Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein

Teile 11-13

Die World Socialist Web Site setzt heute die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von "Marxism, History & Socialist Consciousness" von David North fort. Es handelt sich um die Antwort auf eine Kritik der Politik des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die von Alex Steiner und Frank Brenner unter dem Titel "Objektivismus oder Marxismus" verfasst wurde. Steiner und Brenner sind ehemalige Mitglieder der Workers League (der Vorgängerin der heutigen Socialist Equality Party). David North ist Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der WSWS.

Die englischsprachige Originalfassung von Norths Antwort ist kürzlich bei Mehring Books in Buchform erschienen und kann online bestellt werden.

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11. Der Ursprung der Kampagne für eine "Utopie"

Mit eurer Kampagne gegen das Internationale Komitee wollt ihr nachweisen, dass unsere Weigerung, euer pseudo-utopisches Unternehmen zum wesentlichen Bestandteil unseres revolutionären Programms zu machen, ein Ergebnis der "abstumpfenden Auswirkungen des Objektivismus auf den Kampf für sozialistisches Bewusstsein" sei. Damit nicht genug, ihr behauptet auch, meine "scharfe Zurückweisung des Utopismus" demonstriere, wie "der Marxismus noch immer an einem störenden, reduktiven Materialismus krankt, der ‚die menschlichen Faktoren gering schätzt’ und den Kampf für sozialistisches Klassenbewusstsein verunglimpft."

An diesem Punkt ist es erforderlich, den Weg zu verfolgen, der euch im Verlauf eines knappen Jahrzehnts zu dieser niederschmetternden Anklage gegen das Internationale Komitee und meine eigenen theoretischen und politischen Ansichten geführt hat.

Der erste ernsthafte Hinweis darauf, dass wir uns auf verschiedenen politischen Wegen befinden, zeigte sich 1998. Damals sandtest du, Genosse Brenner, der World Socialist Web Site einen ausgedehnten Artikel zum Thema Sexualität und Geschlechterrollen, und wir beschlossen damals, diesen Artikel nicht zu veröffentlichen. Der Artikel schien uns auf höchst spekulativen und zweifelhaften Theoremen zu basieren, die die Bedeutung der Biologie für die sexuelle Orientierung minimieren, wenn nicht ganz leugnen. Nichts deutete darauf hin, dass der Artikel auf einem ernsthaften Studium der Evolutionsbiologie oder Anthropologie beruhte. Genosse Walsh, der den Artikel durchsah, machte dich auf einige dieser Bedenken aufmerksam. Daraufhin sandtest du uns am 28. Juni 1998 eine lange Antwort, die unsere Einwände gegen deinen Artikel nicht etwa entkräftete, sondern Bedenken über deine neue programmatische Orientierung weckte.

Dein Brief ließ uns wissen, es sei dringend notwendig, eine "alternative Theorie des Geschlechtlichen" zu entwickeln. Dies werde "einen tiefen Einfluss auf das sozialistische Projekt zur Umstrukturierung der Familie" haben. Für Marxisten stehe "in dieser Frage viel auf dem Spiel", und unser Standpunkt zu dieser Frage könne "unseren Bemühungen, Unterstützung für die sozialistische Revolution zu gewinnen, entweder förderlich oder hinderlich sein".

Vor dem Erhalt deines Briefs war keinem von uns in den Sinn gekommen, dass ein dringender Bedarf nach einer "sozialistischen Umgestaltung der Familie" bestehe, ganz zu schweigen von einer "neuen Auffassung des Geschlechtlichen" oder einer "marxistischen Theorie der Sexualität". Darüber hinaus mangelte es Genosse Brenners Brief an literarischer Ästhetik. Er war in einer Weise geschrieben, die den Leser bewusst und auf unreife Weise schockieren sollte.[13] Noch schlimmer war, dass der Artikel nicht ein einziges Zitat aus einem wissenschaftlichen Text bot, um seine extravaganten und reißerischen Argumente zu unterfüttern.

Obwohl wir über informelle Kanäle von deiner Unzufriedenheit mit unserer Entscheidung hörten, deinen Artikel zur Geschlechtlichkeit nicht zu veröffentlichen, kamen erst im Jahr 2002 neue Differenzen auf. Am 30. Mai 2002 veröffentlichte die WSWS einen Brief, den Genosse Nick Beams, der nationale Sekretär der Socialist Equality Party Australiens und Mitglied der Internationalen Redaktion der WSWS, als Antwort auf Fragen eines Lesers über das Leben im Sozialismus geschrieben hatte. Diese Fragen berührten eine recht weite Spanne von Themen, darunter das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Effizienz und Vollbeschäftigung, das Problem individueller Motivation und Initiative, die Zukunft von Kleinunternehmen, die Entscheidungsfindung durch die Regierung, die genaue Lage einer zukünftigen Welthauptstadt, die moralischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und den Einfluss des Sozialismus’ auf Familie, Menschenrechte und Ökologie. Es waren typische Fragen der Art, wie sie in politischen Diskussionen mit Menschen aufkommen, die gerade erst Bekanntschaft mit dem Sozialismus gemacht haben. Wenngleich solche Fragen eine ernsthafte Antwort verdienen, verstehen Marxisten auch, wie wichtig es ist, im Interesse politischer und theoretischer Klärung darauf hinzuweisen, dass der Sozialismus nicht aus einer Reihe von im Voraus aufgestellten Vorschriften besteht. Nicht, dass wir unter allen Umständen davon Abstand nehmen würden, über die Zukunft im Sozialismus zu spekulieren. Doch als historische Materialisten verstehen wir die Grenzen derartiger Spekulation - sie muss sich in jedem Fall auf eine tiefgreifende Analyse der realen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr hervorgebrachten gesellschaftlichen Beziehungen stützen. Darüber hinaus werden die wichtigsten Merkmale einer sozialistischen Gesellschaft das Ergebnis der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse sein - und sich nicht in Übereinstimmung mit einem Schema entwickeln, das die Führer im Voraus ausarbeiten.

