Ehemaliger Spiegel-Journalist widerspricht Behauptung, Assange habe Informanten gefährdet

Im aktuellen Prozess um die Auslieferung Julian Assanges an die USA trat am 16. September der preisgekrönte Berliner Enthüllungsjournalist John Goetz als Zeuge der Verteidigung auf. Er widerlegte klar die Behauptung der US-Regierung, Assange habe es versäumt, bei der Veröffentlichung geheimer Verschlusssachen die Klarnamen zu schwärzen, und dadurch das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht.

Schon seit April 2019 sitzt der WikiLeaks-Gründer völlig isoliert im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Die Trump-Regierung fordert seine Auslieferung in die USA, wo ihm bei einer Verurteilung nach allen 18 Anklagepunkten 175 Jahre Gefängnis drohen. Der Prozess wird seit dem 7. September im Londoner Justizkomplex „Old Bailey“ geführt.

Der Investigativjournalist John Goetz und frühere Spiegel-Redakteur berichtet für NDR und die Süddeutsche Zeitung über den Fall Assange. Er war selbst beim Spiegel tätig, als dieser vor zehn Jahren mit WikiLeaks zusammenarbeitete. Im Juni 2010 reiste Goetz nach London, wo er mit Assange und führenden Journalisten des Guardian und der New York Times an den Enthüllungen arbeitete, die als „Afghan War Diary“ in die Geschichte eingehen sollten.

Zuvor hatte Goetz für den Spiegel über deutsche Kriegsverbrechen in Afghanistan berichtet. Dazu gehörte auch der Bericht über den Luftangriff bei Kundus am 4. September 2009, bei dem 142 Zivilisten ums Leben kamen; Bundeswehroberst Georg Klein hatte das Blutbad angeordnet. Für diesen Bericht wurde Goetz mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis für investigativen Journalismus ausgezeichnet.

John Goetz, bei der Preisverleihung der Deutschen Akademie für Fernsehen 2015 [via Wikipedia]

In der Verhandlung vom letzten Mittwoch erhielt Goetz von der Bezirksrichterin Vanessa Baraitser für seine Aussage lediglich eine halbe Stunde Zeit. Dennoch gelang es ihm, die US-Anklage umfassend zu entkräften, in der es heißt, Assange habe „bestimmte geheime Dokumente veröffentlicht, ohne zuvor die Namen unschuldiger Menschen unkenntlich zu machen“. Laut der US-Regierung hatte Assange damit „die Sicherheit und Freiheit derjenigen, die den USA und ihren Verbündeten Informationen lieferten, aufs Spiel gesetzt“.

Goetz stellte in seiner Zeugenaussage als Sachverständiger fest, dass die einzige „Gefährdung von Menschenleben“ allein von den US-Kriegsverbrechen ausging, die Assange und WikiLeaks aufdeckten.

Mark Summers, Kronanwalt für die Verteidigung, fragte Goetz nach dem Inhalt der afghanischen Dokumente: „Waren sie nichtssagend, irrelevant?“

„Das 'Tagebuch' war ein faszinierender Augenzeugenbericht aus erster Hand über das, was im Afghanistan-Krieg passierte, und wie es passierte“, antwortete Goetz. „Es veranlasste mich, mit Nick Davies an einer Story über die Task Force 373 zu arbeiten, eine Art Mordkommando, das in Afghanistan operierte. Das wurde damals eine Titelgeschichte für den Spiegel.

Die Task Force 373 „entsprach der Operation Phoenix im Vietnamkrieg: Es war ein Team, das hinging und Morde verübte (...) In den Dokumenten konnte man ihre Aktivitäten nachverfolgen. Das hatte man zuvor nicht gewusst, und deshalb war es damals eine große Sache.“

Eine zweite Aussage, die Goetz als Zeuge machte, bezog sich auf den deutschen Staatsbürger Khalid el-Masri. Dieser war 2003 von der CIA verschleppt, in ein Geheimgefängnis in Afghanistan überstellt und dort unter schrecklichen Folterbedingungen inhaftiert worden. Goetz hatte el-Masris Odyssee recherchiert und 2006 publik gemacht. „Zu diesem Zeitpunkt“, erklärte Goetz, „glaubten nur sehr wenige Menschen, dass dies wahr sei.“

Später machte Goetz die CIA-Agenten, die El-Masri entführt hatten, in den Vereinigten Staaten ausfindig. Nachdem der NDR die Geschichte veröffentlicht hatte, erließ die Staatsanwaltschaft München Haftbefehl gegen jeden der 13 CIA-Entführer, aber die Haftbefehle wurden in den USA, wo die Täter lebten, niemals zugestellt.

„Als ich schließlich die diplomatischen Depeschen sah, gab ich im Suchsystem als eines der ersten Dinge 'Khalid el-Masri' ein“, erinnerte sich Goetz. „Ich war fasziniert, schwarz auf weiß zu lesen, was für einen Druck die Vereinigten Staaten auf die deutsche Regierung ausgeübt hatten, damit sie keine in den Vereinigten Staaten gültigen Haftbefehle ausstelle.“

Old Bailey, wo der Prozess gegen Assange stattfindet

Goetz bestätigte mit seiner Aussage auch, dass Julian Assange „außerordentliche“ Anstrengungen unternommen hatte, um Dokumente zu redigieren, Namen unkenntlich zu machen und Menschen dadurch zu schützen.

