Etablierte Parteien wählen AfD-Mann in Gera zum Stadtratsvorsitzenden

Die Ereignisse in Gera unterstreichen erneut die scharfe Rechtsentwicklung der herrschenden Klasse in Deutschland. Am vergangen Donnerstag wurde in der drittgrößten Stadt Thüringens mit dem pensionierten Arzt und AfD-Mann Reinhard Etzrodt zum ersten Mal seit 1945 das Mitglied einer rechtsextremen Partei zum Stadtratsvorsitzenden gewählt. Etzrodt erhielt 23 von 40 abgegebenen Stimmen, obwohl die AfD nur über zwölf Sitze im Stadtrat verfügt. Das heißt: der Rechtsextremist wurde mit Unterstützung der etablierten Parteien ins Amt gehievt.

Etzrodt ist ein führender Vertreter der faschistischen Höcke-AfD in Thüringen und verfügt über Verbindungen zu Neonazis und rechtsextremen Terrorgruppen. Medienberichten zufolge nahm er im Juni 2015 an der Thügida-Demo in Gera teil. Der rechtsextreme Aufmarsch wurde von Mitgliedern der NPD und der mittlerweile aufgelösten „Europäischen Aktion“ organisiert. An der Demo nahmen auch frühere Weggefährten der Kernzelle des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und Aktivisten des Anfang 2020 verbotenen Neonazi-Terrornetzwerks „Combat 18“ teil.

Reinhard Etzrodt (hinten Mitte) im Juni 2015 auf der Thügida-Demo in Gera (Foto: Antifa Recherche Gera)

Etzrodts gemeinsamer Marsch mit Rechtsterroristen war kein Ausrutscher, sondern zeigt den wirklichen Charakter der AfD. Erst vor wenigen Tagen sah sich die rechtsextreme Partei gezwungen, ihrem früheren Leiter der Pressestelle der AfD-Bundestagsfraktion, Christian Lüth, fristlos zu kündigen. Lüth hatte sich in Chatdiskussionen stolz als „Faschist“ bezeichnet und laut Recherchen des TV-Senders ProSieben in einem vermeintlich vertraulichen Gespräch in einer Bar darüber schwadroniert, dass man Migranten „erschießen oder vergasen“ könne. Auf die Frage, ob er mehr Migranten nach Deutschland holen wolle, antwortet er: „Ja. Weil dann geht es der AfD besser. Wir können die nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal!“

Nach der Wahl von Etzrodt bemühten sich die etablierten Parteien, jede Schuld von sich zu weisen. Der neue Thüringer Landesvorsitzende der CDU, Mario Voigt, beteuerte, man habe sich „klar darauf verständigt, den AfD-Kandidaten nicht zu wählen“. Linkspartei und Grüne warfen der CDU genau das vor. „Wenn Rot-Rot-Grün geschlossen nicht für den AfD-Kandidaten gestimmt hat, wovon auszugehen ist, muss es rechnerisch Stimmen aus der CDU für Etzrodt gegeben haben. Das ist also eindeutig“, erklärte Daniel Reinhardt, der für die Linkspartei im Geraer Stadtrat sitzt.

„Rechnerisch eindeutig“ ist in jedem Fall, dass der Faschist Unterstützung aus den Reihen der etablierten Parteien erhielt. Im Geraer Stadtrat sind momentan 42 Sitze auf elf Fraktionen verteilt. Die AfD stellt zwölf Abgeordnete, die Linkspartei acht, die CDU sechs, die Bürgerschaft Gera drei, das Bündnis „Für Gera“ drei, die Grünen drei, die SPD drei, und die Freien Wähler, die Liberale Allianz, die FDP und Die Partei jeweils einen. Selbst wenn man also davon ausginge – was unwahrscheinlich ist –, dass alle Vertreter der kleineren, parteiunabhängigen Fraktionen für die AfD gestimmt hätten, käme man lediglich auf 21 Stimmen. Anders gesagt: mindestens zwei pro-AfD Stimmen kamen von den Bundestagsparteien.

Natürlich spricht einiges dafür, dass die Stimmen von CDU und FDP kamen. Bereits im November 2019 hatten sich der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, Michael Heym, und 17 weitere thüringische CDU Funktionäre nach der Landtagswahl für „ergebnisoffene“ Gespräche mit der AfD ausgesprochen. Heym verwies auf die „bürgerliche Mehrheit rechts“ und spekulierte auf eine CDU-FDP Regierung, toleriert durch die AfD. Eine Option die auch der faschistische Vorsitzende der Thüringen-AfD, Björn Höcke, damals ins Spiel gebracht hatte.