Um ein Bild der sozialistischen Gesellschaft gebeten, argumentierte Beams entlang dieser Linie [siehe: Some questions and answers on life under socialism] Er schrieb: "Die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft wird nicht in Übereinstimmung mit einer Reihe von Prinzipien und Regeln stattfinden, die ein Individuum, eine politische Partei oder eine Regierungsinstitution entworfen hat. Sie wird sich vielmehr auf der Grundlage des Handelns ihrer Mitglieder entwickeln, die zum ersten Mal in der Geschichte ihre eigene gesellschaftliche Organisation bewusst und als Teil ihres Alltagslebens gestalten werden - frei von der Herrschaft oder den Vorschriften des freien Marktes oder einer über ihnen stehenden bürokratischen Autorität." Nick betonte auch, materielle Voraussetzung einer Gesellschaft, die nach der Verwirklichung der Emanzipation des Menschen strebt, sei "die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität bis zu einem Punkt, an dem die große Mehrheit der Menschheit nicht länger den längsten Teil ihres Arbeitstages darauf verwenden muss, die Mittel zu ihrer Selbsterhaltung zu schaffen. Der große Beitrag des Kapitalismus zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation besteht darin, dass er durch die kontinuierliche Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität die notwendigen Bedingungen für eine derartige, wirkliche Emanzipation des Menschen geschaffen hat." Beams legte dann kurz dar, wie eine sozialistische Gesellschaft auf der Grundlage dieser materiellen Verhältnisse einige der vom Briefschreiber gestellten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen angehen würde. Doch bezüglich der Frage der Moral schrieb Beams: "Der Marxismus hat es immer abgelehnt, irgendein moralisches Dogma aufzustellen. Er weist vielmehr darauf hin, dass die Moral, insofern die Gesellschaft immer in Klassen gespalten war, eine Klassenfrage ist. Moralische Werte rechtfertigen entweder die Interessen einer herrschenden Schicht, oder sie repräsentieren die Interessen der unterdrückten Klassen. Wenn die Klassengesellschaft überwunden ist, wird sich eine neue Moralität entwickeln." Diese Antwort war selbstverständlich nicht als letztes Wort zum Thema Marxismus und Moralität gedacht. Als kurze Antwort auf einen Leserbrief war sie jedoch völlig angemessen und korrekt. In ähnlicher Weise beschränkte sich Nick zum Thema Familie, einem äußerst komplexen Gegenstand, auf die zutreffende Feststellung: "Die sozialistische Gesellschaft wird keinerlei Vorschriften machen. Doch werden die Menschen die materiellen Mittel zur Verfügung haben, frei in diejenigen Verhältnisse zueinander zu treten, die sie für sinnvoll halten."

Du schriebst daraufhin, Genosse Brenner, am 24. Juli 2002 einen Brief, in dem du die Art und Weise, in der Beams auf die Fragen des Lesers geantwortet hatte, strikt ablehnst. "Es ist unmöglich", schriebst Du, "aus Beams’ Antwort eine Idee über den Stellenwert der Utopie in der Weltsicht des zeitgenössischen Marxismus zu bekommen." Die kurze Antwort auf diese Frage - wenn auch nicht die, die du hören willst - lautet, dass die Utopie genau den Stellenwert einnimmt, den sie in einem ernsthaften revolutionären Programm haben soll, das auf einer Analyse der sozioökonomischen Grundlagen des Kapitalismus und den Gesetzen der historischen Entwicklung basiert: Sie ist nicht Teil eines marxistischen Programms. Wir werden etwas später genauer auf diesen Punkt eingehen, wollen jedoch zunächst zu deinem Brief zurückkehren. Du protestierst, Beams habe dem Leser nicht anständig geantwortet, und erklärst: "Alle seine [des Lesers] Fragen laufen im Wesentlichen auf eine Frage hinaus: Was würden Sozialisten tun, wenn sie die Gesellschaft leiten? Eine Bewegung, die zu einer Revolution aufruft, muss mit Sicherheit eine überzeugende Antwort auf diese Frage parat haben, das heißt Taktiken zu einer ganzen Palette gesellschaftlicher Fragen sowie eine klare Vision der Gesellschaft, die das revolutionäre Programm hervorbringen soll. Andernfalls ist etwas Unseriöses an dem Aufruf zur Revolution."

