Ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof zu Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt

Am 20. Dezember 2022 hat das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein die 97-jährige Irmgard Furchner, ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig, wegen der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Furchner hatte in dem Konzentrationslager im von Nazideutschland besetzten Polen in der Zeit zwischen Juni 1943 und April 1945 als Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe gearbeitet. Dort hatte sie, wie es in der Anklageschrift heißt, „den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet“. Es war der erste Prozess, bei dem eine Zivilangestellte eines Konzentrationslagers vor Gericht stand.

Da Furchner zur Tatzeit zwischen 18 und 19 Jahre alt war, wurde der Prozess gegen sie vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe verhandelt. Der Prozess fand wegen des großen Medieninteresses, zahlreicher Nebenkläger und ihrer Anwälte sowie der Abstandsregeln aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen in einer Lagerhalle im Industriegebiet von Itzehoe statt, die zum improvisierten Gerichtssaal umgebaut worden war. Er begann am 19. Oktober 2021 mit über zweiwöchiger Verspätung, da die Angeklagte zunächst versucht hatte, sich am 30. September 2021 durch Flucht von ihrer Seniorenresidenz in Quickborn mit einem Taxi dem Prozessbeginn zu entziehen.

Während des Prozesses gegen Furchner hörte das Gericht an 40 Verhandlungstagen acht der Nebenkläger als Zeugen. Diese Überlebenden des Konzentrationslagers berichteten vom Leiden und massenhaften Sterben in Stutthof. Wie auch schon in früheren Prozessen, ging es ihnen darum, die ungeheuren Verbrechen des Naziregimes, die sie am eignen Leib erfahren hatten, vor einem deutschen Gericht darzulegen. Auch sollte, was ihnen und ihren Angehörigen angetan worden war, über die internationalen Medien einem größeren Publikum bekannt gemacht werden.

Allen Beteiligten war wohl bewusst, dass das Strafmaß nach so langer Zeit nur symbolischen Charakter haben konnte. Doch war ihnen wichtig, dass diese Taten und auch diejenigen, die daran mitgewirkt und sie möglich gemacht hatten, verurteilt würden. Was damals passiert war, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Damit haben die Nebenkläger, Überlebende des KZ Stutthof und ihre Angehörigen, gleichzeitig gegen die aktuellen Gefahren von Faschismus und Krieg ein Zeichen gesetzt.

Konzentrationslager Stutthof, Haupttor, am 11. November 2015 (Foto: Andrzej Otrębski, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons) [Photo by Andrzej Otrębski / CC BY 4.0]

Das KZ Stutthof war, wie jedes nationalsozialistische Konzentrationslager, eine Einrichtung zum Quälen, Erniedrigen und Ermorden von Menschen, eine Todesmaschine. Wer immer darin mitarbeitete, machte sich der Beihilfe, um diese Gräueltaten zu ermöglichen, und damit der Beihilfe zum Mord schuldig.

Behauptungen der Angeklagten und ihrer Verteidiger, dass sie von vielem, was in dem Lager vorging, z.B. der Existenz einer Gaskammer, nichts gewusst habe, waren von Anfang an wenig glaubhaft und wurden im Verlauf des Prozesses sowohl durch den historischen Sachverständigen als auch durch die Zeugenaussagen der Überlebenden des KZ Stutthof widerlegt.

Das Konzentrationslager Stutthof ist weniger bekannt als die Lager in Auschwitz, Buchenwald oder Dachau. Das Lager im von Nazideutschland besetzten Polen wurde schon am 2. September 1939, einen Tag nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, eröffnet. Es bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und wurde am 9. Mai 1945, einen Tag nach Kriegsende, von Soldaten der Roten Armee befreit.

Unmittelbar nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen begann die Gestapo mit Massenverhaftungen. Polnische und jüdische Zivilisten, darunter Lehrer, Abgeordnete und Akademiker aus Danzig, wurden nach Stutthof verschleppt. Unter brutalsten Bedingungen mussten die Häftlinge die Gebäude auf dem Lagergelände selbst errichten. Von mehreren hundert Danziger Juden, die bis Mitte September 1939 gefangengenommen und nach Stutthof gebracht wurden, starben die meisten innerhalb weniger Wochen.

