International Marxist Tendency: Erstürmung des Kapitols war „kein organisierter aufständischer Putsch“

Am 6. Januar stürmte ein von Donald Trump aufgestachelter faschistischer Mob das Kapitol. Seither haben pseudolinke Organisationen auf der ganzen Welt unisono verkündet, es sei im Grunde nichts Wesentliches passiert. Sie lehnen es ausdrücklich ab, die Ereignisse als faschistischen Putschversuch zu bezeichnen. Dabei hatten die Aufständischen die Absicht, Geiseln zu nehmen und Bidens Amtsantritt zu verhindern, und bis heute werden sie von einem Großteil der Republikaner unterstützt.

Die International Marxist Tendency (IMT) steht beispielhaft für diese Selbstzufriedenheit, die die Arbeiterklasse einlullen soll, indem ihr eingeredet wird: „Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.“ Die IMT wurde 1993 von Alan Woods und dem inzwischen verstorbenen Ted Grant gegründet. Wie schon ihre Vorgängerorganisationen, dient sie sich der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen und „linken“ Parteien unterwürfig an, während sie revolutionäre „marxistische“ Phrasen drischt, um Arbeiter und Jugendliche, die den Kampf aufnehmen, in die Irre zu führen.

Alan Woods, Herausgeber der Zeitschrift "In Defence of Marxism" [Quelle: Wikimedia Commons]

Am 7. Januar, nur Stunden nach dem Angriff auf das Kapitol, erschien in Socialist Revolution (USA), dem Organ der amerikanischen Gesinnungsgenossen der IMT, ein Artikel, betitelt „Trumps ‚Aufstand‘ und das Chaos der bürgerlichen Demokratie in den USA“, den ihr Ableger Der Funke auf Deutsch übersetzte. Die Kernbotschaft ist ein Plädoyer für die fortdauernde Stabilität der amerikanischen Demokratie: Trump soll angeblich als isolierte, verzweifelte Figur ohne Unterstützung der herrschenden Klasse oder des Staatsapparats agiert haben. Der US-Präsident habe nicht gewollt, dass seine Anhänger das Kapitol stürmten. Die Stabilität der Demokratie in Amerika sei für die nächsten Jahrzehnte gewährleistet.

Der Artikel trivialisiert die Ereignisse und spielt ihre politische Bedeutung herunter. „Es war weithin erwartet worden, dass der 6. Januar, der Tag, an dem der Kongress die Wahl des Präsidenten durch das Wahlleutegremium in einer gemeinsamen Sitzung bestätigen sollte, ein angespannter Tag in Washington sein würde. Dies war der Höhepunkt von Trumps Versuch, das Wahlergebnis als Folge von Wahlbetrug darzustellen. So organisierte der Präsident persönlich einen ‚Marsch zur Rettung Amerikas‘, der mit der Abstimmung im Wahlleutegremium zusammenfallen sollte.“

Mit dieser Darstellung wird die tatsächliche Situation bewusst verharmlost. Trump „versuchte“ nicht einfach, „die Wahl als Betrug darzustellen“. Schon Monate vor der Wahl am 3. November zettelte er offen eine Verschwörung mit dem Ziel an, das Wahlergebnis zu kippen und eine Präsidialdiktatur unter Missachtung der Verfassung zu etablieren. Im Juni drohte er damit, den Insurrection Act (Aufstandsgesetz) gegen Massenproteste anzuwenden, die durch Polizeigewalt ausgelöst worden waren. Er war bereit, das Kriegsrecht zu verhängen und demokratische Rechte auszusetzen. Während des ersten Fernsehduells mit Biden Ende September forderte Trump die faschistischen Proud Boys auf, „abzuwarten und sich bereitzuhalten“ (stand back and stand by), und er erklärte, dass er nichts anderes als einen Wahlsieg anerkennen werde. Im Oktober wurde aufgedeckt, dass sich faschistische und rechtsextreme Milizen mit direkten Verbindungen zu Trump verschworen hatten, das Parlament in Michigan zu stürmen und die Gouverneurin Gretchen Whitmer zu entführen und zu ermorden. Diese Verschwörung war der Probelauf für den 6. Januar.

