Kultusminister beschließen „Wiederaufnahme des Schulbetriebs“

Unter Bedingungen einer völlig außer Kontrolle geratenen Covid-19-Pandemie haben die Kultusminister der Bundesländer gestern einhellig beschlossen, an den Schulen schnellstmöglich wieder für allgemeinen Präsenzunterricht zu sorgen. Sie setzen damit bewusst das Leben und die Gesundheit von Hunderttausenden Lehrern, Schülern und ihren Angehörigen aufs Spiel und nehmen in Kauf, dass sich die Pandemie weiter über ganz Europa ausbreitet.

In ihrem „Beschluss zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs“ hält die Kultusministerkonferenz (KMK) fest, dass „die Öffnung von Schulen höchste Bedeutung hat“, und betont „die Bedeutung einer schnellen Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts“. Sobald sich in einem Bundesland „Spielräume für Lockerungen ergeben“, so die KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD), „sollen die Grundschülerinnen und Grundschüler bzw. die unteren Jahrgänge als erstes wieder die Schule besuchen“. Wann immer Infektionsschutzmaßnahmen gekippt oder abgeschwächt werden, folgert das Papier, „müssen die Schulen von Anfang an dabei sein“.

Obwohl die Kultusminister in ihrem Statement explizit „nach wie vor hohe 7-Tage-Inzidenzwerte“ zur Kenntnis nehmen, sieht der Beschluss eine systematische „Rückkehr der Schülerinnen und Schüler aus dem momentan praktizierten Distanzunterricht bzw. der Aufhebung der Präsenzpflicht an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen“ vor. Dies soll in drei aufeinanderfolgenden Stufen geschehen, deren Zeitplan den Landesregierungen obliegt: (verpflichtender) Präsenzunterricht für die Jahrgänge 1 bis 6 (Stufe 1); ergänzend Hybridunterricht ab Jahrgang 7 (Stufe 2); und schließlich „Präsenzunterricht für alle“ (Stufe 3). Sämtliche Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen sind von diesem Plan ausgenommen und sollen „die Vorbereitung auf Prüfungen“ fortsetzen, als ob keine Pandemie herrsche.

Die Öffnung von Schulen und Betrieben wird von sämtlichen Bundestagsparteien gleichermaßen vorangetrieben. Für die Grünen, die kein eigenes Bildungs- und Kultusministerium führen, forderte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gestern gegenüber der Zeitung Welt eine „Betreuungsgarantie“ an Schulen und Kitas – und zwar „für alle, die es brauchen“, d.h. insbesondere für Eltern, die in nicht lebensnotwendigen Betrieben arbeiten. Diese zynische Forderung zielt darauf ab, Arbeitern jede Argumentationsgrundlage zu entziehen, um von ihren Vorgesetzten eine Beurlaubung zu verlangen.

Göring-Eckhardt verlangte im Gespräch mit der Zeitung sogar explizit, dass auch kranke und ansteckende Kinder zur Schule geschickt werden sollen: „Dass Kinder nicht zur Schule dürfen, nur weil die Nase läuft, kann keine Lösung sein“ – gerade die Öffnung der Grundschulen solle „schnellstmöglich“ in Angriff genommen werden.

Es ist diese verbrecherische Öffnungspolitik im Interesse der kapitalistischen Wirtschaft, die das humanitäre Desaster von tausend Toten am Tag herbeigeführt hat. Trotz stark verringerter Kapazitäten der Gesundheitsbehörden stellte die vergangene Woche mit 4.594 gemeldeten Toten in Deutschland die bislang schlimmste Woche der Pandemie dar.

Während das bevorstehende Urlaubsende einen weiteren rapiden Anstieg der Toten und Schwerkranken zu markieren droht, ist die Situation in den deutschen Kliniken bereits jetzt verzweifelt. Wie ein von der Berliner Morgenpost auf der Grundlage des DIVI-Registers erstelltes Dashboard zeigt, sind derzeit 24 Prozent aller Kliniken voll ausgelastet. Covid-Fälle sind ferner bereits für mehr als jedes vierte belegte Intensivbett verantwortlich. Die 297 voll ausgelasteten Kliniken verteilen sich über das gesamte Bundesgebiet, mit besonderen Ballungen in Hessen, NRW, Sachsen, Nordbayern und dem Großraum Berlin.

Die wirkliche Lage ist aufgrund des verheerenden Mangels an geschultem Pflegepersonal zweifellos noch weitaus schlimmer. Bereits vor Weihnachten häuften sich Berichte von überfüllten Kühlhallen und überlasteten Krematorien, die trotz zusätzlich angeschafften Kapazitäten und Mehrschichtbetrieb nicht mehr mit der Beisetzung der Leichname Schritt halten können. Im nordrhein-westfälischen Wuppertal ließ das Technische Hilfswerk über die Feiertage eigens Zelte errichten, um dort auch Tote außerhalb des Krematoriums lagern zu können.

