Ungarns neuer Präsident lügt über Nazi-Vergangenheit seines Vaters

Am 5. März trat Tamás Sulyok das Amt des ungarischen Staatspräsidenten an. Seine Vorgängerin Katalin Novák war nach zwei Jahren im Amt wegen der skandalösen Begnadigung von Straftätern zurückgetreten. Beide zählen zur ultrarechten Fidesz Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán, der das Land seit 2010 regiert.

Der neue ungarische Staatspräsident Tamás Sulyok [Photo by Elekes Andor / wikimedia / CC BY-SA 4.0]

Bezeichnenderweise musste Novák nicht wegen der Begnadigung von 17 Mitgliedern der rechtsextremen Hunnia-Bewegung zurücktreten, die für mehrere Anschläge auf die frühere sozialdemokratische MSZP-Regierung und linke Einrichtungen verantwortlich war, sondern wegen der Begnadigung von Endre Kónya, der als stellvertretender Direktor eines Schulinternats in Bicske wegen Beihilfe zur Vertuschung von Kindesmissbrauch verurteilt worden war. Novák begnadigte ihn wie die anderen Straftäter anlässlich des Papstbesuchs im vergangenen Jahr, wie das Portal 444.hu aufdeckte.

Nach mehrwöchigen Protestaktionen der Oppositionsparteien stellte sich auch der rechtsextreme Publizist Zsolt Bayer, ein enger Vertrauter Orbáns, gegen Novák. Nach der Staatspräsidentin trat dann auch die zuständige Justizministerin, Judit Varga, zurück und kündigte ihren Rückzug aus der Politik an.

Vargas Ex-Mann, der Millionär Péter Magyar, der lange Zeit selbst vom System Orbán profitiert hatte, stellte sich an die Spitze der anhaltenden Proteste. Er will mit der neuen Antikorruptionspartei „Talpra, Magyarok!“ (Aufstehen, Ungarn!) die Fidesz herausfordern und die „Spaltung“ der Gesellschaft überwinden.

Dass die Führer des Oppositionslagers lieber eine Skandalkampagne mit dem Thema „Begnadigung eines Pädophilen“ lostreten, als die Begnadigung von faschistischen Gewalttätern anzusprechen, spricht Bände über das verrottete Milieu der Opposition, das von der MSZP, die aus der stalinistischen Staatspartei hervorgegangen ist, über die Grünen bis zur rechtsextremen Jobbik Partei reicht.

Der neue Präsident Tamás Sulyok war seit 2016 Präsident des Verfassungsgerichts und dort eine verlässliche Stütze des autoritären Regimes von Orbán. Kurz vor seinem Amtsantritt enthüllte der Historiker László Karsai auf hvg3600, wie der neue Präsident über die Nazi-Vergangenheit seines Vaters gelogen hat. Die Historiker Krisztián Ungváry und Anna Gergely ergänzten die Darstellungen von Karsai.

Sulyok hatte im August 2023 in einem Interview mit der ungarisch-sprachigen rumänischen Zeitung Krónika behauptet, sein Vater László Sulyok sei 1946 als Anwalt vom stalinistischen Volksgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden und deshalb zehn Jahre lang untergetaucht.

Miklós Horthy und Adolf Hitler 1938

Tatsächlich war Sulyok Senior Vorsitzender der Ungarischen Nationalsozialistischen Partei, einer bedingungslos pro-deutschen Abspaltung der Pfeilkreuzlerpartei, im Bezirk Fejér. Die Pfeilkreuzler putschen sich im Oktober 1944 mit Hilfe der deutschen Armee an die Macht, weil das seit 1941 mit Nazi-Deutschland verbündete Horthy-Regime einen Separatfrieden mit der einmarschierenden sowjetischen Armee anstrebte. Sie setzten die Vernichtung der ungarischen Juden, die erst im Mai 1944 begonnen hatte, mit besonderer Brutalität fort.

Wie die Historiker aufzeigen, gab es weder ein Gerichtsverfahren gegen Sulyok noch ein Todesurteil in Abwesenheit. Stattdessen wurde im Mai 1945 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, das jedoch 1950 eingestellt wurde.

Grundlage für das Verfahren war unter anderem ein Zeitungsartikel vom 17. Juni 1944 in der Regionalzeitung Fejérmegyei Napló, in dem Sulyok Senior das neue Pfeilkreuzler-Regime begrüßt und erklärt hatte: „Wir sehen den Aufbau von Parteiorganisationen als ein Mittel zur Entwicklung einer besseren Zukunft für die Ungarn. Jeder, der frei von jüdischem Blut, moralisch aufrichtig und von ungarischer nationalsozialistischer Überzeugung ist, ist berechtigt, sich uns anzuschließen.“

Das Verfahren wurde in Abwesenheit eingestellt, weil drei Bekannte von Sulyok Senior behaupteten, der Artikel stamme in Wahrheit von dem bereits nach Westen geflohenen Zisterzienser-Priester und Pfeilkreuzler Rafael Marschall. Trotz der historischen Beweise beharrte Sulyok Junior auf der Unschuld seines Vaters und erklärte, das Mitglied der ungarischen Nazi-Partei sei ein „sozial sensibler, patriotischer, philosemitischer Mensch“ gewesen – eine offensichtliche, absurde Geschichtsfälschung.