Die IMT verschweigt, was es bedeutet, dass der bisherige Vizepräsident Mike Pence, der Mehrheitsführer im Senat Mitch McConnell und die Mehrheit des republikanischen Parteiestablishments Trumps Putschversuch im Kapitol aktiv unterstützt haben. Das offene In-Frage-Stellen des Wahlergebnisses durch diese Republikaner war im Rahmen der traditionell feierlichen Zeremonie ein beispielloser Vorgang und schuf die politische Atmosphäre, in der sich der Putschversuch abspielte.

Die Tatsache, dass der Mob mühelos ins Kapitol eindringen konnte, obwohl es eins der bestbewachten Gebäude der Welt ist, unterstreicht außerdem, dass Trumps Verschwörung erheblichen Rückhalt im Staats- und Sicherheitsapparat hatte. Zahlreiche Beweise belegen, dass die Aufständischen die Gefangennahme und Geiselnahme von Senatoren und Abgeordneten geplant hatten – was ihnen beinahe gelungen wäre –, und dass sie Zugeständnisse von Biden erzwingen wollten. Das zeigt sehr deutlich, welche Gefahr von dem Putsch ausging.

Das alles bestreitet die IMT und erklärt: „Trump und seine eingefleischten UnterstützerInnen im Kongress haben mit ziemlicher Sicherheit nicht geplant, dass die Meute in das Kapitol eindringt. Aber sie haben mit dem Feuer gespielt.“ Für diese schamlose Verteidigung Trumps liefern sie keinerlei Begründung. Im Sinne ihres eigenen Narrativs, es habe sich mehr um einen spontanen Hassausbruch einer Handvoll Rechtsextremer gehandelt, fügen sie hinzu, „Trumps Kampfhunde (…) brachen von ihrer Leine los“.

„Zweifellos sind dies dramatische Ereignisse!“, belehrt die IMT ihre Leser. „Aber als MarxistInnen müssen wir Augenmaß bewahren. Dies war kein organisierter aufständischer Putsch, der kurz davor stand, die die US-Regierung zu stürzen und ein faschistisches Regime zu errichten, um die Arbeiterklasse und die politische Linke zu vernichten. Weit gefehlt!“

Ein „Möchtegern-Bonapartist“ brauche „die Unterstützung von bedeutenden Teilen des Militärs“, heißt es weiter. „Trump hat diese nicht (…) Wenn das Militär eingesetzt werden sollte, so wäre es, um Trump loszuwerden, nicht um ihn als Diktator zu installieren!“

Auf diese Einschätzung voller weltfremder Selbstzufriedenheit folgt die Versicherung, dass die extreme Rechte nur dann eine Gefahr darstelle, „wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, im Laufe der nächsten ein oder zwei Jahrzehnte die Macht zu übernehmen“.

Nachdem sie auf diese Weise dem US-Militär eine „demokratische“ Gesinnung bescheinigt und Trump und seine rechtsextremen Mitverschwörer in der Republikanischen Partei entlastet hat, empört sich die IMT über die Sperrung von Trumps Twitter-Account.

Der Präsident der Vereinigten Staaten, der über Mittel staatlicher Repression und Propaganda in großem Umfang verfügt und in den sozialen Medien Faschisten und andere bewaffnete Milizen zum Sturz der Regierung aufgerufen hat, sei ein Opfer der „Tyrannei durch Twitter“ geworden, tobte Socialist Revolution eine Woche später in einem weiteren Artikel. Sie verurteilten den „außergewöhnlichen Akt der Zensur“ gegen Trump und verfälschten zu diesem Zweck in zynischer Weise ein Zitat von Leo Trotzki aus dem Jahr 1938. Der Gründer der Vierten Internationale hatte damals vor den gefährlichen Folgen gewarnt, wenn man die Unterdrückung rechter reaktionärer Zeitungen durch die mexikanische Regierung unterstütze.