Die Behauptung, es fehle der Vierten Internationalen ein Programm, es mangele uns an "Taktiken zu einer ganzen Palette gesellschaftlicher Fragen", und unsere Bewegung rufe zur Revolution auf, ohne eine klare Vorstellung darüber zu haben, welche Art Gesellschaft wir als Alternative zum Kapitalismus vorschlagen, ist völlig unbegründet. Es gibt keine andere Partei, die derart umfassende programmatische Aussagen veröffentlicht hat, wie das Internationale Komitee der Vierten Internationalen.[14] Wenn du beklagst, dem Internationalen Komitee fehle ein Programm, dann meinst du in Wahrheit, dass die marxistische Auffassung über Programme und ihre Beziehung zum Kampf um die Arbeitermacht deiner eigenen widerspricht. Du glaubst, wie wir noch sehen werden, die revolutionäre Bewegung solle "sozialistische" Enzykliken über Themen herausgeben, die weit außerhalb des Rahmens eines politischen Programms liegen - wie zum Beispiel die angemessene Form der nachrevolutionären Familie und den Charakter der Sexualität im Kommunismus. Du bist, Genosse Brenner, nicht sonderlich interessiert an der Aufstellung von Forderungen, deren Inhalt in den objektiven Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft wurzelt und in denen sich die politischen und sozioökonomischen Interessen der Arbeiterklasse und ihres Kampfes gegen kapitalistische Unterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit ausdrücken. Du verstehst unter einem Programm vielmehr, um deinen Brief zu zitieren, "einen sozialistischen Traum, der in der Vorstellung von Millionen Menschen den Sozialismus mit einem glücklichen Leben verknüpft". Hier haben wir den Wesenskern deines Rufes nach einer Wiederbelebung des Utopismus.

Als Beams am 29. August 2002 auf Brenners Beschwerdebrief antwortete, konzentrierte er sich auf eine entscheidende Frage: "Der Punkt, den ich gemacht habe, und den du so lebhaft zurückweist, ist der: Die sozialistische Gesellschaft ist keine Gesellschaft, die von Sozialisten geleitet wird. Sie ist vielmehr eine Gesellschaftsform, in der die Arbeiterklasse, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, zum ersten Mal in der Geschichte die politische Macht in ihre eigenen Hände nimmt. Hierin steckt eine sehr wichtige Grundauffassung: Die Emanzipation der Arbeit wird nicht durch eine Reihe von Vorschriften verwirklicht, die eine Autorität von oben erlässt, sondern durch die Massen selbst."

In Antwort auf diesen Brief von Nick Beams hast du dein Manifest über die Utopie geschrieben. Du hast uns mitgeteilt, dass dieses Dokument zweierlei beabsichtigte: Zum ersten, "ernstlich fehlgeleitete" Auffassungen über das Verhältnis von Marxismus und Utopismus zu berichtigen; und zweitens, "die Spannung zwischen Wissenschaft und Utopismus zu untersuchen, die letzteren zu einem wahren Tabu [für die marxistische Bewegung] hat werden lassen". Nachdem du uns gewarnt hast, eine "definitive Behandlung all dieser Themen würde eine Diskussion in Buchlänge erfordern", hast du die Behandlung dieser Fragen auf 27.393 Worte begrenzt. Dies, so versichertest du uns, sei "ausreichend, um klarzustellen, dass eine neue Aufmerksamkeit für den Utopismus lebenswichtig für eine Wiedergeburt der sozialistischen Kultur in der Arbeiterklasse" sei.

12. Marx, Engels und Utopismus

Wie bereits gesagt, sind deiner Auffassung nach Beams’ "ernstlich fehlgeleitete" Ansichten zum Utopismus "bezeichnend für eine vorherrschende (und seit langem bestehende) Auffassung innerhalb der marxistischen Bewegung..." Beams’ Irrtümer erwüchsen außerdem aus der "Spannung zwischen Wissenschaft und Utopismus..., die letzteren zu einem wahren Tabu hat werden lassen". Du stellst fest, Beams sei nur der letzte in einer langen, bis zurück in die Zeiten der Zweiten Internationale im 19. Jahrhundert reichenden Reihe von Revisionisten, die fälschlicherweise behauptet hätten, Marx und Engels hätten dem Utopismus feindlich gegenübergestanden, um ihre eigenen, antirevolutionären und reformistischen Ziele durchzusetzen. Zu einem Zitat aus Der Bürgerkrieg in Frankreich (von Marx im Jahr 1871 zur Verteidigung der Pariser Kommune verfasst) bemerkst du:

Das Verhältnis zwischen Utopismus und Marxismus, wie es in dieser Passage hervortritt, unterscheidet sich bemerkenswert von dem, was uns Marxisten für gewöhnlich präsentieren. Mit letzterem meine ich besonders die Ansicht, der Utopismus sei irrelevant geworden, nachdem der Marxismus den Sozialismus zur Wissenschaft gemacht habe. Diese Ansicht stützt sich in erster Linie auf Engels’ Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, und tatsächlich besteht kein Zweifel, dass er und Marx den utopischen Sozialismus einer profunden Kritik unterwarfen, die entscheidend für das gesamte Projekt eines wissenschaftlichen Sozialismus war. Doch diese Kritik ließ den Utopismus nicht irrelevant werden, wie das Aufkommen des Marxismus ja auch die Philosophie Hegels oder die politische Ökonomie Ricardos nicht irrelevant gemacht hat.