Die Historiker machen in ihren Artikeln auch deutlich, dass Antisemiten und Nazis wie Sulyok Senior in der 1949 gegründeten stalinistischen Volksrepublik Ungarn wenig zu befürchten hatten, wenn sie keine politischen Funktionen innehatten. Sie verweisen auf den antisemitischen Dichter József Erdélyi, der zwar verurteilt wurde, aber nur wenige Tage im Gefängnis verbrachte und bereits 1954 wieder publizieren konnte. Nicht zuletzt zur Bekämpfung des Internationalismus der Linken Opposition stützte sich die stalinistische Bürokratie auch auf antisemitische Ressentiments und Nationalchauvinismus.

Jenseits solcher historischen Fragen ist die dreiste Geschichtsfälschung des aktuellen ungarischen Staatsoberhaupts auch ein Symptom für die Rechtsentwicklung der gesamten herrschenden Klasse in der EU und im Nato-Staat Ungarn.

Die Fidesz-Regierung verherrlicht seit Jahren das autoritäre Regime, das Reichsverweser Miklós Horthy 1920 nach der gewaltsamen Niederschlagung der Räterepublik unter Béla Kun errichtete. Neben dem Kult um Horthy selbst, den Viktor Orbán 2017 als „Ausnahmestaatsmann“ lobte, werden auch rechtsextreme Intellektuelle verherrlicht. Der völkische Schriftsteller József Nyírő wurde 2010 zum Volksdichter erhoben und seine Schriften zur Pflichtlektüre im Unterricht erklärt. Für den Kriegsverbrecher Albert Wass wurden unzählige Denkmäler errichtet.

Dieser aggressive Geschichtsrevisionismus ist nicht auf Ungarn beschränkt. In Deutschland wurde der rechtsradikale Historiker Jörg Baberowski 2014 von Politik, Medien und zahlreihen Professoren unterstützt, als er im Spiegel verkündete: „Hitler war nicht grausam.“ In Frankreich ehrte Präsident Emmanuel Macron den Nazi-Kollaborateur und Diktator Philippe Pétain 2018 als großen Soldaten“, dessen Ehrung „legitim“ sei. 2020 lobten spanische Generäle die Franco-Diktatur und drohten mit Putsch und Massenmorden.

Alle Dämme brachen dann in der Ukraine, wo das von der Nato unterstützte Regime Denkmäler für Nazi-Kollaborateure und Massenmörder errichtet und reihenweise Straßen nach ihnen benennt. 2023 feierte das kanadische Parlament den ukrainischen Veteranen der Waffen-SS Jaroslaw Hunka mit stehenden Ovationen. Es überrascht daher wenig, dass die internationale Presse den Geschichtsrevisionismus des neuen ungarischen Präsidenten bis auf wenige Ausnahmen totschweigt.

Das Regime von Viktor Orbán wird zwar von seinen Verbündeten immer wieder kritisiert, weil es an wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland festhält. Es ist aber voll in die Kriegspläne der Nato gegen Russland integriert. Es hat der Aufrüstung der Ukraine und der Aufnahme von Finnland und Schweden in die Nato zugestimmt und entwickelt sich mehr und mehr zu einem wichtigen Rüstungsstandort, vor allem für die deutsche Industrie.

Allein Rheinmetall betreibt ein ganzes Netz von Rüstungsfabriken und nutzt dabei den mickrigen Mindestlohn, der erst kürzlich auf 266.000 ungarische Forint (ca. 690 Euro im Monat) erhöht wurde. Innerhalb der EU wird er nur noch in Rumänien und Bulgarien unterboten.

In der Panzerfabrik von Zalaegerszeg läuft bereits der neue Schützenpanzer Lynx vom Band und der neue Panther KF51 könnte folgen. Beide will Ungarn in die eigene Armee integrieren. In Várpalota wird eine der größten Munitions- und Sprengstofffabriken ausgebaut. In Kaposvár wird im Joint Venture mit dem ungarischen Rüstungskonzern HT Division das Radfahrzeug „Gidrán“ gebaut, in Budapest entwickelt Rheinmetall die dazugehörige Software. Und in Szeged hat Rheinmetall vor wenigen Tagen den Bau einer Hybrid-Fabrik angekündigt, die Produkte für zivile und militärische Nutzung herstellt.

Ungarns eigene Rüstungsausgaben steigen in diesem Jahr um fast 29 Prozent auf eine Rekordhöhe von 4,63 Milliarden Euro und damit auf 2,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Aufrüstungsprogramm „Zrínyi 2026“ wird beschleunigt und bis 2030 ausgeweitet.

Mit der Vorbereitung eines Dritten Weltkriegs knüpfen die herrschenden Klassen überall wieder an die Verbrechen der Vergangenheit an. Im Zweiten Weltkrieg starben rund 900.000 Ungarn, mehr als 6 Prozent der Bevölkerung. Allein in der militärisch aussichtslosen Abwehrschlacht der einkreisten Hauptstadt Budapest gegen die Rote Armee, die vom Dezember 1944 bis Februar 1945 tobte, starben 161.000 Soldaten und Zivilisten, große Teile von Budapest wurden vollständig zerstört. Von den 825.000 Juden, die vor Kriegsbeginn in Ungarn lebten, starben 565.000 im Holocaust.

80 Jahre später fälschen die ungarischen Eliten nicht nur die Geschichte und rehabilitieren die damaligen Verbrechen, sondern bereiten mit ihren Nato-Verbündeten unvergleichlich größere vor.

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