Biden warnt in Rede an die Nation vor einer drohenden Diktatur

US-Präsident Joe Biden hielt am Donnerstagabend vor der Independence Hall in Philadelphia eine Rede an die Nation. Außergewöhnlich an dieser Rede war nicht nur, was er sagte, sondern auch, was er nicht sagte.

In der ersten Hälfte seiner 24-minütigen Rede beschrieb Biden eine Nation, die unmittelbar von der Gefahr der Diktatur bedroht ist: „Gleichheit und Demokratie werden angegriffen, und wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir das Gegenteil behaupten.“ Donald Trump und seine Unterstützer bezeichnete er als „klare und akute Gefahr, die unserer Demokratie [am 6. Januar 2021] einen Dolch an die Kehle gehalten haben.“

Präsident Joe Biden und First Lady Jill Biden treffen am 1. September 2022 vor der Independence Hall in Philadelphia ein, vor der Biden seine Rede hielt. (AP Photo/Evan Vucci)

Biden erklärte, die Gefahr sei real. Trump und sein Netzwerk von rechtsextremen Hintermännern im Staat bereiteten sich darauf vor, in den Wahlen 2022 und 2024 die Stimmen von Dutzenden Millionen Amerikanern ungültig zu machen.

Er stellte zwar fest, nicht jeder Republikaner sei ein Trump-Anhänger und „MAGA-Republikaner“, allerdings erklärte er zum ersten Mal: „Es steht außer Frage, dass die Republikanische Partei heute von den MAGA-Republikanern dominiert und eingeschüchtert wird, und das ist eine Gefahr für dieses Land.“

Er fuhr fort: „MAGA-Republikaner respektieren die Verfassung nicht; sie erkennen den Willen des Volkes nicht an; sie weigern sich, das Ergebnis einer freien Wahl zu akzeptieren. Jetzt in diesem Moment sind sie in einem Bundesstaat nach dem anderen damit beschäftigt, Parteigänger, Kumpanen und Wahlleugner an die Macht zu bringen, um die Wahlen zu untergraben. Sie sind entschlossen, die Uhren in diesem Land zurückzudrehen in eine Zeit, in der es kein Recht auf Wahlfreiheit, auf Privatsphäre, auf Verhütung oder darauf gibt, den zu heiraten, den man liebt.“

Biden erklärte, Trump und die „MAGA-Republikaner“ würden „immer öfter über Gewalt als akzeptables Mittel in diesem Land“ reden. Zu den Äußerungen von Trump und Lindsey Graham, die im Falle einer Anklage Trumps mit „Unruhen“ drohten, erklärte er: „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens prophezeien und rufen geradezu zu Massengewalt und Aufruhr in den Straßen auf. Das ist aufwieglerisch, es ist gefährlich, es ist gegen die Rechtsstaatlichkeit, und wir, das Volk, müssen sagen, dass wir so nicht sind.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt, an einem dieser Momente, die alles bestimmen, was danach kommt. ... Wir sind im Kern noch immer eine Demokratie... [Doch] die amerikanische Demokratie ist nicht garantiert, wir müssen sie verteidigen.“

Diese Äußerungen sind eine erschütternde Selbstanklage der Biden-Regierung und der Rolle der Demokratischen Partei, die das Komplott vom 6. Januar seit 19 Monaten vertuscht haben.

Wenn Trump eine „klare und akute Gefahr“ für die Demokratie ist, warum hat Biden dann zugelassen, dass er frei bleibt? Wenn „wir uns keinen Gefallen damit tun“, die Gefahr zu leugnen, warum hat Biden dann im März 2022 in seiner Rede zur Lage der Nation erklärt, „das Land ist stark, wir sind heute stärker, als wir es vor einem Jahr waren [und] in einem Jahr werden wir noch stärker sein als heute“?

Und wenn die Republikaner darüber hinaus eine „Bedrohung für das Land“ sind, warum haben Biden und alle anderen demokratischen Politiker sie während der letzten eineinhalb Jahre als „Freunde“ und „Kollegen“ bezeichnet und Biden sich um parteiübergreifende Einheit bemüht, um Krieg im Ausland zu führen und die Arbeiterklasse zu Hause anzugreifen?

Sollen die Amerikaner Biden glauben, dass er „nicht untätig zusehen wird, wie die Wahlen gestohlen werden“, wenn er und die Demokraten genau das während der Ereignisse am 6. Januar getan haben? Biden hat nicht nur untätig zugesehen, sondern Trump sogar aufgefordert, sich inmitten seines Putsches mit einer Fernsehansprache an die Nation zu wenden!

Während Biden in der ersten Hälfte seiner Rede in der bisher nachdrücklichsten Weise die Gefahr einer Diktatur schilderte (bezeichnenderweise benutzte er in dieser Rede, im Gegensatz zu einer früheren Rede letzte Woche, das Wort „faschistisch“ nicht), zeigte die zweite Hälfte, warum die Demokraten nicht in der Lage sind, diese Gefahr aufzuhalten.

Biden und die Demokraten sind organisch unfähig, die wahre Quelle der Gefahr zu benennen. Die herrschende Klasse hat so große Angst davor, der amerikanischen Bevölkerung die Wahrheit über die Degeneration des amerikanischen Kapitalismus zu sagen, dass sie mit ihr nur wie mit Kindern reden kann. Wie ein katholischer Priester behauptete Biden, Trump sei wie der Teufel aus der Hölle aufgefahren. Trumps Aufstieg sei das Ergebnis von „Hass, Chaos, Dunkelheit und Bösem“ gewesen.