Trotzki warnte auf prinzipieller Grundlage davor, die Zensur rechter Publikationen durch den kapitalistischen Staat gutzuheißen. Die IMT demonstriert maßlose politische Dummheit und lässt jede Ernsthaftigkeit vermissen, wenn sie keinen Unterschied sehen kann zwischen Trotzkis Herangehensweise und der Entscheidung Twitters, Trumps Account zu sperren – die zum Teil auf die Initiative der Arbeiter zurückgeht, die bei Twitter beschäftigt sind. Es ging darum, Trump daran zu hindern, weiterhin einen faschistischen Putsch anzuzetteln.

IMT käut einfach die Behauptung kleinbürgerlicher Journalisten wie Chris Hedges und Joe Lauria (Consortium News) wieder, die nach dem Putschversuch vom 6. Januar im Stile von Winkeladvokaten argumentierten, dafür trage Trump keine Verantwortung. Die World Socialist Web Site hat darauf hingewiesen, dass derartige politische Schützenhilfe für Trump den langfristigen Zielen hinter dem Putschversuch dienen, rechtsextremistische Kräfte stärker in die amerikanische Politik zu integrieren, selbst wenn diese ihre unmittelbaren taktischen Ziele nicht erreicht haben. (Siehe: Was wäre geschehen, wenn Trumps faschistischer Mob Geiseln genommen hätte?)

In der Befürwortung solch reaktionärer politischer Positionen kommt die Klassenorientierung der IMT zum Ausdruck: Sie spricht für privilegierte Schichten der Mittelklasse. Sie spielt ihre Rolle als „linke“ Verteidigerin des Kapitalismus, indem sie Arbeiter und junge Menschen an die etablierten, nominell „linken“ Parteien und verkommenen Gewerkschaften fesselt.

Das zeichnet die Politik von Grant und seinen Anhängern aus, seit sie Ende der 1940er Jahre endgültig von der Vierten Internationale gebrochen haben. Anfang der 1950er Jahre unterstützten sie vorbehaltlos die revisionistische Attacke der Pablisten auf den Trotzkismus. Sie leugneten die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse. Die revolutionäre Führung, behaupteten sie, werde aus einer Fraktion der stalinistischen Bürokratie, der Sozialdemokratie und den bürgerlich-nationalistischen Bewegungen hervorgehen. Unabhängige trotzkistische Parteien sollten in die „Massenbewegung“ aufgelöst werden, um den Bürokratien als „linke“ Berater und Apologeten zu dienen.

Die Militant-Tendenz, Grants Organisation in England und zeitweise die offizielle Sektion der Pablisten, arbeitete mehrere Jahrzehnte lang innerhalb der Labour Party. Im Gegensatz zu den Trotzkisten der Socialist Labour League war ihr Ziel jedoch nicht, die Illusionen, die viele Arbeiter in der Nachkriegszeit in die Sozialdemokratie hegten, zu zerstören. Vielmehr hielten sie daran fest, dass es möglich sei, die Labour Party und die Gewerkschaften nach links zu drücken und so den Sozialismus zu verwirklichen.

In den 1980er und frühen 1990er Jahren, als die sozialdemokratischen Parteien und alle Arbeiterorganisationen mit nationalreformistischer Orientierung ihre zögerlichen Bekenntnisse zum Sozialismus fallen ließen und sich scharf nach rechts bewegten, verlor diese Perspektive des „tiefen Entrismus“ jegliche Grundlage. Dieser Prozess hatte tiefe Ursachen in objektiven Veränderungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die Globalisierung der Produktion untergrub alle Programme, welche die schlimmsten Exzesse des Profitsystems durch nationale Reformen mildern sollten. Dieser Prozess drückte sich am schärfsten aus in der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie und der Wiedereingliederung Russlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken in die kapitalistische Weltwirtschaft. In England äußerte er sich darin, dass die Labour Party immer offener als Werkzeug des Großkapitals und der Superreichen auftrat.