Die Einführung des Wortes "irrelevant" ist ein terminologischer Taschenspielertrick. Die Frage ist nicht, ob die Ideen der großen utopischen Sozialisten "irrelevant" sind. So etwas hat Nick Beams nie behauptet. "Irrelevant" ist überhaupt kein Begriff, den Studenten der Geistesgeschichte auf die großen Denker der Vergangenheit anwenden. Jede neue Generation von Denkern steht auf den Fundamenten, die ihnen die vorangegangene hinterlassen hat. Ein tiefes Verständnis des Marxismus erfordert die kritische Aneignung der gesamten ihm vorausgegangenen Geschichte der Philosophie, angefangen von Plato bis hin zu den utopischen Denkern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Doch eine Wertschätzung der Beiträge vergangener Denker bedeutet nicht, dass ihre Theorien in ihrer historisch bedingten Form unter den gegenwärtigen Bedingen nutzbar sind.

Marx und Engels anerkannten bei zahlreichen Gelegenheiten die ungeheure geistesgeschichtliche Schuld, in der der moderne, wissenschaftliche Sozialismus bei den großen Utopisten Saint-Simon, Fourier und Owen stand. Sie erklärten auch sehr ausführlich den historisch bedingten Charakter und die Schranken der Beiträge ihrer Vorgänger. Engels schrieb, die Utopisten "waren Utopisten, weil sie nichts andres sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch so wenig entwickelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren beschränkt für die Grundzüge ihres Neubaus auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten." [Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in Ausgewählte Werke, Band V, Berlin 1979, S. 291]

Deine Behauptung, die Ansichten von Marx und Engels zum Thema Utopismus seien von nachfolgenden Generationen fehlgedeutet worden - das heißt: ihre angebliche Feindschaft gegen den Utopismus übertrieben worden - entbehrt jeder Grundlage. Jeder, der Zugang zu ihren Gesammelten Werken hat, kann mit Leichtigkeit zahllose Zitate anführen, in denen sie ihre kritische Haltung zum Utopismus präzise ausformulieren. Während sie seinem Beitrag zur Entwicklung des modernen Sozialismus den notwendigen Respekt zollen, betonen sie gleichzeitig, dass der Utopismus der Vergangenheit der revolutionären sozialistischen Bewegung angehöre, und nicht ihrer Gegenwart oder Zukunft. Genau dieser Punkt wird in dem von dir zitierten Abschnitt aus dem Bürgerkrieg in Frankreich gemacht. Wie du, Genosse Brenner, behaupten kannst, dieser Abschnitt unterstütze deine zurechtgezimmerte Interpretation des Marxismus, übersteigt meinen Verstand. Das Zitat erklärt, die Epoche des Utopismus habe genau an dem Punkt geendet, da das Heranreifen des Kapitalismus die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft ins Leben rief. Dieser Standpunkt wird noch deutlicher, wenn man die deinem Zitat vorangehenden vier Sätze hinzunimmt:

Alle sozialistischen Gründer von Sekten gehören einer Zeit an, in der weder die Arbeiterklasse genügend geübt und organisiert war durch die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, um auf der Bühne der Weltgeschichte als historischer Akteur aufzutreten, noch die materiellen Bedingungen ihrer Emanzipation in der alten Welt selbst genügend herangereift waren. Ihr Elend bestand, aber noch nicht die Bedingungen für ihre eigene Bewegung. Die utopischen Gründer von Sekten, die in ihrer Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft das Ziel der sozialen Bewegung klar beschrieben - die Beseitigung des Systems der Lohnarbeit mit allen seinen ökonomischen Bedingungen der Klassenherrschaft -, fanden weder in der Gesellschaft selbst die materiellen Bedingungen ihrer Umgestaltung, noch in der Arbeiterklasse die organisierte Macht und das Bewusstsein der Bewegung. Sie versuchten, die fehlenden historischen Bedingungen der Bewegung durch phantastische Bilder und Pläne einer neuen Gesellschaft zu kompensieren, in deren Propaganda sie das wahre Mittel des Heils sahen. [Karl Marx, Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich, in Ausgewählte Werke, Band IV, Berlin 1979, S. 40f]

An diesem Punkt nimmst du das Zitat auf:

Von dem Moment an, da die Bewegung der Arbeiterklasse Wirklichkeit wurde, schwanden die phantastischen Utopien, nicht weil die Arbeiterklasse das Ziel aufgegeben hatte, das diese Utopisten anstrebten, sondern weil sie die wirklichen Mittel gefunden hatte, sie zu verwirklichen, weil an die Stelle phantastischer Utopien die wirkliche Einsicht in die historischen Bedingungen der Bewegung trat und die Kräfte für eine Kampforganisation der Arbeiterklasse sich immer mehr zu sammeln begannen. Aber die beiden Endziele der von den Utopisten verkündeten Bewegung sind auch die von der Pariser Revolution und von der Internationale verkündeten Endziele. Nur die Mittel sind verschieden, und die wirklichen Bedingungen der Bewegung sind nicht mehr von utopischen Fabeln umwölkt. [ebd.]

