Corona-Pandemie in Polen eskaliert

In Polen sind seit Anfang dieser Woche Schulen, Kitas, Einzelhandel, Theater, Friseure, Museen, Kinos und Baumärkte wieder geschlossen. Die rechtskonservative Regierung reagiert damit auf die von ihr selbst verschuldete Eskalation der Corona-Pandemie in den letzten Wochen.

Vorerst gelten diese Maßnahmen bis nach Ostern, also bis zum 9. April. Dabei ist bereits jetzt klar, dass diese Zeit nicht ausreichen wird, um die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Währenddessen soll die Wirtschaft vollumfänglich weiterlaufen.

Mit über 35.000 Neuinfektionen an einem Tag stellte Polen am letzten Wochenende einen neuen, traurigen Rekord auf. Bei rund 100.000 Tests pro Tag ergibt das eine positive Testquote von mehr als einem Drittel, was eine deutliche höhere Dunkelziffer befürchten lässt.

Während das Land mit 38 Millionen Einwohnern nach Frankreich die zweithöchste Infektionszahl in Europa aufweist, hat der Sieben-Tage-Inzidenzwert die 500er Marke überschritten. In der Hauptstadt Warschau liegt die Inzidenz bereits über 700. Damit wird die tödliche Welle vom November 2020 in den Schatten gestellt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Rund 400 Menschen sterben bereits jetzt jeden Tag an den Folgen einer Covid-19 Erkrankung.

Besonders deutlich wird die Verantwortung der Regierung, wenn man zurückblickt. Dank eines vergleichsweisen harten Lockdowns im Frühjahr 2020 wurde Polen lange Zeit kaum von der Corona Pandemie tangiert. Erst im Zuge der europaweiten Öffnungen am Ende des Sommers nahmen in Polen die Zahlen langsam zu und erreichten Anfang Oktober erstmals den Sieben-Tage-Inzidenzwert von 50 je 100.000 Einwohner.

Anfang November 2020 waren rund 5000 Menschen in Polen an der Pandemie gestorben. Seitdem, innerhalb von fünf Monaten, hat sich die Todeszahl verdreizehnfacht und liegt aktuell bei 52.400. In Deutschland haben sich in derselben Zeit die Todeszahlen verzehnfacht und in Tschechien verneunfacht.

Anfang Februar hat die polnische Regierung wie alle europäischen Regierungen umfangreiche Lockerungen beschlossen. Obwohl der landesweite Inzidenzwert nur knapp die 100 unterschritten hatte, öffnete man die Schulen für die erste bis dritte Klasse sowie Einkaufszentren, Museen, Kinos, Schwimmbäder und andere Einrichtungen. Die World Socialist Web Site warnte damals eindringlich: „Trotz der mörderischen Folgen ihrer Politik ist die polnische Bourgeoise wild entschlossen, den Lockdown zu beenden.“

Polnische Bergarbeiter in der Grube Wujek in Katowice (AP Photo / Czarek Sokolowski)

Neben der Woiwodschaft Mazowieckie (Masowien) mit der Hauptstadt Warschau ist erneut die deutlich enger besiedelte Industrie- und Bergbauregion Slaskie (Schlesien) ein Hotspot der Pandemie. In der ersten Hälfte des letzten Jahres waren zeitweise die Hälfte aller Corona-Infektionen aus der Bergbauregion gekommen.

Hauptgrund dafür ist, dass trotz der Lockdown-Maßnahmen die Produktion überall weiterlief. Die Kohlekumpel unter Tage sind dabei auf engem Raum einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Hinzu kommt aufgrund der langen Bergbautradition und wegen ungenügendem Schutz ein überproportionaler Anteil von chronischen Atemwegserkrankungen. Verbunden mit dem allgemein desaströsen Niveau des polnischen Gesundheitssystems ist das eine tödliche Kombination, die besonders die polnische Arbeiterklasse trifft.