Er ging nicht auf die immense soziale Ungleichheit ein, die das gesellschaftliche Leben in den USA dominiert, ebenso wenig auf die Kriege im Ausland, die verheerende Folgen für so viele Städte hatten, in denen sich Trump in den Wahlen durchsetzen konnte, auf die jahrzehntelange Deindustrialisierung, auf die wachsende Zahl von Drogentoten, auf den korrumpierenden Einfluss der rechten Medien, oder auf das Klima von extremem Nationalismus und hysterischer Hetze gegen Immigranten, die während des Kriegs gegen den Terror vorherrschten. Er versuchte nicht zu erklären, wie Trump in der Wahl 2020 70 Millionen Stimmen holen konnte – viele davon in Gebieten, in denen die Demokraten früher mit überwältigender Mehrheit gewählt wurden, als die Partei noch mit Sozialreformen in Verbindung gebracht wurde. Das konnte er nicht, weil er und seine Partei genau die soziale Krise geschaffen haben, aus der Trump seine Kraft schöpft.

Bidens Darstellung der gegenwärtigen sozialen Bedingungen und der Reaktion seiner Regierung auf die Pandemie steht in krassem Widerspruch zu den alltäglichen Erfahrungen von Dutzenden Millionen Menschen. Er stellte Amerika als das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ dar und behauptete, unter seiner Regierung seien „Millionen von Amerikanern aus der Armut geholt worden“, obwohl Millionen aufgrund der steigenden Inflation in Armut gestürzt werden.

Obwohl die Pandemie in den USA und der Welt weiterhin wütet, erklärte Biden, seine Regierung habe „Amerika aus den Tiefen von Covid-19 gerettet, und heute ist Amerikas Wirtschaft stärker als die jeder anderen Industrienation der Welt.“ Er erkannte nicht einmal den außergewöhnlichen Tribut an, den die Pandemie von der Bevölkerung gefordert hat – und weiterhin fordert, u.a. in Form eines beispiellosen Rückgangs der Lebenserwartung um drei Jahre. Nachdem er die diversen wirtschaftsfreundlichen Wohltaten seiner Regierung und des demokratischen Kongresses seit seiner Amtsübernahme aufgezählt hatte, erklärte er: „Zyniker und Kritiker sagen uns, es könne nichts getan werden, aber da liegen sie falsch.“

Solche Äußerungen und die wirtschaftsfreundliche Politik, deren Fortsetzung er versprach, werden die rechtsextreme Bedrohung nur noch weiter verschärfen. Voraussichtlich wird die US-Notenbank weitere Zinserhöhungen ankündigen, die darauf abzielen, die Löhne zu senken und Millionen in Arbeitslosigkeit und Armut zu stürzen. Was werden die Menschen, die bald arbeitslos sein werden, von Bidens Behauptung halten, dass seine Regierung „Türen öffnet“, „Möglichkeiten schafft“ und „sich auf die Zukunft konzentriert“? Biden hat Trump vorgeworfen, er habe auf „Lügen gesetzt, um Profit und Macht zu erlangen“, aber er macht genau dasselbe.

Seine Rede enthielt noch einige weitere bemerkenswerte Elemente.

Während der gesamten Rede waren im Hintergrund die ganze Zeit Zwischenrufe wie „Fuck Joe Biden“ zu hören, was den Präsidenten so stark ablenkte, dass er zweimal ihre Anwesenheit anerkennen musste.

Der Krieg gegen Russland blieb bemerkenswerterweise unerwähnt, und Biden versuchte nicht, den Kampf gegen Trump mit dem Krieg im Ausland in Verbindung zu bringen. Offenbar war die Regierung der Ansicht, dass jeder Versuch in diese Richtung den begrenzten Rückhalt in der Bevölkerung gefährden würde, den sie im Vorfeld der Zwischenwahlen zu gewinnen hoffen, in denen Trumps Republikaner die Kontrolle über das Repräsentantenhaus oder den Senat zurückgewinnen könnten. Das kommt einem Eingeständnis gleich, dass der Krieg außerhalb des wohlhabenden Kleinbürgertums, das die Basis der Demokraten bildet, fast keinerlei Rückhalt genießt.

Zuletzt ist zu erwähnen, dass vor Beginn der Rede zwei US-Marines in blauen Uniformen aus der Independence Hall kamen, vor den Kameras salutierten und auf beiden Seiten des Eingangs Aufstellung nahmen. Während Bidens Rede blieben sie dort stehen, angestrahlt von bedrohlichem rotem Licht, ihre weißen Handschuhe von Bodenscheinwerfern beleuchtet. Die Botschaft war klar: Biden ist der Repräsentant von Recht und Ordnung, er verfügt über die repressive Macht des Militär- und Geheimdienstapparats.

Er beendete seine Rede mit dem üblichen müden Appell, bei den Zwischenwahlen die Demokraten zu wählen. Doch der Wahlausgang wird keine Auswirkungen auf die langfristige Gefahr einer faschistischen Diktatur haben, die ihre Stärke nicht aus der Person Trump bezieht, sondern aus der Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Fäulnis ihres oligarchischen politischen Systems.

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