Schulen und Kitas werden trotz hoher Infektionsgefahr geöffnet

Im Laufe dieses Monats nehmen die meisten Schulen und Kitas den Normalbetrieb wieder auf. Dabei bleiben Abstandsregeln, Masken, Tests und Corona-Schutz auf der Strecke. Spätestens nach den Sommerferien soll der Regelbetrieb in allen Bundesländern uneingeschränkt wieder laufen.

Diese uneingestandene Politik der „Herdenimmunität“ auf dem Rücken von Kindern, Erziehern und Lehrern ist ein Spiel mit dem Feuer. Bis zum 9. Juni haben sich laut Robert-Koch-Institut (RKI) über 2500 Beschäftigte in Kitas und Schulen mit Covid-19 infiziert, und sieben von ihnen sind gestorben – dies trotz der Schulschließung kurz nach Ausbruch der Pandemie. Wie wird es erst sein, wenn sie alle wieder uneingeschränkt offenstehen!

Die Sozialistische Gleichheitspartei und die World Socialist Web Site fordern Erzieher dazu auf, sich zu ihrem eigenen Schutz und dem der Kinder in Aktionskomitees zusammenzuschließen, die unabhängig von den Gewerkschaften agieren. Ähnliche Initiativen gibt es schon in Großbritannien, Australien und den Vereinigten Staaten. Es kann nicht sein, dass sich Schul- und Kita-Beschäftigte noch länger auf Verdi und die GEW verlassen. Diese Gewerkschaften sind in der Pandemie nicht zufällig verstummt: Denn die Parteien, denen sie verpflichtet sind – die SPD, die Grünen, Die Linke – setzen die Öffnung in ihrem jeweiligen Bundesland selbst rücksichtslos durch.

An erster Stelle steht dabei Thüringen unter Bodo Ramelow (Die Linke). Hier sollen ab dem 15. Juni Kindergärten und Schulen wieder täglich für alle Kinder öffnen. Gleichzeitig werden alle Kontaktbeschränkungen aufgehoben und durch „Empfehlungen“ ersetzt. Dabei kommt aus Thüringen eine der jüngsten Meldungen: Gerade wurde in Steinbach-Hallenberg wieder eine Kita-Erzieherin positiv auf Covid-19 getestet; neun Kolleginnen und elf Kinder sind als Kontaktpersonen mitbetroffen.

In Thüringen wie im CDU-regierten Sachsen werden neben Schulen und Kitas auch Kinos, Schwimmbäder in geschlossenen Räumen, Fitnessstudios und Saunen wieder geöffnet. Dies trotz der Erkenntnis, dass sich das Corona-Virus über Aerosole stark verbreitet. In geschlossenen, gemeinsam genutzten Räumen besteht damit eine hohe Ansteckungsgefahr.

Auch Lehrer und Erzieher, die den Risiko-Gruppen angehören, werden trotz steigender Kinderzahl immer häufiger in die Einrichtungen zurückgeholt, und dies obwohl das RKI die Gefährdung für sie weiterhin als „sehr hoch“ einstuft.

„Was hier gerade passiert, ist ein Menschenexperiment“, kommentiert ein Twitterer namens „Paro“ am 8. Juni. „Genau genommen ist es sogar ein Verbrechen gegen Menschen. Denn Schule ist nicht freiwillig! Schüler (+Eltern+Lehrer) werden gezwungen, an diesem Experiment teilzunehmen! Obwohl die Gefahren für Gesundheit/Leben bekannt sind.“

Die rot-rot-grüne Landesregierung von Berlin hat den Schulbetrieb seit dem 11. Mai wieder aufgenommen und schrittweise ausgedehnt. Nach den Sommerferien, d.h. ab dem 10. August, soll der uneingeschränkte Normalbetrieb wieder laufen.

Gleichzeitig sind am Montag an einer Grundschule in Berlin-Spandau fünf Corona-Infektionsfälle aufgetreten. Bis Dienstagabend wurden schon 16 Personen positiv getestet. 50 Kinder und neun Lehrer wurden in Quarantäne geschickt, doch der Präsenzunterricht soll weiterlaufen. Derweil meldete auch Neukölln zuerst zwei Grundschüler und kurz danach neun infizierte Personen.