Jedem, der versteht, was er liest, wird hier vollkommen klar, dass der Utopismus Marx zufolge einem früheren Stadium der Entwicklung des Sozialismus angehört - einem, das durch die Entwicklung des Kapitalismus und das Aufkommen einer massenhaften Arbeiterklasse übergeholt und abgelöst worden ist.

Für Marx stellte die Pariser Kommune die höchste historische Bestätigung des Kampfes dar, den er über nahezu dreißig Jahre gegen die unzähligen Spielarten des Utopismus geführt hatte, um die sozialistische Theorie auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Die theoretische Arbeit Marx’ und Engels’ zwischen 1843 und 47 - deren größte Errungenschaft die Kritik des Hegelschen Idealismus und, auf dieser Grundlage, die Erarbeitung einer materialistischen Geschichtsauffassung war - legte die philosophischen und politischen Fundamente der modernen sozialistischen Bewegung. Diese Periode intensiver geistiger Arbeit fand ihren Höhepunkt im Kommunistischen Manifest. Während der folgenden zwanzig Jahre widmete Marx sich fast ausschließlich der wissenschaftlichen Untermauerung der darin vertretenen revolutionären Perspektive. Diese Untermauerung bestand im Wesentlichen 1) in der erfolgreichen Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung als Instrument für die politische Analyse (was es möglich machte, politische Entwicklungen wie den berühmten Staatsstreich Louis Bonapartes zu entmystifizieren und rational zu verstehen); und 2) in der Aufdeckung der ökonomischen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft, die ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapitals im Jahre 1867 erreichte.[15]

Während der frühen Jahre der deutschen Sozialdemokratischen Partei übten Marx und Engels vernichtende Kritik an jeder Tendenz, die Abstand von diesen theoretischen Errungenschaften zu nehmen versuchte. In dem Klima politischer Reaktion, das auf die Niederschlagung der Kommune und die Konsolidierung von Bismarcks Kaiserreich folgte, mussten sie sich wiederholt mit politisch-ideologischen Strömungen herumschlagen, die versuchten, veraltete, von Marx und Engels bereits Jahrzehnte zuvor widerlegte Lehren neu zu beleben. Am 19. Oktober 1877 schrieb Marx eine verärgerte Beschwerde an seinen Freund Adolph Sorge, der in Hoboken, New Jersey lebte:

In Deutschland macht sich in unserer Partei, nicht so sehr in der Masse, als unter den Führern (höherklassigen und "Arbeitern") ein fauler Geist geltend. Der Kompromiss mit den Lassalianern hat zu Kompromiss auch mit anderen Halbheiten geführt, in Berlin (via Most) mit Dühring und seinen "Bewunderern", außerdem aber mit einer ganzen Reihe halbreifer Studiosen und überweiser Doctores, die dem Sozialismus eine "höhere, ideale" Wendung geben wollen, d.h. die materialistische Basis (die ernstes, objektives Studium erheischt, wenn man auf ihr operieren will) zu ersetzen durch moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité. Herr Dr. Höchberg [16] , der die "Zukunft" herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei "eingekauft" - ich unterstelle, mit den "edelsten" Absichten, aber ich pfeife auf "Absichten". Etwas Miserableres wie sein Programm der "Zukunft" hat selten mit mehr "bescheidner Anmaßung" das Licht erblickt.

Die Arbeiter selbst, wenn sie wie Herr Most et Cons. das Arbeiten aufgeben und Literaten von Profession werden, stiften stets "theoretisch" Unheil an und sind stets bereit, sich an Wirrköpfe aus der angeblich "gelehrten" Kaste anzuschließen. Namentlich, was wir seit Jahrzehnten mit so viel Arbeit und Mühe aus den Köpfen der deutschen Arbeiter gefegt und was selben das theoretische Übergewicht (daher auch das praktische) über Franzosen und Engländer gab - der utopische Sozialismus, das Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsaufbau - grassiert wieder und in einer viel nichtigeren Form, nicht nur verglichen mit den großen französischen und englischen Utopisten, sondern mit - Weitling [17] . Es ist natürlich, dass der Utopismus, der vor der Zeit des materialistisch-kritischen Sozialismus letzteren in nuce in sich barg, jetzt wo er post festum kommt, nur noch albern sein kann, albern, fad und von Grund aus reaktionär. [in Marx/Engels, Ausgewählte Werke, Band IV, Berlin 1979, S. 486f.]

