Marxismus, Geschichte und sozialistisches Bewusstsein

Teile 1-3

Die World Socialist Web Site setzt heute die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von "Marxism, History & Socialist Consciousness" von David North fort. Es handelt sich um die Antwort auf eine Kritik der Politik des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die von Alex Steiner und Frank Brenner unter dem Titel "Objektivismus oder Marxismus" verfasst wurde. Steiner und Brenner sind ehemalige Mitglieder der Workers League (der Vorgängerin der heutigen Socialist Equality Party). David North ist Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den USA und Chefredakteur der WSWS.

Die englischsprachige Originalfassung von Norths Antwort ist kürzlich bei Mehring Books in Buchform erschienen und kann online bestellt werden. 

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1. Einleitung

Liebe Genossen Steiner und Brenner,

das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hat mich gebeten, in seinem Namen eine Antwort auf euer Dokument "Objektivismus oder Marxismus" zu verfassen. Ich bedaure ein wenig, mich dieser Aufgabe annehmen zu müssen. Ungeachtet der unterschiedlichen Lebenswege, die wir während der vergangenen drei Jahrzehnte eingeschlagen haben, behalte ich doch angenehme Erinnerungen an die Zeit, in der wir gemeinsam innerhalb der Bewegung gearbeitet haben. Doch das ist sehr lange her, und eure jüngsten Dokumente unterstreichen lediglich, was während der letzten dreißig Jahre zunehmend klar aus euren verschiedenen Schriften hervortrat: Dass ihr politisch sehr weit vom Marxismus, dem politischen Erbe der trotzkistischen Bewegung und dem IKVI abgerückt seid. Diese unausweichliche politische Realität muss dem Inhalt und Ton dieser Antwort zugrunde liegen.

Euer Brief beginnt mit dem Vorwurf, das IKVI habe es versäumt, auf eure vorherigen Dokumente zu antworten, woraus ihr beunruhigende Schlussfolgerungen zieht: Das IKVI leide an einer "Abneigung gegen Kritik", die "symptomatisch für tiefere Probleme innerhalb der Bewegung" sei, "über die jedes Mitglied und jeder Unterstützer des IK besorgt sein sollte". Die Führung der Bewegung unterbinde die politische Debatte und versuche, "die Diskussion zu ersticken, um sich vor Kritik abzuschirmen". Unser angebliches Unvermögen, auf eure Dokumente zu antworten, unterstreiche, "zu welch einer fremdartigen Praxis die echt kritische Debatte innerhalb der Bewegung geworden" sei.

Eure Schilderung der Lage muss bei einem uninformierten Beobachter den Eindruck einer bedrängten oppositionellen Tendenz in einer diktatorischen politischen Partei erwecken, die gegen die Unterdrückung ihrer demokratischen Rechte durch ein bürokratisches Parteiregime und um Gehör bei der Mitgliedschaft kämpft. Wie ihr beide wisst, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Keiner von euch beiden ist Mitglied der Socialist Equality Party (SEP). Seit knapp 28 Jahren steht ihr außerhalb der Bewegung.[1] Das will etwas heißen. Ihr bezieht euch auf eure "lange Geschichte mit der Bewegung" - eine bewusst zweideutige Beschreibung. Es gibt einen Unterschied zwischen "mit" und "in". Den größten Teil eures Erwachsenenlebens seid ihr nicht Mitglieder der Partei gewesen. Die bloße Tatsache, dass ihr freundschaftliche Beziehungen zur Bewegung aufrechterhalten habt, verpflichtet uns nicht, auf eure Dokumente so zu antworten, wie wir es mit solchen von Mitgliedern der SEP oder anderer Sektionen des IKVI tun würden.

Niemand im IKVI hält euch davon ab, die Politik oder das Programm unserer Bewegung zu kritisieren oder eure Schriften auf eurer eigenen Website zu veröffentlichen, wo jedermann sie lesen kann (soweit ihr gewillt seid, eure Ablehnung des Internets als vollberechtigtes Mittel der politischen Kommunikation zu mäßigen). Ihr seid frei, die Unterstützung Gleichgesinnter zu gewinnen und öffentlich für eure Ansichten zu werben. Das IKVI und die SEP ihrerseits haben das politische Recht, auf eure Dokumente zu antworten oder nicht zu antworten, wie wir es für richtig halten. Wir sind nicht dafür verantwortlich, euch ein Forum für eine Perspektive zu bieten, die sich gegen die Traditionen und das Programm der Vierten Internationale richtet. Wir legen diese Antwort auf eure öffentliche Kritik nicht vor, weil wir dazu "rechtmäßig" verpflichtet wären, sondern um die tiefen und grundlegenden Gegensatz zwischen dem marxistischen Sozialismus und dem Pseudoutopismus - einer Form kleinbürgerlicher Ideologie - zu verdeutlichen, die ihr, Genossen Steiner und Brenner, vertretet.

