Berliner Grundschullehrerin zum Tarifabschluss: „Einfach lächerlich!“

Der neue Tarifvertrag der Länder (TV-L) ist ein Schlag ins Gesicht von Pflegern, Lehrern und anderen öffentlich Beschäftigten. Er macht klar, was Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre von ihnen halten: Inmitten der Pandemie müssen sie nicht nur Gesundheit und Leben riskieren, sondern auch mit ihrem Lohn und Gehalt für die „Profite-vor-Leben-Politik“ bezahlen.

Demonstration am 6. November 2021 für bessere Schulen in Berlin (Bild schulemussanders)

„Die Schulen sind zu Verwahranstalten verkommen,“ sagt Lara*, eine Berliner Grundschullehrerin, die nicht in der Gewerkschaft, sondern im Netzwerk der Aktionskomitees für sichere Bildung mitarbeitet. Wir sprachen mit ihr über den jüngsten Tarifabschluss, dem GEW und Verdi am 29. November zugestimmt haben.

Lara unterrichtet in Berlin-Neukölln, und sie spricht sehr vielen Kollegen aus dem Herzen, wenn sie den jüngsten Tarifabschluss als „einfach lächerlich“ bezeichnet. „Darum bin ich nicht Mitglied der GEW,“ sagt sie. „Die GEW hat sich bisher noch in keiner Weise für Maßnahmen wie Schulschließungen, Wechselunterricht oder irgendetwas engagiert, was das Infektionsgeschehen hätte vermindern können. Fürsorgepflicht, Bildungsauftrag oder gesundheitliche Vorsorge – das interessiert sie alles nicht.“

Sie fährt fort: „Bei den Tarifrunden spricht die Gewerkschaft nur über ‚bessere Bezahlung‘ – die sich dann als läppische 2,8 Prozent für zwei Jahre herausstellt. Das sind also pro Jahr 1,4 Prozent mehr Lohn, bei einer Inflation, die jetzt schon 5 Prozent übersteigt! Und die Lohnerhöhung kommt auch erst in einem Jahr.“

Auch der Corona-Bonus, den die GEW so herausstreicht, sei eine Enttäuschung. „Für Quereinsteiger wie mich und für die Auszubildenden – also in Berlin für 40 Prozent aller Lehrer – gibt es als Bonus nicht 1300, sondern nur 650 Euro. Dabei leisten wir ebenso viel und arbeiten unter genau derselben Gefahr. Wir werden unter Corona-Bedingungen seit Anfang 2020 skrupellos verheizt – und dann so ein Abschluss!“

Lara arbeitet als Quereinsteigerin an einer Brennpunkt-Schule in Berlin-Neukölln. Sie berichtet über den sorgenlosen Umgang mit der Gefahr, der Quereinsteiger wie sie täglich ausgesetzt sind: „Wir sind ja keine typischen Studierenden, wir sind alle zugleich Lehrkräfte, die Unterricht an verschiedenen Schulen praktizieren, mehrere davon in richtigen Hotspots. Das heißt, die Durchmischung der Kohorten ist extrem. Als Fachlehrer ist man in verschiedenen Klassen unterwegs, und jede Klasse hat über zwanzig Kinder. Bei vier Klassen pro Woche sind das 80 bis 100 Kinder, mit denen man in Kontakt steht. Und dann geht man mindestens einmal die Woche in den Studienbetrieb, wo man auf dreißig Kollegen aus anderen Schulen trifft. Eine größere Ansammlung von Ansteckungsmöglichkeiten kann ich mir gar nicht vorstellen.“

Auch in den Klassenzimmern lauert täglich die Pandemie-Gefahr. An der Schule werde zwar drei Mal die Woche getestet, das sei aber völlig unsicher. Sie erklärt: „In einer Klasse sitzen mehr als 20 Schüler. Bei derart großen Klassen ist es einfach schwierig, jedes Kind im Auge zu behalten, und es ist nicht sehr angenehm, das Stäbchen tief in die Nase zu stecken. Manche tun nur so, und es gibt keine Garantie, dass alle den Test sachgerecht machen.“ Im Grunde genommen müsste das ganz anders laufen, fährt sie fort. „Die Kinder müssten sich vor dem Hereinkommen testen. Viele kommen sogar ohne Masken rein, denn oft fehlt die Kontrolle am Eingang aufgrund von Personalmangel.“