Diese Passage bringt Marx’ Einschätzung der Bemühungen, den Utopismus wieder in die sozialistische Bewegung einzuführen, auf den Punkt. Ja, Genosse Brenner, es ist wahr, dass Beams’ Zurückweisung des Utopismus eine (in deinen Worten) "vorherrschende (und seit langem bestehende) Auffassung innerhalb der marxistischen Bewegung" ausdrückt. Doch wenn dies eine "fehlgeleitete" Auffassung ist, dann hast du nicht so sehr mit Nick Beams Meinungsverschiedenheiten, sondern vielmehr und zuallererst mit Marx und Engels.

13. Die idealistische Methode des Utopismus

Ideen entwickeln sich entsprechend einer gewissen, historisch bestimmten Logik. Als Ausflüsse ihrer Zeit waren die Ideen der großen progressiven Utopisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in der materialistischen Philosophie jener Epoche verwurzelt. Doch dieser Materialismus war vorwiegend mechanischer, statischer und unhistorischer Natur und konnte daher die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht ausreichend erklären. Die Begrenztheit dieses Materialismus zeigte sich vor allem in der Auffassung der Utopisten über das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und der Verwirklichung ihrer sozialen Ideen. Die französischen Materialisten des späten 18. Jahrhunderts verteidigten die Ansicht, der Mensch sei ein Produkt seiner sozialen Umgebung. Sowohl seine Tugenden wie seine Laster entsprössen dieser objektiven Quelle. Daher erfordere eine Veränderung des Bewusstseins eine Veränderung der sozialen Umgebung, innerhalb derer sich das menschliche Bewusstsein entwickelt habe. Doch das warf eine weitere Frage auf: Wie sollte man die soziale Umgebung verändern? Und hier fanden sich die französischen Materialisten in einem Rätsel gefangen, aus dem ihre Philosophie keinen Ausweg bot. Der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung; doch die Umgebung war ihrer Ansicht nach das Produkt... der öffentlichen Meinung! Wohin führte diese Schlussfolgerung die Materialisten des 18. Jahrhunderts? Wenn der Mensch das Produkt der sozialen Umgebung ist, sollte daraus folgen, dass auch die öffentliche Meinung ein Produkt dieser Umgebung sei. Doch die Materialisten drehten das Argument um und machten aus der sozialen Umgebung ein Produkt der öffentlichen Meinung! So endeten die französischen Philosophen - ungeachtet der materialistischen Grundlagen ihrer Erkenntnistheorie - bei der idealistischen Folgerung, Veränderungen der sozialen Umgebung beruhten primär auf Veränderungen im Denken, oder, wie die französischen Materialisten es gerne darstellten, der "menschlichen Natur".

Im Rahmen des französischen Materialismus konnte kein Ausweg aus dem Zirkelschluss "soziale Umgebung - öffentliche Meinung" gefunden werden. Eine Lösung hing von der Entdeckung objektiver Kräfte ab, die unabhängig von der "öffentlichen Meinung" waren und die sowohl die soziale Umgebung bestimmten, als auch Inhalt und Ausrichtung des sozialen Bewusstseins formten. Die Entdeckung solcher objektiver Kräfte war die außerordentliche Errungenschaft der materialistischen Geschichtsauffassung, wie Marx und Engels sie erarbeiteten.

Was hat all dies mit deinem Dokument zu tun, Genosse Brenner? Indem du für die Wiederbelebung des Utopismus plädierst, reproduzierst du mehr oder weniger den theoretischen Zirkelschluss, an dem die Materialisten des 18. Jahrhunderts krankten. Doch während ihre Irrtümer den Charme von Ursprünglichkeit und Genialität besaßen, erscheinen die deinigen 250 Jahre später einfach närrisch. "Der zentrale Punkt, den ich mache," schreibst du, "ist der, dass die Utopie gerade deshalb so wichtig ist, weil das Proletariat die einzig nennenswerte revolutionäre Kraft der Geschichte ist: Das Klassenbewusstsein wird niemals neu belebt werden, bevor der Sozialismus wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal geworden ist, zum Brennpunkt der Hoffnungen und Träume der breiten Massen von Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen." (Hervorhebung hinzugefügt)

Untersuchen wir dieses Argument mit der verdienten Aufmerksamkeit: "Das Klassenbewusstsein wird niemals wiederbelebt werden, bevor der Sozialismus wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal geworden ist." Doch der Sozialismus kann sich nur "zum Brennpunkt der Hoffnungen und Träume der breiten Massen von Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen" entwickeln, wenn bereits eine kolossale Entwicklung des Klassenbewusstseins stattgefunden hat. Auf ihren nackten Kern zurückgeführt macht deine Formel die Wiederbelebung des Klassenbewusstseins von der Wiederbelebung von Idealen abhängig, das heißt von einem Aspekt oder Bestandteil des Klassenbewusstseins. Du hättest ebenso gut schreiben können: "Der Sozialismus (als ein besonders fortgeschrittener Ausdruck von Klassenbewusstsein) wird niemals neu belebt werden, bevor der Sozialismus wieder zu einem großen gesellschaftlichen Ideal geworden ist." Eine reine Tautologie. Du hast keine Antwort auf die offensichtliche Frage: Wie soll der Sozialismus wieder "zu einem großen gesellschaftlichen Ideal" werden? Gibt es objektive, vom Bewusstsein unabhängige Umstände, die einen sozioökonomischen Anstoß zu dieser Entwicklung geben? Bei all deinen Einwänden gegen den mechanischen Materialismus reproduzierst du die grundlegenden Mängel eben dieser Denkweise.