Aus Częstochowa, der zweitgrößten Stadt der Region, berichtet der Leiter des Rettungsdienstes, Marian Nowak, dass auch Kinder immer häufiger von Corona Infektionen betroffen seien. Das jüngste infizierte Kind in der letzten Woche war laut einem Bericht in der Gazeta Wyborcza 17 Monate alt.

Auch müssen die Rettungsdienste immer größere Strecken zurücklegen, um für die Kranken freie Betten zu finden. Die Sendung „Faktach“ des Fernsehsender TVN berichtete von einem Rettungswagen, der mit einem Erkrankten an Bord 700 Kilometer weit fahren musste.

Marian Nowak erzählt, dass in einer Nacht fünf seiner Wagen ins 180 Kilometer entfernte Prudnik fuhren, weil es dort freie Bettkapazitäten gab. Nach der Ankunft müssen die Rettungswagen meist stundenlang warten, bis sie die Patienten übergeben können.

Das Fachkrankenhaus von Czestochowa, das vor einige Wochen noch Patienten aus anderen Regionen aufnahm, ist mittlerweile selbst überfüllt. Obwohl es nur über 123 Covid-Betten verfügt, hat es 132 Covid-19 Patienten untergebracht. Im städtischen Krankenhaus teilen sich 124 Patienten die offiziell 118 Betten. Deswegen wird demnächst die Unfallchirurgie mit ihren 20 Betten in eine Covid-Station umgewandelt.

Die Schaffung weiterer Kapazitäten scheitert jedoch am Mangel von Ärzten, wie Michał Dworczyk, Leiter des Büros des Premierministers, auf einer Pressekonferenz am Dienstag einräumte. Polens Abdeckung mit Ärzten je 1000 Einwohner ist die fünftschlechteste aller OECD-Staaten.

Auf der gemeinsamen Pressekonferenz bemühten sich Regierungssprecher Dworczyk, Regierungschef Morawieckiund Gesundheitsminister Niedzielski um Durchhalteparolen und streuten der Bevölkerung Sand in die Augen. Sie erklärten das Impfprogramm zum alles entscheidenden, letzten Kraftakt, zum „Licht der Hoffnung“. Sie kündigten an, bis Juni seien 20 Millionen Menschen geimpft und bis Ende August die gesamte Bevölkerung.

Mit rund 5 Millionen Erstimpfungen und 2 Millionen Zweitimpfungen hat Polen bisher nur 5,1 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Es liegt damit zwar leicht über dem katastrophalen europaweiten Durchschnitt, ist aber noch weit davon entfernt, die gesamte Bevölkerung geimpft zu haben.

Das von der Regierung großspurig angekündigte Ziel von 10 Millionen Impfungen pro Monat würde mehr als eine Verdopplung der aktuellen Impfkapazitäten erfordern. Eine derartige Steigerung zu erwarten, während das Gesundheitssystem aufgrund der Folgen der Pandemie kollabiert und Impfnationalismus auch den letzten EU-Gipfel dominierte, ist schlicht absurd.

Wo die Prioritäten der Impfkampagne liegen, wurde erst jüngst wieder deutlich. So sendete Polen 7000 Impfstoffdosen aus seinem Bestand ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel, um das dortige Militärpersonal vorzeitig zu impfen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg bedankte sich dafür bei Polen und schwieg zu der Frage ob dies moralisch vertretbar sei, wenn in Polen Risikogruppen auf den Impfstoff warten. Polen nimmt bei den Nato-Aufmarschplänen gegen Russland eine zentrale Stellung ein.

Bereits in der Vergangenheit gelangten auch immer wieder Fälle von polnischen Politikern und Promis an die Öffentlichkeit, die sich mittels illegal abgezweigter Impfdosen vorzeitig impfen ließen. Zugleich begann letzte Woche die Impfung der Beamten des Innenministeriums. Polizisten, Grenzschutz und Zoll- und Steuerfahnder wurden bereits zu Tausenden geimpft, während die Registrierung von Menschen mit dem Geburtsjahr 1962 erst am 12. April beginnt.