Nach den Landtagswahlen wurde diese Strategie umgesetzt. Im Februar dieses Jahres wurde der Landesvorsitzende der FDP, Thomas Kemmerich, mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsident gewählt. Nach spontanen Massenprotesten in ganz Deutschland – allein 20.000 gingen in der Landeshauptstadt Erfurt auf die Straße – trat er jedoch wieder von seinem Amt zurück.

Am rechten Kurs von CDU und FDP änderte das jedoch nichts. Im Zuge der rechtsextremen Corona-Demonstrationen marschierte Kemmerich ausgerechnet in Gera Seite an Seite mit stadtbekannten Neonazis. Organisator der Demo war der in Gera wohnhafte Unternehmer Peter Schmidt, der parteiloses Mitglied im CDU Wirtschaftsrat ist. Als er Kemmerich auf der Demonstration als Redner vorstellte, nannte er ihn den „einzig legitimen Ministerpräsidenten“.

Die Behauptung von Rot-Rot-Grün, eine „linke Alternative“ zur braunen Allianz aus CDU, FDP und AfD zu präsentieren, ist pure Heuchelei. Gerade in Thüringen hat sich gezeigt, dass auch Linkspartei, SPD und Grüne bereitstehen, mit den Faschisten zu paktieren. So verhalf Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei im März dem AfD-Abgeordneten Michael Kaufmann mit seiner Stimme zum Amt des Vizepräsidenten des thüringischen Landtags. Er habe „sehr grundsätzlich entschieden, […] den Weg frei zu machen für die parlamentarische Teilhabe, die jeder Fraktion zugebilligt werden muss“, erklärte er damals.

Auch SPD und Grüne haben in der Vergangenheit wiederholt mit der AfD und anderen rechtsextremen Parteien gestimmt. Die SPD votierte ebenfalls am vergangenen Donnerstag im thüringischen Eisenach gemeinsam mit der AfD und NPD für einen Antrag zur Neubesetzung einer Kuratoriumsstelle.

Vor einem Jahr wählten Vertreter von SPD, CDU und FDP den stellvertretenden hessischen NPD-Landesvorsitzenden, Stefan Jagsch, zum Ortsvorsteher in der Wetterau-Gemeinde Altenstadt. Kurz danach wurde bekannt, dass die SPD Stadtratsfraktion in Sassnitz auf Rügen mit der AfD zusammenarbeitet und dass der Grüne Uwe Börner im sächsischen Gohrisch eine Gemeinderatsfraktion mit der AfD gebildet hat. Etwa zur selben Zeit brachte der SPD-Direktkandidat Udo Wernitz im Rahmen der Landtagswahl in Brandenburg eine Koalition mit der AfD ins Gespräch.

Anfang dieses Jahres stimmten im mecklenburgischen Waren/Müritz Linkspartei, SPD und Grüne für einen Antrag der AfD. Im Mai kooperierten im brandenburgischen Forst die Stadtfraktion um den Linkspartei-Politiker Ingo Paeschke und die AfD bei einem Neubauprojekt. Paeschke veranstaltete sogar eine gemeinsame Pressekonferenz mit den Rechtsextremen.

Ebenfalls im Mai ließ sich Günter Schulz von der bayerischen SPD mit den Stimmen der AfD zum zweiten Bürgermeister von Höchstadt wählen. In diesem September wiederum brach die SPD in der Bezirksversammlung von Berlin-Pankow mit ihren bisherigen rot-grünen Koalitionspartnern und stimmte u.a. gemeinsam mit der AfD für einen Gegenantrag.

Die enge Zusammenarbeit auch der nominell linken bürgerlichen Parteien mit der AfD ist mittlerweile so weit verbreitet, dass selbst der Geraer AfD-Stadtrat Dieter Laudenbach nach der Wahl erklärte: „Ich weiß nicht, ob die CDU für unseren Kandidaten gestimmt hat, und halte es für sehr vorstellbar, dass die Stimmen auch von Linken oder SPD kommen.“

Unabhängig davon, wer am vergangenen Donnerstag letztlich für Etzrodt und die AfD gestimmt hat, die Wahl ist eine Warnung und beinhaltet wichtige Lehren. In der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren setzt die herrschende Klasse erneut auf eine faschistische Partei, um ihre Politik von Sozialabbau und Militarismus gegen die wachsende soziale und politische Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen durchzusetzen. Wie damals erfordert der Kampfgegen Faschismus und Krieg die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

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