In dieser Situation kam es zu einem prinzipienlosen Fraktionskampf zwischen Grant und Woods einerseits, der dann die International Marxist Tendency gründete, und Peter Taaffe, dessen Anhänger zunächst Militant Labour und später die Socialist Party gründeten. Taaffes organisatorischer Bruch mit der Labour Party bedeutete nicht, dass Militant ihre Ausrichtung auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Labour Party aufgegeben hätte. Das zeigte sich 2015, als die Socialist Party die Wahl Jeremy Corbyns zum Führer der Labour Party begrüßte. Sie behauptete, dies sei ein wichtiger Schritt vorwärts im Aufbau einer neuen Partei im Bündnis mit Teilen der Gewerkschaftsbürokratie.

Im Gegensatz zu Taaffe bestanden Grant und seine Anhänger darauf, dass die Labour Party und andere sozialdemokratische Parteien sich nicht wesentlich verändert hätten, und dass man weiterhin auf internationaler Ebene am „tiefen Entrismus“ festhalten könne. Zu den Gruppen, die sich dieser Auffassung anschlossen, zählen Fightback in Kanada, deren Mitglieder weiterhin auch Mitglieder der proimperialistischen New Democratic Party sind; die Marxistische Linke in Brasilien, die bis 2015 in der rechten Workers Party verblieb; Grants Unterstützer in Pakistan, die in der bürgerlichen Pakistanischen Volkspartei aktiv waren; und die Gruppe Der Funke in Deutschland, die bis heute der ehemals stalinistischen Linkspartei angehört. Zu dieser politischen Ausrichtung gehörte auch, dass gefährliche Illusionen in die „linken“ nationalistischen Führer der „Rosa Welle“ in Lateinamerika geschürt wurden, vor allem in Hugo Chavez, den früheren Fallschirmjäger und späteren venezolanischen Präsidenten, der sich öffentlich für Woods aussprach und behauptete, um seinen „Sozialismus“ zu stärken, studiere er Woods und Grants Schriften.

Wenn die IMT leugnet, dass Trump einen faschistischen Putschversuch anzettelte, dann will sie damit vor allem verhindern, dass Arbeiter und Jugendliche in den USA politisch von den Demokraten und den Gewerkschaften brechen und eine unabhängige revolutionäre Partei aufbauen, die die Arbeiterklasse im Kampf gegen den Kapitalismus mobilisieren kann. Diesem Zweck dient ihre rituelle Revolutionsrhetorik, „eine unabhängige Partei der Arbeiterklasse aufzubauen“, während ihre Mitglieder bei den Democratic Socialists of America aktiv sind, d.h., bei einer Fraktion der Demokratischen Partei, die eine der beiden Parteien des US-Imperialismus ist.

Ein Artikel der IMT zur Amtseinführung Bidens zeigte ihre Doppelzüngigkeit ganz deutlich. Der Feststellung, „die Demokraten betreiben das Geschäft der Kapitalisten“, und „eine unabhängige Klassenpartei“ müsse aufgebaut werden, folgt schließlich der Appell an die DSA, diesen Kampf zu führen. „Sozialisten geht es nicht darum, das System zu stabilisieren, sondern seinen Sturz zu beschleunigen“, schreiben sie. „Wenn die DSA ihre Mitglieder und andere Bewerber auffordert, als Unabhängige statt als Demokraten zu kandidieren, wäre das ein wichtiger Schritt in Richtung einer unabhängigen Klassenpolitik.“

Vom Standpunkt der IMT widersprechen sich diese miteinander unvereinbaren Positionen nicht. Die IMT bildet die letzte Verteidigungslinie für die Demokraten, indem sie radikalisierte Arbeiter und Jugendliche zurückzerren in den Schoß der Partei der Wall Street, der Drohnenmorde und endloser Kriege. Dazu propagieren sie die absurde Behauptung, die DSA – eine loyale Fraktion der Demokraten, die Bidens Präsidentschaftskandidatur unterstützte –, könne dazu dienen, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu erreichen.

Nur durch einen schonungslosen politischen Kampf gegen pseudolinke Tendenzen wie die IMT kann die Arbeiterklasse der Gefahr von Faschismus und Rechtsextremismus wirkungsvoll begegnen und ihre eigenen unabhängigen politischen Interessen durchsetzen, gegen das unersättliche Verlangen der herrschenden Eliten, inmitten der Pandemie ihren Reichtum noch zu steigern.

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