Vier von fünf Lehrern unterrichten ohne den einfachsten Corona-Schutz, wie eine bundesweite Umfrage des Fachverbands VBE (Verband Bildung und Erziehung) ergab. Verbandschef Udo Beckmann kommentierte: „Anstatt ein angemessenes Arbeitsumfeld mit ausreichend Zeit für Bildung und Erziehung zu schaffen, bekommen Lehrkräfte den Putzeimer in die Hand gedrückt.“

Von über tausend befragten Lehrerinnen und Lehrern hatten 29 Prozent berichtet, dass es an ihrer Schule kaum oder keine Reinigungsmittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel gebe und dass sie selbst beim Putzen helfen müssten. 60 Prozent sagten aus, dass die Belastung jetzt im Vergleich zum regulären Schulbetrieb höher sei.

Besonders zynisch ist auch der Umgang mit dem Erziehungspersonal in Nordrhein-Westfalen (NRW). Hier verschickte die Landesregierung zum Auftakt der Kita-Öffnung am Montag an 10.000 Einrichtungen Masken-Bausätze zum zeitraubenden Selberbasteln statt vernünftiger Masken. „Unfassbar“, „respektlos“ und „wirklich beschämend“, so die Kommentare vieler Erzieher im Netz.

Viele twittern, sie hätten „Bauchschmerzen“, wenn sie an die komplette Öffnung denken. Aber „ich glaube, dass sich dafür keiner interessiert“, so ein Betroffener. „Es geht doch nur darum, dass möglichst die Eltern wieder arbeiten gehen. Geld ist doch der Grund, warum das alles wieder laufen soll wie zu Anfang des Jahres. Scheiß was auf die Lehrkräfte, die Pädagogen.“

Ein anderer antwortet: „Donald Trumpeltier brüllt auf Twitter: NASDAQ alltime high! Und es ist sogar so. Ob nochmal ein paar hunderttausend Tote dazu kommen, ist doch egal. Hauptsache, Wirtschaft läuft.“

Viele weisen darauf hin, dass „Eltern und Kinder weder gehört, noch Schulen gefragt“ worden seien. Eine „Lehrerseele“ schreibt, sie bekomme „Kopfschmerzen, Panik und das Bedürfnis, den Kopf gegen die Wand zu schlagen“.

Neue Infektionen gibt es beinahe täglich, und gerade in NRW häufen sich die alarmierenden Meldungen. So wurde in Bochum-Ehrenfeld am Montag eine komplette Kita-Gruppe (16 Kinder und vier Erzieherinnen) in häusliche Quarantäne geschickt, nachdem ein Corona-Fall bestätigt worden war.

In Wattenscheid sind ebenfalls zwei Schüler Covid-19-positiv getestet worden. Ihre Lerngruppe, bestehend aus acht Schülern, ist in Quarantäne, doch der Schulbetrieb läuft weiter. Auch in Ahlen (Münsterland) wurde am Dienstag ein erkranktes Grundschulkind gemeldet, das eine ganze Schulgruppe angesteckt haben könnte.

Im grün-schwarz regierten Hessen will die Landesregierung alle Schüler noch vor den Ferien in die Schulen schicken. Man wolle „prüfen, wie sich dann in den sechs Ferienwochen die Infektionszahlen entwickeln“, so der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU). Zu dem Vorschlag des Bonner Virologen Hendrik Streeck, gezielt mehr Infektionen zuzulassen, sagte Lorz der Frankfurter Rundschau: „Ich finde diese Idee sehr spannend und denke aktuell darüber nach.“

Zahlreiche Politiker setzen Lehrer und Erzieher unter Druck, auf Abstand und Masken zu verzichten. Das forderte am Dienstag ausdrücklich auch die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Stefanie Hubig (SPD), eine Juristin und frühere Amtschefin im Justizministerium von Heiko Maas.

Im RBB-Interview betonte Hubig, es sei jetzt „wichtig, von der Abstandsregel wegzukommen, damit wir wieder im normalen Klassenverband unterrichten können“. Dazu hätten ihr „die Expertinnen und Experten“ geraten. Auch „anlasslose Tests, sozusagen flächendeckend“, schloss sie aus, und Masken seien nur für ältere Jugendliche eine Möglichkeit.