Es ist nicht überraschend, dass der Regierung der Schutz der Staatsgewalt wichtiger ist, als der Schutz älterer Bürger. Die polnische Polizei ist zunehmend diskreditiert, nur noch ein Drittel der Bevölkerung hat Vertrauen in sie. Auch die anhaltenden Proteste gegen das Abtreibungsgesetz stießen immer wieder auf brutale Polizeigenwalt. Besonders berüchtigt ist der Einsatz der Anti-Terroreinheit BOA, die im November in Zivil mit Teleskopstöcken auf Demonstranten einprügelte.

Dem stehen Szenen gegenüber, wie sie sich am Samstag an der Universitätsklinik in Wroclaw (Breslau) abspielten, wo hunderte Menschen in das Impfzentrum stürmten, um eine der täglichen 500 Dosen zu erhalten.

Eine hektische Impfkampagne inmitten einer grassierenden Pandemie birgt zudem eine weitere Gefahr. Wie Experten warnen, könnte das Wechselspiel zwischen einer hohen Zahl aktiver Infektionen und langen Verzögerungen zwischen der Erst- und der Zweitimpfung zu Mutationen führen, gegen die die Impfstoffe ihre Wirksamkeit verlieren.

Laut Expertenschätzungen werden bis Juli weitere 25.000 Menschen sterben, schreibt der Spiegel. Eine sehr konservative Schätzung. Bei durchschnittlich 400 Toten am Tag würden in drei Monaten fast 40.000 Menschen sterben. Prof. Andrzej Horban, Chef-Epidemologe der Regierung, schätzte im Gespräch mit TVN24, das der Höhepunkt der derzeitigen Welle bei „knapp über 40.000“ Neuinfektionen pro Tag erreicht sei. Es ist unklar, was ihn zu dieser Annahme bewegt, tatsächlich ist eine Beruhigung der Lage wegen den viel zu spät getroffenen Maßnahmen noch nicht in Sicht.

Prof. Horban ist jedoch schon mehrfach durch verharmlosende Äußerungen aufgefallen und hat sich offen zu einer Durchseuchungspolitik bekannt. „Ein wenig schützen, ein wenig infizieren“, fasste er seine Strategie zusammen. So hatte er noch Mitte Februar weitere Schulöffnungen in Aussicht gestellt, wenn man „regionale Differenzierungen“ berücksichtige. Dies obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon von einem Anteil der britischen Virusmutation von 10 Prozent ausging. Inzwischen liegt der Anteil dieser Mutation bei rund 80 Prozent.

Horban leugnet auch die erwiesenen Spätfolgen von Covid-19-Erkrankungen und spottet über die Vorstellung, dass es so etwas gäbe. Zugleich relativiert er die Verantwortung der Regierung für das Ausmaß der Welle, indem er die Pandemie als Sturm beschreibt, wie er manchmal aus heiterem Himmel hereinbreche.

Tatsächlich sind die Regierung und ihre Berater voll verantwortlich für das jetzige Massensterben. Selbst ohne Mutation war die Explosion der Neuninfektionen als Folge ihrer Lockerungen unvermeidlich. Statt die Pandemie konsequent im Ansatz einzudämmen, haben sie auf die Kapazitäten des Gesundheitssystem verwiesen. Die mit großem Medienaufwand eröffneten Notfallkrankenhäuser, wie das im Warschauer Nationalstadion, täuschen wie Potemkinsche Dörfer über die Realität des maroden, polnischen Gesundheitssystems hinweg, dessen Hauptproblem der gravierende Mangel von Ärzten und Pflegepersonal ist.

Die Situation in Polen wirft auch ein Schlaglicht auf den Bankrott der Europäischen Union, die organisch unfähig ist, koordinierte und vernünftige Maßnahmen in ganz Europa zu ergreifen. Beispielhaft zeigt sich das auch an der deutsch-polnischen Grenze, die rund 70.000 Menschen täglich aus beruflichen Gründen überqueren.