In Berlin hatte SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres, die auch Verdi-Mitglied ist, die Maskenpflicht eine Woche vor den Herbstferien wieder aufgehoben. Seither steigen die Infektionen an den Schulen dramatisch. Zum Zeitpunkt des Gesprächs waren über 4500 Schüler infiziert. Seit Beginn der Pandemie haben sich außerdem schon 470 Lehrkräfte angesteckt.

Lara schildert, wie der volle Präsenzunterricht jetzt aussieht: „Maskenpflicht herrscht lediglich noch im Schulgebäude: Nicht mehr in den Klassenzimmern, und auch nicht auf dem Hof, wo sich die Kohorten so richtig durchmischen. Natürlich haben die Kinder auch in der Mensa, wo sie essen, keine Maske auf. Der Unterricht ist der absolute Wahnsinn. Du sitzt da mit über 20 Kindern, die immer wieder an dein Pult kommen, oder du gehst zu ihnen hin und erklärst ihnen was. Die Lehrkräfte können sich gerade in einer Grundschule nicht schützen. Da ist die Interaktion viel enger als an einer Oberschule. Die Kinder brauchen viel Zuneigung, und man kann unmöglich Abstand wahren.“

An ihrer Schule gab es sehr bald mehrere erkrankte Kollegen und positiv getestete Kinder. Schließlich steckte sich auch Lara selbst mit Covid-19 an. Sie berichtet:

„Als das zweite Kind in meiner Klasse positiv auf Corona getestet wurde, plädierte ich für Klassenquarantäne oder zumindest die Wiedereinführung der Maskenpflicht auch im Klassenzimmer – das wurde abgelehnt. Von der Schulleitung her wurde nichts unternommen. Bis ich dann den dritten und den vierten Fall hatte, und immer mehr Kinder erkrankten. Selbst als ich versuchte, die Maskenpflicht und Klassenquarantäne auf die Tagesordnung einer Konferenz zu setzen, wurde dies einfach nicht beachtet.

Kurz danach tauchten in jeder einzelnen Klasse drei bis vier Fälle auf; es wurden immer mehr. Ich zähle bisher in diesem Schuljahr schon 9 Fälle insgesamt in meiner Klasse, und ein Kollege lag wochenlang mit einem Impfdurchbruch im Krankenhaus.

Erst als es zu spät war und zahlreiche Kolleginnen und Schulhelfer schon erkrankt waren, führte Frau Scheeres, die Senatorin, die Maskenpflicht wieder ein.

Ich selbst fühlte mich nach einem Schulausflug sehr schlecht und testete mich noch auf dem Nachhauseweg, voller Angst, ich könnte meine Familie einschließlich der Großeltern anstecken. Tatsächlich war ich positiv! Sofort trennte ich mich von der Familie, isolierte mich völlig in einem Zimmer für mich, und zum Glück steckte ich auch niemanden weiter von meiner Familie an. Das war haarscharf, und für eine Familie ist das auch echt hart.“

Sie hatte auch die Erfahrung gemacht, dass die Schnelltests nicht zuverlässig sind. Obwohl Lara bereits typische Symptome an sich feststellte, ergaben ihre Tests zunächst mehrmals negative Ergebnisse.

Später, als sie wieder arbeiten konnte, kamen Kollegen zu ihr und entschuldigten sich, weil sie ihre Warnungen nicht ernst genommen hatten. Lara sagte ihnen: „Ihr seid auch nur Opfer der gesamten Verharmlosung und Fehlinformation geworden.“ Tatsächlich haben Regierung und Medien die wissenschaftlichen Erkenntnisse systematisch unterdrückt und verbreiten bis heute Lügen und Fehlinformationen.

