fast 5000 Menschen an Covid-19 gestorben.

Auch hierzulande ist die Pandemie bei weitem nicht besiegt. Die Reproduktionszahl liegt schon seit 10 Tagen fast täglich über dem kritischen R-Wert von 1 (der bedeutet, dass ein Infizierter nicht mehr als eine weitere Person ansteckt).

Gerade gab es eine neue Meldung zu dem Ausbruch nach einer Restaurant-Eröffnung im ostfriesischen Moormerland, bei dem sich dutzende Menschen angesteckt hatten. Auch der Betriebsrat der Meyer-Werft musste sich in Quarantäne begeben. Nun ist bekannt, dass ein 73-Jähriger, offenbar der Vater des Wirts, an den Folgen von Covid-19 gestorben ist. Drei weitere Infizierte sind weiterhin krank.

Auch die Hotspots auf den Schlachthöfen und in Agrarbetrieben breiten sich weiter aus. Auf einem bayrischen Spargelhof der Lohner Agrar GmbH sind 96 Menschen (95 Erntehelfer und eine Angestellte) positiv auf das Coronavirus getestet worden. In einem andern Agrarbetrieb war schon im April ein rumänischer Spargelstecher an Covid-19 gestorben. Ende Mai hatten 180 Erntehelfer bei Bonn gegen ihre miesen, gefährlichen und unterbezahlten Bedingungen spontan gestreikt.

In NRW haben sich in einem Schlachtbetrieb von Tönnies im Kreis Gütersloh mindestens 400 Beschäftigte angesteckt. Auch dort sind gestern alle Schulen und Kitas bis zu den Sommerferien vorsorglich wieder geschlossen worden.

In Göttingen, wo sich vor zwei Wochen mehr als 120 Personen des Hochhauskomplexes Iduna infiziert hatten, ist mittlerweile ein zweiter großer Wohnblock von Covid-19 betroffen. Auch hier wurden alle Schulen und Kitas vorübergehend wieder geschlossen.

Dennoch drängen Politiker aller Couleurs vehement und rücksichtslos auf rasche weitere Lockerungen, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

„Wir sind doch keine Versuchskaninchen“, kommentieren das immer mehr Lehrer, Erzieher und auch Schüler. Mehrere Betroffene versuchten schon, Pandemieschutz und Abstandsregeln über die Gerichte einzuklagen – kein einziger mit Erfolg.

Am 15. Juni fällte das OVG des Landes Sachsen-Anhalt bereits das zweite Urteil, um den Ländern die ungebremste Öffnung zu erlauben. Ein Grundschullehrer hatte auf die Einhaltung des Mindestabstands von 1,50 Meter in der Schule geklagt, wurde aber abgewiesen. Ausdrücklich wurde festgestellt, dass Lehrkräfte und Schüler vom Staat nicht verlangen könnten, vollständig vor der Infektionsgefahr geschützt zu werden.

Vier Tage zuvor hatte schon das OVG in Bautzen ein ähnliches Urteil gefällt, das es der Landesregierung erlaubt, das Abstandsgebot an den Schulen aufzuheben. Zuvor waren auch Lehrkräfte und Schulleiter in Hessen und ein Elternverband in NRW mit ähnlichen Klagen gescheitert.

Die wachsende Wut darüber kommt in den sozialen Netzwerken zum Ausdruck. Zum Urteil gegen das Abstandsgebot schreibt beispielsweise Nicole, eine Lehrerin: „Ich bin fassungslos über diese grobe Fahrlässigkeit!!!“ Sie führt aus: „Das ist ein Witz. Überall muss ich mit Maske rumlaufen und … halte mich an den am Boden markierten Abstand zum Vordermann, aber in Schulen soll NICHTS von alledem gelten.“ Hans schreibt dazu: „Also wird es erst wieder Infizierte, vielleicht gar Tote geben müssen …“

Wilfried D. antwortet: „Nun, man muss schon der Philosophie konsequent folgen. Es geht doch nicht darum, NICHT infiziert zu werden, sondern im Gegenteil darum, das es ALLE kriegen, aber eben langsam …“ Ein „Grundschullehrer“ kommentiert sarkastisch: „Jetzt dürfen sich endlich alle anstecken! Der Traum der Impfgegner ist in Erfüllung gegangen!“

Illy schreibt, es sei „offensichtlich, dass hier Interessen der Wirtschaft vorangetrieben werden. Das Netzwerk der Lobbyisten umfasst Politik wie Gerichte und Mediziner mit entsprechender Zielrichtung. Es kann doch nicht sein“, fährt sie fort, „dass wir in Deutschland jetzt das Versuchslabor Schule eröffnen, und wir als betroffene Akteure nehmen das alles Gott-gegeben hin?!“

Die Kommentare zeigen, dass die betroffenen Lehrer und Erzieher immer besser verstehen, dass sie im Interesse der kapitalistischen Wirtschaft verheizt und dem unsinnigen und lebensgefährlichen Experiment der „Herdenimmunität“ ausgesetzt werden. Die Frage ist nur, wie dagegen kämpfen?

Die Sozialistische Gleichheitspartei und die World Socialist Web Site treten dafür ein, Aktionskomitees zu gründen, die unabhängig von den SPD-, Grünen- und Linken-hörigen Gewerkschaften GEW und Verdi und vom CDU-nahen Beamtenbund den Kampf aufnehmen. In der Erklärung ihrer britischen Schwester Socialist Equality Party (SEP) vom 1. Juni 2020 heißt es: „Die Wiedereröffnung der Schulen hat nichts mit echter Sorge um die Bildung und das Wohlergehen der Kinder zu tun. Lehrer, Schüler und sogar Kleinkinder werden in unsichere Umgebungen geschickt, die sich zu Brutstätten für Covid-19 entwickeln werden.“

Die SEP stellt dort erste Forderungen als Grundlage für sichere Bedingungen auf und erklärt, dass dieser Kampf nicht vom Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu trennen sei. (Siehe: „Nein zur Wiedereröffnung der Schulen! Gründet Aktionskomitees zum Schutz von Schülern und Lehrern!)

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