Vor einer Woche erklärte Deutschland Polen zum Hochrisikogebiet und führte Hals über Kopf Grenzkontrollen mit verbindlicher Testpflicht ein. So bildeten sich stundenlange Warteschlangen. Obendrein gibt es noch nicht einmal in Deutschland einheitliche Regelungen. Während Brandenburg und Sachsen zwei Mal wöchentlich einen Test fordern, gilt in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern eine 48-Stunden-Frist.

Die jetzt in Polen beschlossenen Maßnahmen kommen viel zu spät und sind ungenügend. Wie in allen Ländern beschränkt sich die Regierung bewusst auf Maßnahmen, die die Profite der Wirtschaft nicht gefährden. Darin sind sich Regierung und Opposition einig.

Rechtsextreme Kräfte aus dem Umfeld der Partei Konfederacja haben Proteste gegen die halbgaren Lockdown-Maßnahmen der Regierung organisiert. Zu den bekanntesten Organisatoren gehören die von Sebastian Pitoń geführte Bewegung „Góralskie Veto“ (Veto des Bergvolks) in den polnischen Karpaten und „OtwieraMY“ (Wir machen auf), die von Sławomir Mentzen, dem Präsidenten des polnischen Wirtschaftskongresses (Kongres Polskiego Biznesu), unterstützt wird.

Wie auch in anderen Ländern nutzen diese rechten Kräfte die wirtschaftlichen Probleme von Selbstständigen und Kleinstunternehmen, etwa aus der Gastro- und Tourismusbranche, die aufgrund mangelhafter staatlicher Hilfen mitunter nach über einem Jahr Pandemie mittellos und ohne eigenes Einkommen dastehen, für ihre Anti-Lockdown-Kampagnen.

Doch auch breite Teile der Arbeiterklasse sind mit akuter Armut konfrontiert. Die Zahl der Arbeitslosen wächst, die Rate ist auf 6,5 Prozent gestiegen. Eltern die ihre Kinder zuhause betreuen müssen, erhalten 80 Prozent ihres Lohns. Angesichts chronischer Niedriglöhne reicht dies für viele nicht, um ihre Rechnungen zu bezahlen.

Während die Arbeiterklasse und Teile des Kleinbürgertums ins Elend stürzen, hat die Regierung milliardenschwere Hilfsprogramme für die Banken und Konzerne beschlossen. Der Leitzins wurde vor einem Jahr von 1,5 auf 0,1 Prozent gesenkt.

Über die mörderische Pandemiepolitik, die die Verteidigung der Profite an erste Stelle stellt, sind sich Regierung und Opposition absolut einig. Borys Budka, Chef der Bürgerplattform (PO), der größten Oppositionspartei, kritisiert die Regierung unentwegt von rechts. Auch für ihn stehen die Interessen der Wirtschaft vor der Gesundheit und dem Leben der Bevölkerung.

„Es sind klare Kriterien für das Funktionieren aller Wirtschaftszweige auf der Grundlage von Covid-Standards erforderlich,“ erklärte er Ende Februar bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit regionalen Unternehmern in Olsztyn. „Stattdessen hat die Regierung über ein Jahr damit verbracht, einzelne Branchen ohne Logik ständig zu schließen und zu öffnen.“

Auch in einem ausführlichen Interview im Magazyn Wyborczej geht Budka ausführlich auf sein Programm im Interesse der Wirtschaft ein.

Kritik an den Lockerungsmaßnahmen sucht man bei der Opposition vergeblich. Das gilt auch für die neue Bewegung „Polska 2050“ um Szymon Hołownia, die Wirtschaftsliberalismus mit Klimapolitik und einer Orientierung auf die Europäische Union verbindet. Sie hat in jüngsten Umfragen 18 Prozent erreicht, mehr als die PO mit 12 Prozent.

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