Ihre Vorschläge begründete die KMK-Vorsitzende mit rein wirtschaftlichen Argumenten. Die Abstandsregel bedeute, „dass wir eigentlich nur halbe Klassen, manchmal nur eine Drittel-Klasse, in die Schule schicken und gleichzeitig von einer Lehrkraft unterrichten lassen können. Da werden dann natürlich die Räume und die Personen knapp.“

Dabei sind gerade in Rheinland-Pfalz, dem Bundesland, in dem Stefanie Hubig zurzeit das Kultusministerium leitet, zahlreiche Corona-Fälle an den Schulen aufgetreten. Bis am Dienstagabend gab es dort Verdachtsfälle an insgesamt 21 Schulen. In Trier gibt es derzeit elf bestätigte Covid-19 Fälle an acht Schulen; zahlreiche weitere sind in Ludwigshafen und dem Rhein-Pfalz-Kreis aufgetreten.

Dieselben Politiker, die es für richtig halten, hunderte Milliarden Euro an „Corona-Hilfe“ in die Banken und nationalen Flaggschiff-Unternehmen zu stopfen, sehen keine Notwendigkeit, die Schulen Corona-gerecht auszustatten, massiv in mehr Lehrpersonal und bessere, gesündere Schulen zu investieren und Lehrer, Erzieher und Kinder zu schützen.

Dabei ist die ganze Propaganda, der zufolge Kinder gegen das Virus quasi immun seien, längst durch wissenschaftliche Studien widerlegt. Der Charité-Virologe Christian Drosten, den die Bild-Zeitung und andere rechte Hetzblätter aufs übelste verleumden, hält an den Ergebnissen seiner Forschung fest: Kinder tragen eine ebenso hohe Viruslast wie Erwachsene und sind mithin sowohl ansteckend wie selbst gefährdet. Die Forscher folgern daraus für die Schulen und Kitas: „Die uneingeschränkte Öffnung dieser Einrichtungen sollte sorgfältig mit Hilfe von vorbeugenden diagnostischen Tests überwacht werden.“

Doch gerade daran mangelt es in besonderem Maße. In der bereits erwähnten Umfrage des VBE erklärten 74 Prozent der Befragten, dass sie freiwillige Tests begrüßen würden. Dabei werden sehr oft nicht einmal Personen mit Erkältungssymptomen getestet. Nur jede dritte Lehrkraft bestätigte, dass Personen, die in ihrer Einrichtung durch Fieber und Husten auffielen, tatsächlich auf das Corona-Virus getestet wurden, und 40 Prozent sagten aus, dies werde unterschiedlich gehandhabt und sei abhängig vom behandelnden Arzt. Keine Rede jedoch von irgendwelchen nicht-symptomatischen, flächendeckenden und regelmäßig wiederholten Tests, wie sie die WHO und Drosten nahelegen.

Damit ist eine neue Welle der Corona-Pandemie praktisch vorprogrammiert. In Israel haben die Schulöffnungen in nur drei Wochen zu einem neuen Aufflammen des Virusgeschehens geführt. Dort gab es in kürzester Zeit über 300 neue Corona-Fälle. Die Regierung musste die Reißleine ziehen und sämtliche Schulen wieder schließen.

In Deutschland machen Kita-Erzieher, Lehrpersonal und Schüler gerade eine entscheidende Erfahrung. Diese ist von den globalen Protesten nach dem Polizeimord an George Floyd nicht zu trennen: Am eigenen Leib erfahren sie, dass sämtliche Politiker – auch SPD, Grüne und Linke – dem Profitsystem stärker verpflichtet sind als dem Leben der Menschen. Wie tausende Arbeiter in der Autoindustrie, bei Amazon oder in den Fleischbetrieben werden auch Lehrer und Erzieher in einen sogenannten „Normalbetrieb“ gezwungen, der schon vor der Corona-Pandemie alles andere als normal war.

Was die Schulen betrifft, so gab die KMK-Vorsitzende Stefanie Hubig auch die Empfehlung, jetzt den Lehrermangel verstärkt durch Vertretungslehrer und Quereinsteiger auszugleichen. Das zeigt, dass die Regierungspolitiker entschlossen sind, zum Status quo zurückzukehren. Dieser war durch zu große Klassen, verwahrloste Schulen und Lehrermangel geprägt und hat zwangsläufig zu massiver sozialer Ungleichheit geführt. Die Pandemie verwandelt eine bereits bestehende Krise in eine Katastrophe.

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