Wie die Sächsische Zeitung berichtet, sind mittlerweile „in ganz Sachsen“ die Krematorien überlastet. In Meißen ist „die Leichenhalle kaum passierbar“, obwohl die Särge sogar in der großen Feierhalle „mannshoch gestapelt“ werden. Im Dresdner Krematorium werden derzeit täglich 100 bis 120 Särge angeliefert – doppelt so viele wie in normalen Zeiten, so Bürgermeisterin Eva Jähnigen gegenüber dem MDR. Einhundert Leichname müssten in umliegende Gebiete verbracht werden.

Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) nannte mit Blick auf das neue Jahr „drei Baustellen“ ihrer Arbeit: Die beschleunigte „Ausstellung der Sterbeurkunden in den Standesämtern“, die „Lagerung Verstorbener“, sowie die Optimierung der „Abläufe in den Krematorien selbst“. Lockdown- und Quarantänemaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung erwähnte sie nicht.

Am Wochenende brachte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) den Standpunkt der herrschenden Klasse auf den Punkt. „Es ist schier unmöglich, per Gesetz jeden Corona-Todesfall zu verhindern“, erklärte er in einem Interview mit der Osnabrücker Zeitung. Man könne „nicht um jeden Preis jedes Leben schützen und alles andere muss dahinter zurücktreten“.

Das ist unmissverständlich: Die Politik der Regierungen in Bund und Ländern wird auch im neuen Jahr nicht darauf ausgerichtet sein, Leben zu retten, sondern für die Profite der Wirtschaft und Superreichen über Leichen gehen. Es sei seine „Grundüberzeugung“, dass die Politik die Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens und den Nachteilen der Corona-Maßnahmen „nicht komplett per Verordnung oder Gesetz auflösen kann“, fügte Schäuble zynisch hinzu. Es gebe auch keinen Wissenschaftler, der den „Stein der Weisen“ besäße. „Wir leben ein Stück weit im Ungewissen. Das gehört zum Leben dazu.“

Schäubles Fatalismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Pandemie eine tödliche Gewissheit ist, die weitere hunderttausende Menschenleben fordern wird, wenn nicht sofort harte Lockdown-Maßnahmen ergriffen werden. Die Wissenschaftler, deren Erkenntnisse und Warnungen Schäuble und Vertreter aller Bundestagsparteien täglich mit Füßen treten, sprechen eine immer deutlichere Sprache.

Mittlerweile haben fast eintausend europäische Wissenschaftler, darunter Charité-Virologe Christian Drosten, RKI-Präsident Lothar Wieler und die Präsidenten der großen Wissenschafts- und Forschungsgesellschaften Deutschlands, den gemeinsamen Appell für „einen gesamteuropäischen Einsatz für eine schnelle und dauerhafte Reduktion der SARS-CoV-2-Infektionen“ unterzeichnet. Zu den Verfassern des Aufrufs, der ursprünglich am 18. Dezember in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschien, zählen Viola Priesemann, Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek und 17 weitere Forscher aus ganz Europa.

„Um die Fallzahlen schnell zu reduzieren, braucht es entschlossenes Handeln [und] tiefgreifende Interventionen“, heißt es in dem Papier. „Um einen Ping-Pong-Effekt von importierten und re-importierten COVID-Infektionen zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen.“ Die europäischen Länder sollten mit „koordinierten Anstrengungen [...] entschlossen auf niedrige Fallzahlen hinarbeiten.“

Die Forderung nach einem konsequenten Lockdown, um die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen, wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. In den sozialen Medien befanden sich gestern unter den meistdiskutierten Trend-Begriffen auf Twitter unter anderem „#nationallockdown“ und „#LasstDieSchulenZu“.

Die Unterzeichner eines gemeinsamen „Brandbriefs“ von Lehrer-, Schüler- und Elterninitiativen fordern explizit, „den dringenden Appell der Wissenschaft“ umzusetzen und „eine Zero Covid Strategie“ zu implementieren, „mit dem Ziel, das Virus zu eliminieren“. Die Tatsache, dass „Schulen und Kitas (…) ohne wirksamen Infektionsschutz im Regelbetrieb geöffnet waren“, stehe in einem „deutlichen Zusammenhang“ mit dem „Anstieg der Infektionszahlen“. Unter Pandemiebedingungen „lehnen wir Präsenzunterricht ausdrücklich ab“.

Um diese Maßnahmen durchzusetzen und Leben zu retten, müssen Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern das Heft des Handelns in die eigene Hand nehmen. Die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Jugend- und Studierendenorganisation IYSSE kämpfen für den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees, um die Rückkehr an die Schulen zu verhindern und Streiks für die sofortige Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe vorzubereiten. Unsere Forderungen lauten: Schließt die Schulen und Kitas und bereitet sichere Bildung vor! Milliardeninvestitionen in sichere und gute Bildung! Voller Lohnersatz für Eltern, die ihre Kinder betreuen müssen!

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