Aufgrund seiner frühen Entstehung gilt Stutthof als das erste Konzentrationslager außerhalb der deutschen Grenzen. Am 29. Januar 1942 erhielt es den Status der Stufe I, den es bis Kriegsende behalten sollte. Mit der Eingliederung in das Konzentrationslagersystem wurden die Voraussetzungen geschaffen, um die Gefangenen in die Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs zu integrieren. Der wirtschaftliche Gewinn, den die SS aus der Ausbeutung bzw. „Vermietung“ von Häftlingen an private Unternehmen und Landwirtschaftsbetriebe zog, betrug für die Jahre 1942 bis 1944 schätzungsweise 10 Millionen Reichsmark.

Im Konzentrationslager Stutthof hielt die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als 100.000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen, darunter sehr viele Juden. Mindestens 65.000 Menschen wurden in Stutthof ermordet. Viele starben durch Genickschuss (es gab eine Genickschussanlage) oder in einer auf dem Lagergelände errichteten Gaskammer. Die meisten von ihnen wurden „zu Tode gearbeitet“. Das heißt sie starben an Hunger, Entkräftung und Seuchen aufgrund der absichtlich ungenügenden Versorgung mit Lebensmitteln und der nicht existenten medizinischen Pflege.

Das Gericht konnte wegen des hohen Alters der Angeklagten pro Sitzungstag nur zwei Stunden verhandeln. Hier einige Aussagen des historischen Gutachters und der KZ-Überlebenden, die als Nebenkläger auftraten. Sie stützen sich auf die Darstellung des NDR (Norddeutscher Rundfunk) vom 20. Dezember 2022, „Stutthof-Prozess – eine Chronologie der Ereignisse“.

Ein zentraler Zeuge in dem Prozess war der Historiker Stefan Hördler, der an 14 Sitzungen als Sachverständiger sprach. Unter den Zeugenaussagen, die Hördler am 1. März 2022 im Gericht verlas, befand sich auch diejenige eines SS-Mannes, der die Angeklagte nach dem Krieg geheiratet hatte. Er hatte 1954 ausgesagt: „Im Lager Stutthof sind Personen vergast worden. Darüber sprach man im Kommandanturstab.“ Ein anderer SS-Mann, ebenfalls aus dem Kommandanturstab, sagte laut Hördler 1974 aus, dass er in etwa sechs Fällen beobachtet habe, wie Männer und Frauen in Kleinbahnwaggons steigen mussten, deren Türen anschließend geschlossen worden waren. Erst später habe er erfahren, dass es sich dabei um Vergasungen handelte.

Im April und Mai 2022 wies Gutachter Hördler anhand mehrerer Aussagen, die SS-Männer und Zivilbeschäftigte des KZ Stutthof in der Nachkriegszeit machten, nach, dass die Bediensteten des Lagers sehr wohl über die Verbrechen im Lager Bescheid wussten. Die Behauptung der Angeklagten, dass über ihren Schreibtisch nur Bestellungen und Rechnungen gegangen seien, wies der Gutachter zurück. Zum Beweis führte er mehrere Briefe zu Häftlingstransporten an: In einem dieser Briefe ging es um die Deportation von fast 2.000 jüdischen Häftlingen nach Auschwitz.

Am 7. Dezember 2021 sagte der erste Überlebende, der 83-jährige Josef Salomonovic aus Wien, als Zeuge vor dem Gericht in Itzehoe aus. Salomonovic war der einzige Überlebende des KZ Stutthof, der persönlich vor Gericht erschien. Er hatte lange gezögert, ob er aussagen solle, und kam nur mit größtem Widerwillen nach Itzehoe, da ihn seine Frau und sein Rechtsanwalt von der Bedeutung seiner Aussage überzeugt hatten. In einem Gespräch mit dem NDR kurz vor Prozessende sagte Salomonovic: „Ich wollte das nicht. Die F. zu sehen und zwei Stunden zu reden, in einem Saal, persönlich. Das hat wehgetan.“

Vor Gericht berichtete er über die Deportation und das Leid seiner Familie. Salomonovic war von Prag zuerst nach Auschwitz und im Alter von sechs Jahren nach Stutthof gekommen. Man hatte ihn zusammen mit seiner Mutter, seinem Vater und seinem drei Jahre älteren Bruder deportiert. Sein Vater wurde im September 1944 im KZ Stutthof mit einer Phenol-Injektion ins Herz ermordet, als er in der Krankenbaracke des KZ um Medizin bat.