Man habe die Lehrkräfte in ein großes Risiko versetzt, findet Lara, besonders wenn sie selbst Familien und eigene Kinder haben. „Das ist keine Naturkatastrophe, sondern ein politisch gemachtes Desaster, was weltweit Millionen Menschen das Leben kostet und vielen weiteren Millionen das Leben beschneidet. Warum hat die Politik nicht weltweit gemeinsam reagiert und ein paar Wochen lang alles zu gemacht?“

Derzeit wird überall die Impfpflicht gefordert, aber auch das greife zu kurz, findet Lara. Man dürfe den Ungeimpften nicht die ganze Schuld zuschieben. „Bei uns an der Schule sind viele arabisch- oder türkischstämmige Familien einfach schlecht informiert. Viele wissen nicht, was los ist, haben einen schlechten Zugang zu stichhaltigen Informationen oder sind durch Fake-News verwirrt.“

Die Corona-Pandemie hat auch an den Schulen die Missstände aufs Äußerste zugespitzt, die schon vorher bestanden. Lara, die als Quereinsteigerin bezahlt wird, unterrichtet ganz normal in der Klassenleitung. Die Verzweiflung über den vorherrschenden Personalmangel ist so hoch, dass auch Berufsanfänger leitende Aufgaben übernehmen müssen. Es fehlt an voll ausgebildeten Pädagogen, und in ganz Berlin brechen gerade die Schulleiter weg. Die Schulen müssten zwei Schulleiter haben, aber sehr viele haben nur einen. „Bei uns fehlte ein halbes Jahr lang die Schulleitung, und auch das Sekretariat war eine Zeitlang nicht besetzt“, berichtet Lara.

Ein Lehrer hat normalerweise 28 Unterrichtsstunden wöchentlich, hinzu kommen die Vor- und Nachbereitung, die Elterngespräche und Konferenzen etc. – ein wahrer Allroundjob, der auch mit 40 Wochenstunden nicht zu bewältigen ist. Für die Quereinsteiger ist die Arbeitslast nicht weniger: Ihnen werden zwar 11 der 28 Stunden für die Teilnahme am Studium gutgeschrieben, womit 17 reale Unterrichtsstunden bleiben, aber das ist nicht alles. Die gesamten Verwaltungsaufgaben kommen auch für die Quereinsteiger neben dem Studium hinzu.

Auch Lara, die zwar in Teilzeit mit „nur“ 13 statt 17 Stunden arbeitet, weil sie Familie mit eigenen schulpflichtigen Kindern hat, arbeitet dennoch, wie sie sagt, „täglich acht Stunden durch, daneben oft nachts und am Wochenende. Als Klassenleitung kannst du gar nicht abschalten.“

Allein die Vorbereitung des Unterrichts und Herstellung der Schulmaterialien erfordert enorm viel Zeit. In den Grundschulklassen muss die Vorbereitung differenziert geleistet werden. Sie erklärt: „Es gibt in den Klassen zahlreiche Fremdsprachler, die in den Heimatländern kaum eine Schule besucht haben, es gibt auch Analphabeten, daneben lernbehinderte und körperbehinderte Kinder. Für jede Stunde musst du drei verschiedene Unterrichtsstunden mit drei Materialsets vorbereiten: für die Lernstarken, die Lernschwachen und die Sprachlerner.“

Hinzu kommt die Elternarbeit, die gerade in sozial schwachen Stadtteilen sehr viele Konflikte mit sich bringt. „Manche Eltern reagieren selbst emotional. An den Schulen gibt es zwar sozialpädagogische Stellen, doch an unserer Schule ist sie nur mit einer Person besetzt, und diese eine Person ist oft nicht da. Wenn es zu Konflikten kommt, muss alles protokolliert, abgeheftet und weiterverfolgt werden.“ Man sei mit jedem einzelnen Kind beschäftigt: „Jedes ist dein persönlicher Klient, von dem du alle Stärken und Schwächen herausfinden und kennen und dementsprechend handeln musst.“