Über seine eigene Zeit im „Bunker“ des Guardian sagte Goetz: „Ich erinnere mich, dass ich sehr verärgert und irritiert über die ständigen, nicht enden wollenden Ermahnungen von Assange war, dass wir die Sicherheit ernst nehmen müssten. Dass wir Dinge verschlüsseln sollten und verschlüsselte Chats benutzen müssten. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ein Kryptophon gesehen oder benutzt oder berührt. Die Bemühungen um Sicherheit in jedem Aspekt des Materials waren enorm.“

Goetz räumte ein, dass er selbst Assanges Konzentration auf die Datensicherheit damals für „paranoid und verrückt“ gehalten habe. Aber später sei es „journalistische Standardpraxis“ geworden. Er erinnerte sich an ein Interview mit Assange im Restaurant des Guardian im Jahr 2010, als der WikiLeaks-Herausgeber das Vorgehen erläuterte, mit dem bewusst darauf geachtet wurde, möglichst wenig Schaden anzurichten und „Unschuldige zu schützen“.

Was die „Schadensbegrenzung“ der Medienpartner selbst betraf, so bezogen sie ihre Kontakte zu dem Weißen Haus darin ein: „Das Team der New York Times, mit dem wir in Washington arbeiteten, hatte ihre Verbindungen. Sie wussten, wie sie das Weiße Haus erreichen konnten, und sie schickten eine Delegation ins Weiße Haus, um dort über ihre Bedenken bezüglich der Veröffentlichung zu sprechen.“

Unmittelbar nach diesem Treffen im Weißen Haus bat der Herausgeber der Times, Erick Schmitt, darum, Namen zu „redigieren“, und WikiLeaks sagte zu, 15.000 Depeschen aus dem Afghanistan-Krieg zu prüfen. Wie sich Goetz erinnerte, erklärte sich WikiLeaks sogar bereit, bei der Schwärzung von Namen die „technische Unterstützung“ durch die ISAF (International Security Assistance Force) in Afghanistan zu akzeptieren.

Mit dem Schwärzen der Irak-Kriegsprotokolle, erzählte Goetz, habe WikiLeaks schließlich übers Ziel hinausgeschossen und sogar weniger Dokumente veröffentlicht, als bereits vom US-Verteidigungsministerium im Rahmen der Informationsfreiheit freigegeben worden waren.

Bei den US-Diplomatendepeschen sei WikiLeaks sogar noch strenger vorgegangen. Vor der Veröffentlichung sei alles kontrolliert und die Namen unkenntlich gemacht worden. Diese Depeschen sollten im Laufe eines ganzen Jahres Land für Land mit lokalen Medienpartnern durchgegangen werden. In der Zwischenzeit nahmen Assanges ursprüngliche Medien-Partner an einer Telefonkonferenz mit Staatsbeamten des US-Außenministeriums teil, die den Journalisten die Nummern der Dokumente mit sensiblem Inhalt nannten.

Als die 30-Minuten-Frist für die Verteidigung um war, befragte Summers Goetz noch nach den Abschnitten 30 und 31 seines schriftlich vorgelegten Beweismaterials. Dort geht es darum, welche Rolle die Guardian-Journalisten Luke Harding und David Leigh gespielt hatten, als ein bestimmtes „Codewort“, das WikiLeaks zum Schutz unzensierter Depeschen erstellt hatte, an die Öffentlichkeit gelangte: „Können Sie, falls jemand danach fragt, den Prozess erklären, durch den unredigierte Depeschen des Außenministeriums an die Öffentlichkeit gelangten?“

„Ja“, antwortete Goetz. Später erklärte er im Kreuzverhör, dass die einzigen von WikiLeaks veröffentlichten unzensierten Dokumente diejenigen waren, die bereits über die Cryptome-Website allgemein zugänglich waren, und dass dies den eigenen Journalisten des Guardian zu verdanken sei.

James Lewis, Kronjurist der Anklage, bezog sich im Namen der US-Regierung auf einen Schub von 133.000 Depeschen, die WikiLeaks im August 2011, vor der Veröffentlichung von Cryptome, publiziert hatte. Aber Goetz erklärte, dies seien gar keine geheimen Verschlusssachen gewesen. In einer weiteren Befragung von Goetz stellte Summers anschließend sogar fest, dass die Behauptung, Assange habe das Leben von US-Informanten gefährdet, sich auf den Artikel eines Journalisten der Los Angeles Times, Ken Dilanian, gestützt habe. Dieser Mann sei später entlassen worden, weil er schon früher bestimmte Berichte der CIA zugespielt hatte.

Als James Lewis, der Anwalt der Anklage, Goetz ins Kreuzverhör nahm, geriet die Verhandlung mehrmals ins Stocken. Er brachte Daten durcheinander und verwechselte einmal sogar die Protokolle aus dem Afghanistankrieg mit den diplomatischen Depeschen des US-Außenministeriums.

Zuletzt versuchte Lewis noch, zu verhindern, dass die umfassende Zeugenaussage von Khalid El-Masri als Beweismittel zugelassen würde. Er erhob Einspruch gegen ihre Verlesung und behauptete, das einzige Motiv dafür sei, das Gericht gegen seinen Mandanten, die US-Regierung, einzunehmen.

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