Der mechanische Charakter des Materialismus des 18. Jahrhunderts, der unvermeidlich zu einem Rückfall in idealistische Auffassungen über die Entwicklung des sozialen Bewusstseins führte, war historisch bedingt - durch den damals gegebenen gesellschaftlich-wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstand. Weder der industrielle Kapitalismus noch die Arbeiterklasse waren soweit herangereift, dass man hätte erkennen können, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und der sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Beziehungen die wirkliche, objektive Grundlage des gesellschaftlichen Bewusstseins ausmachen. Eben weil die historischen Voraussetzungen noch nicht bestanden, um die Verbindung zwischen gesellschaftlichem Bewusstsein und objektiver Entwicklung sozioökonomischer Kräfte herzustellen, nahm das sozialistische Denken einen utopischen Charakter an. Und weil die Utopisten nicht in der Lage waren, die objektive Quelle der Veränderungen des Bewusstseins aufzudecken, konnten sie sich den Prozess der Bewusstseinsveränderung nur in Form der Erziehung durch aufgeklärte Individuen vorstellen.

In den 1840er Jahren jedoch hatte in England, Frankreich und Deutschland bereits eine beträchtliche Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse stattgefunden. Es wurde nun möglich, die objektiven Kräfte zu erkennen, die relativ unabhängig vom Denken der Individuen wirkten, dramatische Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein hervorriefen und gewaltige Ausbrüche offener Klassenkonflikte auslösten. Angesichts dieser Entwicklungen nahmen Auffassungen, die grundlegende Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins vom pädagogischen Wirken vereinzelter, fortschrittlicher Denker abhängig machten, einen zunehmend offen reaktionären Charakter an. In Deutschland wurden solche Auffassungen von einer Strömung vertreten, die unter dem Namen "Kritische Kritik" bekannt wurde und deren wichtigster Vertreter Bruno Bauer war. In seiner Analyse dieser Richtung schrieb Plechanow:

"Die Ansichten regieren die Welt", so sprachen die französischen Aufklärer. Ebenso sprachen, wie wir sehen, auch die Gebrüder Bauer, die sich gegen Hegels Idealismus erhoben hatten. Wenn aber die Ansichten die Welt regieren, so sind die Haupttriebkräfte der Geschichte jene Menschen, deren Denken die alten Ansichten kritisiert und neue schafft. So dachten die Gebrüder Bauer auch wirklich. Das Wesen des historischen Prozesses bestand für sie in einer Überarbeitung des vorhandenen Vorrats an Ansichten und der dadurch bedingten Formen des Gemeinschaftslebens durch den "kritischen Geist"...

Sobald der "kritisch denkende" Mensch sich der erste Baumeister, der Schöpfer der Geschichte dünkt, erhebt er sich und seinesgleichen zu einer besonderen, höheren Spielart des menschlichen Geschlechts. Dieser höheren Spielart steht die Masse gegenüber, der das kritische Denken fremd ist und die sich deshalb nur für die Rolle des Tons in den schöpferischen Händen der "kritisch denkenden" Persönlichkeiten eignet; den " Helden " steht die " Menge " gegenüber. [G.W. Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1956, S. 136]

Wird fortgesetzt

13 Hier einige typische Passagen: "Wenn wir daher annehmen, die Biologie liefere einen Antrieb zu genitalem Sex, dann müssen wir auch annehmen, sie liefere einen Antrieb zum Oralsex - der natürlich eine Art von Sex ist, von der beide Geschlechter Befriedigung erlangen können. Und wenn wir schon dabei sind - indem sie die Libido auf den Penis lenkt, zwingt die Biologie nicht automatisch auch den Penis, Befriedigung in der Vagina zu suchen: Im Gegenteil, der Mund oder der Anus - wiederum beider Geschlechter - ist ebenso geeignet, von der Masturbation ganz zu schweigen." Oder: "Mit Sicherheit ist nichts Reifes oder voll Entwickeltes an einer genitalen Sexualität, in der der Geschlechtsakt lediglich darin besteht, dass ein Mann auf eine Frau steigt und seinen Penis in ihre Vagina stößt, bis er zur Ejakulation gelangt; im Gegenteil, diese Verhaltensweise ist ganz klar ein Zeichen extremer Unterdrückung, einer Beschränkung der Sexualität auf eine mechanische, unmenschliche Kälte." [zurück]

14 Eine umfassende Sammlung der programmatischen Dokumente der Vierten Internationalen und ihrer Sektionen (zurückreichend bis 1938) würde Dutzende von Bänden füllen. Um der Kürze willen werde ich mich auf ein Beispiel unserer programmatischen Standpunkte beschränken. Es ist dem Bericht entnommen, den ich im Juni 1995 gab und in dem ich die Umwandlung der Workers League in die Socialist Equality Party vorschlug:

Das Ziel der Partei sollte klar in ihrem Namen genannt werden, und zwar in einer Weise, dass die Arbeiter es sowohl verstehen, als auch sich mit ihm identifizieren können. Darüber sollte natürlich diskutiert werden, und es sollten Alternativen vorgeschlagen werden. Aber ich schlage vor, dass wir an diesem Punkt mit den Vorbereitungen beginnen, die Workers League in die Socialist Equality Party umzuwandeln.