Das Privatleben bleibe komplett auf der Strecke. Lara hat selbst schon erfahren, wie schnell es zum Burnout kommen kann: „Ich war nahe der Depression, saß oft apathisch da und war zu nichts mehr in der Lage.“

Von der World Socialist Web Site und mehreren Webinars, die diese mit internationalen Wissenschaftlern durchführte, weiß Lara, dass durchaus die Möglichkeit besteht, aus der Pandemie herauszukommen. „Die WSWS hat wissenschaftliche Modelle bekannt gemacht, die den zukünftigen Verlauf korrekt voraussagten und früh nachgewiesen haben, dass sich unter den jetzigen Bedingungen neue Mutanten [wie Omikron] herausbilden würden.“

Auf die Frage, wie sie sich eine Lösung für die Schulen vorstellen würde, antwortet Lara: „Ich wünsche mir, dass es eine weltweite große Informationskampagne in allen Sprachen gibt! Für die Schulen wünsche ich mir einen Lockdown über Weihnachten bis mindestens Neujahr, bis die Pandemie gestoppt ist!

Dann ist es vielleicht wieder möglich, dass die Familien zusammenkommen. Wenn die Schulen wieder losgehen, könnten sie ganz anders organisiert werden: Wir brauchen doppelt so viele Lehrkräfte und Räumlichkeiten, kleinere Klassen und einen starken Ausbau des digitalen Unterrichts. Damit haben wir ja mittlerweile Übung, und es würde jetzt viel besser funktionieren.

Die Schulklassen müssen mindestens halbiert werden, so wie das bei den geteilten Klassen war. Es war eine ausgezeichnete Erfahrung, alle fanden das gut. Auch den Schülern hat es gefallen, und sie haben viel motivierter gelernt. In den Kleingruppen war auch das Konfliktpotential geringer, die Eltern wurden entlastet, und das Infektionsrisiko war kontrollierbar. – Allerdings sieht die Realität völlig anders aus.“

Deshalb sei auch der jüngste Tarifabschluss ein derartiger Schlag ins Gesicht aller Lehrer. In Laras Augen ging es den Gewerkschaften nur um Schattenkämpfe, „nicht um die Kämpfe, die das Personal jeden Tag führen muss. Dafür stehen sie nicht ein. Das ist eine Kaste, die für sich selbst sorgt. Die Gewerkschaftsfunktionäre stehen nicht auf der Seite der Lehrer, der Kinder und der Eltern. Sie stehen auf der Seite der Politiker.

Diese haben all die Jahre derart viele Positionen eingespart, und sie haben alles auf die Lehrer abgewälzt. An guten Unterricht ist überhaupt nicht zu denken, ganz zu schweigen von einer Work-Life-Balance für die Lehrer.“

Wenn man schon von Geld sprechen wolle, dann könnte man sehr viel mehr machen: „Die Politiker sollen jeder Schule einfach mal fünf Millionen geben: Wir brauchen richtige Toiletten! Die hygienischen Zustände sind katastrophal: kaputte Türen, kaputte Stühle, beschmierte Tische und Wände… Die Lernatmosphäre ist grauenhaft. Wir haben genau einen Kopierer für die ganze Schule! Die Haushaltsmittel reichen nicht für Kopierpapier, und das Geld dafür musst du dir aus deinem eigenen Fundus zusammenkratzen.“

Lara weist darauf hin, was das alles für die Kinder bedeutet: „Die Schüler gehen mit Ängsten in die Schule, nicht nur um ihr eigenes Leben. Die Schule bietet ihnen auch jenseits von Corona keinen Schutz. Es ist einfach nur noch eine Verwahranstalt, um die Eltern in die Arbeit zu drängen. Es geht nicht mehr um Bildung, Erziehung oder Versorgung, sondern das Ganze ist nur noch eine riesengroße Verwahranstalt.“

*) Name von der Redaktion geändert

Loading