In dem Gespräch kurz vor Prozessende erklärten Salomonovic und seine Frau, dass sie von Irmgard Furchners Schuld überzeugt seien. Das Strafmaß sei nicht so wichtig. Wichtig sei ihnen nur, dass sie verurteilt werde. „Das ist eine symbolische Sache“, erklärte Josef Salomonovic. „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Für den Staat. Für Deutschland. Für das Gewissen.“ Er betonte, dass es auch für die nachfolgenden Generationen wichtig sei, damit sie begriffen, dass bei einem Verbrechen wie dem Holocaust auch die Beihilfe zu bestrafen ist.

Am 14. Dezember 2021 berichtete die 93-jährige Asia Shindelman per Videoverbindung aus den USA, wo sie lebt, über ihren Leidensweg. Shindelman wurde 1928 in Litauen geboren und 1941, nach der deutschen Besatzung, zusammen mit ihren Eltern zunächst in ein Ghetto gebracht. Drei Jahre später wurden sie in das KZ Stutthof bei Danzig deportiert. Sie schilderte, wie SS-Bewacher sie und ihre Eltern, einen Onkel und die Großmutter mit Peitschen und Hunden empfangen hätten. Den SS-Männern sei alles erlaubt gewesen. „Die Deutschen konnten uns auch totschlagen.“ Nach einem Monat sei sie in ein Außenlager gebracht worden, wo sie und andere jüdische Frauen Gräben zur militärischen Verteidigung ausheben mussten.

Weiter schilderte Shindelman am 25. Januar 2022 ihre Erlebnisse auf dem Todesmarsch aus dem Konzentrationslager Stutthof, den viele nicht überlebt hatten. Vorher berichtete sie, wie sie, die damals 15-Jährige, und ihre Mutter als Zwangsarbeiterinnen in den bitterkalten letzten Kriegsmonaten hatten beim Ausheben von Schützengräben und dem Bau von Panzerfallen helfen müssen.

Am 15. Februar 2022 schilderte der 94-jährige KZ-Überlebende Abraham Koryski die Gräueltaten, die er als 16-Jähriger in der Zeit von September 1944 bis Ende Januar 1945 im KZ Stutthof erlebt und erlitten hatte. Er wurde dem Gericht per Video aus Israel zugeschaltet. Koryski berichtete, wie er im Krematorium die noch heißen menschlichen Knochen hatte einsammeln müssen, wie Wachen einen Hund auf Gefangene gehetzt hatten, und dass er jeden Tag von Leichen umgeben gewesen sei. Immer wieder habe es Prügel gegeben, und mehrfach habe er Hinrichtungen beobachtet.

Wichtig im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Furchner, war seine Aussage, dass wohl jeder auf dem Gelände von den Taten gewusst habe. Von der Baracke aus, in der er untergebracht war, konnte Korysik auch die Kommandantur sehen, den Arbeitsplatz der Angeklagten.

Am 22. Februar 2022 sagte die 97-jährige Towa-Magda Rosenbaum als Überlebende aus. Auch sie wurde per Videoverbindung aus Israel zugeschaltet. Rosenbaum, die aus Ungarn stammte, war zusammen mit ihrer Schwester in das KZ Stutthof deportiert worden. Sie berichtete von dem großen Hunger, der Läuseplage und den Schlägen der Aufseher. Bei der KZ-Befreiung seien nur noch etwa 900 Frauen am Leben gewesen, und viele von ihnen seien kurze Zeit später ihren Krankheiten erlegen.

Am 14. Juni 2022 berichtet die 95-jährige Überlebende Halina Strnad aus Melbourne (Australien) über Video: „Ich wurde geschlagen, ich wurde getreten, ich wurde bespuckt.“ Als sie vor Schmerzen zusammenbrach und am Boden lag, habe der Lagerkommandant sie getreten. Durch diese brutale Behandlung erlitt sie einen Schädelbruch und mehrere Rippenbrüche. Nach dem Krieg musste sie deshalb zweimal operiert werden.