Wenn wir diese Partei der Arbeiterklasse vorstellen, müssen wir erklären, dass ihr Ziel in der Schaffung einer Arbeiterregierung besteht: Und damit meinen wir eine Regierung für die Arbeiter, von Arbeitern und durch die Arbeiter. Eine solche Regierung wird die politische Macht, die sie wenn möglich mit demokratischen Mitteln erringen will, dazu benutzen, das wirtschaftliche Leben im Interesse der Arbeiterklasse zu reorganisieren, die gesellschaftlich zerstörerischen Marktkräfte des Kapitalismus durch demokratisch-gesellschaftliche Planung zu überwinden und zu ersetzen, und die Produktion radikal zu reorganisieren, um die dringenden sozialen Bedürfnisse der arbeitenden Menschen zu befriedigen, und um eine radikale und sozial gerechte Umverteilung des Reichtums zugunsten der arbeitenden Bevölkerung zu erreichen und dadurch die Grundlage für den Sozialismus zu legen.

Wir werden betonen, dass diese Ziele der Socialist Equality Party nur im Bündnis mit und als integraler Teil einer bewusst internationalistischen Bewegung der Arbeiterklasse verwirklicht werden können. Es kann keine soziale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit für die amerikanischen Arbeiter geben, solange multinationale und transnationale Konzerne ihre Klassenbrüder und -Schwestern in andern Ländern unterdrücken. Es gibt außerdem keine funktionierende nationale Strategie, auf die der Klassenkampf gegründet werden kann. Die Arbeiterklasse muss der internationalen Strategie der transnationalen Konzerne konsequent und systematisch ihre eigene internationale Strategie entgegensetzen. In dieser entscheidenden Frage, die den Härtetest für ein sozialistisches Programm darstellt, kann es keinen Kompromiss geben.

In ihrem Bemühen, die Arbeiterklasse politisch zu organisieren, muss die Socialist Equality Party auf die dringenden Bedürfnisse der Massen reagieren, die aus den sozialen Bedingungen entstehen. In einer Zeit, in der das internationale Kapital eine pausenlose Offensive gegen die Arbeiterklasse führt, nehmen die sozialen Forderungen, die den grundlegenden Bedürfnissen der Arbeiterklasse entsprechen, einen revolutionären Charakter an. Schließlich hätten die alten Organisationen reformistische Forderungen nicht aufgegeben, wenn es noch möglich wäre, sie mit reformistischen Mitteln zu erreichen. Jede, auch die einfachste Forderung der Arbeiterklasse führt zu einer Konfrontation zwischen der Arbeiterklasse und dem kapitalistischen Staat.

Wir müssen die Forderungen, die wir in unser Programm aufnehmen werden, detailliert erklären. Es ist aber nicht notwendig, ein Programm zu schreiben, als ob es ein Entwurf für die sozialistische Zukunftsutopie wäre, vielmehr muss es die Arbeiterklasse mit einem verbindenden Ziel ausstatten, das mit ihren objektiven Interessen übereinstimmt. Außerdem muss es eine Saite im Bewusstsein der Massen zum Klingen bringen. Die Forderung nach sozialer Gleichheit fasst nicht nur das grundlegende Ziel der sozialistischen Bewegung zusammen. Sie belebt auch die egalitären Traditionen, die so tief in den echt demokratischen und revolutionären Traditionen der amerikanischen Arbeiter verwurzelt sind. Alle großen sozialen Kräften der amerikanischen Geschichte trugen auf ihrem Banner die Forderung nach sozialer Gleichheit geschrieben. Es ist kein Zufall, dass heute, unter den vorherrschenden Bedingungen politischer Reaktion dieses Ideal gnadenlos angegriffen wird.[zurück]

15 Die glänzendste Beschreibung der Ursprünge des Marxismus findet sich in Engels’ Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Ich werde der Versuchung widerstehen, hier den Text in seiner Gesamtheit anzuführen, und mich auf die bedeutendste Passage beschränken:

Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht - aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewusstsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewusstsein zu erklären.

Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandner Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihr Widerstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffnen ökonomischen Lage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser materialistischen Auffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die von ihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstande, deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe. Es handelte sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; dass der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und dass dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt. Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten. [Friedrich Engels, Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in Ausgewählte Werke, Band V, S. 453ff.] [zurück]

16 Karl Höchberg (1853-85) war ein wohlhabender Förderer der sozialistischen Bewegung. [zurück]

17 Wilhelm Weitling (1808-71) war einer der ersten Anführer der jungen Arbeiterbewegung im Deutschland der späten 1830er und 40er Jahre. Er vertrat eine Form von utopischem Kommunismus, die Engels als "sentimentale Liebesduselei" beschrieb. [zurück]

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