Strnad war im September 1944 von Auschwitz in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht worden. Anfang 1945 seien fast alle Frauen, die mit ihr in einer Baracke gefangen gehalten wurden, an Typhus erkrankt, auch sie selbst. Ihre Mutter sei in ihren Armen gestorben, berichtete sie. Von Mitgefangenen habe sie erfahren, dass die vielen Toten in einer Grube verbrannt würden. Im Lager habe es ständig nach den verbrannten Leichen gestunken. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es möglich war, nicht zu wissen, was passierte, da es diesen permanenten Gestank nach verbrannten Leichen gab“, sagte Strnad.

Der 96-jährige Marek Dunin-Wasowicz, der am 28. Juni 2022 per Videoverbindung aus Warschau aussagte, war im Mai 1944 zusammen mit seinem Bruder ins KZ Stutthof gebracht worden. Er berichtete, dass er zuvor mit seiner Familie im polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv gewesen sei. Dunin-Wasowicz sagte, dass er seit seiner Zeit im KZ wisse, was Angst und Hunger ist. Auch er berichtete, dass es im Lager durchgehend nach verbrannten Leichen gestunken habe, vor allem dann, wenn der Platz in den Krematorien nicht mehr ausgereicht habe. Dann seien die Ermordeten und Verstorbenen auf Scheiterhaufen verbrannt worden.

Die Angeklagte Irmgard Furchner verfolgte die Aussagen der Nebenkläger und Überlebenden über einen Monitor und mit Kopfhörer. Sie zeigte keinerlei Gefühlsregung. Furchner schwieg während der gesamten Dauer des Prozesses, der sich über ein Jahr hinzog. Nur zum Schluss sagte sie drei kurze Sätze: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“

Eine Woche nach der Urteilsverkündung gegen Irmgard Furchner durch das Landgericht Itzehoe haben Ende Dezember sowohl ein Vertreter der Nebenkläger als auch die Verteidigung der Angeklagten Revision gegen das Urteil eingelegt. Es ist damit nicht rechtskräftig. Die beiden Verteidiger von Furchner hatten einen Freispruch für ihre Mandantin gefordert. Sie behaupten auch nach dem Prozess und seiner ausführlichen Beweisaufnahme, es habe nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden können, dass Irmgard Furchner von den systematischen Tötungen im Lager gewusst habe. Der Bundesgerichtshof muss nun prüfen, ob ein Verfahrensfehler vorliegt.

Wie die WSWS schon früher betont hat, kommen diese Prozesse gegen die Helfershelfer des Mordregimes deshalb so spät, weil die deutsche Justiz in der gesamten Nachkriegszeit kaum Interesse an der Verfolgung der Naziverbrechen und ihrer Täter und Unterstützer zeigte. Frühere Bemühungen, Verantwortliche an den grausamen und massenweisen Verbrechen vor Gericht zu bringen, waren oftmals verhindert oder abgewiesen worden. Ein wichtiger Grund dafür war der praktisch nahtlose Übergang von deutschen Juristen, Richtern und Staatsanwälten mit Nazivergangenheit in den Justizapparat der Bundesrepublik.

In Deutschland hat es niemals eine wirkliche Aufarbeitung und Abrechnung mit den monströsen Verbrechen der Nazidiktatur, geschweige denn mit den dafür Verantwortlichen gegeben.

Jahrzehntelang war es notwendig, den SS-Schergen in den KZs konkrete Morde an bestimmten Personen nachzuweisen, damit sie überhaupt angeklagt werden konnten. Dies war oft schon deshalb sehr schwierig oder unmöglich, weil immer weniger Zeitzeugen noch am Leben waren. Das änderte sich erst mit dem Demjanjuk-Prozess, der im Mai 2011 mit der Verurteilung des Angeklagten zu Ende ging. Seit diesem Urteil kann jeder, der in irgendeiner Form an systematischen Tötungen in Konzentrationslagern beteiligt war, der Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Erstmals wurde systematisch nach noch lebenden SS-Leuten, die sich am Holocaust beteiligt hatten, gesucht.

Im Jahr 2015 kam es zum Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning, der in Auschwitz tätig war und dort auch an der Rampe eingesetzt wurde. Grönings Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 300.000 Juden im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurde im September 2016 vom Bundesgerichtshof bestätigt. Seine Haft hat er jedoch nicht mehr antreten müssen. Gröning verstarb im März 2018 im Alter von 96 Jahren in einem Krankenhaus.

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