2. Das Internationale Komitee und die World Socialist Web Site

Obwohl ihr seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr Mitglieder unserer politischen Bewegung seid und keinerlei Kenntnis von deren Innenleben habt, erhebt ihr weitreichende Beschuldigungen gegen das Internationale Komitee. Ihr behauptet, es gebe "einen erschreckenden Mangel organisierter theoretischer oder politischer Diskussion innerhalb der Bewegung". Worauf gründet sich diese Behauptung? Abgesehen von eurem Missfallen über die Behandlung, die wir euren Dokumenten haben zuteil werden lassen - wie hat sich dieser theoretische und politische Niedergang in unserer politischen Linie niedergeschlagen? Diese Frage sprecht ihr nicht an. Selbst wenn man die Möglichkeit einräumen würde, das IKVI habe euren Dokumenten nicht die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt, wäre dieser Irrtum kein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Ihr müsstet immer noch nachweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen euren Beschwerden und ernsthafteren politischen Problemen gibt, die in Verbindung zu Weltentwicklungen außerhalb eurer selbst stehen. Es reicht nicht aus, eine solche Verbindung zu behaupten, ihr müsst sie nachweisen. In der Geschichte der marxistischen Bewegung wurde dies bislang mittels einer sorgfältigen und erschöpfenden Analyse der politischen Linie der betreffenden Organisation getan, die Gegenstand der Kritik ist.

Wärt ihr auf diese theoretisch prinzipielle Weise vorgegangen, es hätte nicht an Material gemangelt, auf das ihr euch hättet beziehen können. In den vergangenen zwanzig Jahren haben kolossale Veränderungen stattgefunden: Auf dem Gebiet der Technologie, der Struktur des Weltkapitalismus, der Beziehung des Nationalstaates zur globalen Wirtschaft und - nicht zu vergessen - der politischen Landkarte der Welt. Vor zwanzig Jahren gedruckte Weltkarten sind heute nutzlos. All diese miteinander zusammenhängenden Prozesse technologischer, wirtschaftlicher und politischer Art hatten weitreichenden Einfluss auf den internationalen Klassenkampf. Die Antworten des Internationalen Komitees auf diese historischen Veränderungen würden leicht Dutzende von Bänden füllen.

Doch nirgendwo in euerm Dokument findet sich eine Bezugnahme auf die politische Linie des IKVI, geschweige denn eine Analyse derselben. Man findet noch nicht einmal die Worte "Irakkrieg", "Bush-Administration", "11. September", "Afghanistan", "Iran", "Terrorismus" oder "Globalisierung". Das sind keine Flüchtigkeitsfehler. Ihr habt schlicht kein Interesse an politischer Analyse und Perspektiven - zumindest nicht in dem Sinne, wie sie in der Geschichte der Vierten Internationalen bisher verstanden worden sind. Im Gegenteil: Ihr seid der Meinung, die Konzentration des Internationalen Komitees auf marxistische politische Analysen und Kommentare sei selbst ein fundamentaler Fehler. Die Auffassung, dass solche, auf der Grundlage des historischen Materialismus erstellten Analysen und Kommentare grundlegend oder wichtig für die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins sind, weist ihr entschieden zurück. Daher rührt eure Feindschaft gegen die World Socialist Web Site, die ihr als wichtigsten Ausdruck all dessen anseht, was im Internationalen Komitee falsch läuft.

Ihr schreibt: "Im Grunde hat das Internationale Komitee aufgehört zu funktionieren". Worauf gründet sich diese Annahme? "Man kann sich kaum mehr an die letzte Gelegenheit erinnern, bei der das Internationale Komitee ein Treffen in seinem eigenen Namen abgehalten hat. Schon seit Jahren werden alle richtungsweisenden Stellungnahmen der Bewegung als Stellungnahmen der WSWS veröffentlicht, und jetzt wird die Versammlung in Australien, die eindeutig eine internationale Konferenz der Bewegung war, nicht als Treffen einer revolutionären Partei dargestellt, sondern als Redaktionskonferenz einer Website."

Damit nicht genug. Ihr fragt: "Gab es über die Umwandlung des IK in die WSWS jemals eine Diskussion oder Abstimmung auf einer Parteikonferenz?" Und weiter: "Wo ist das Dokument, das der Arbeiterklasse öffentlich die Gründe für eine so wichtige Veränderung erklärt? Wie können die wiederholten Proklamationen des Internationalismus mit dem Einmotten des organisatorischen Ausdrucks des revolutionären Internationalismus in Einklang gebracht werden?"

Ihr sprecht von der "Umwandlung des IK in die WSWS ", als wäre die Gründung der letzteren irgendwie unrechtmäßig oder unter der Hand vonstatten gegangen. In dieser Hinsicht weist euer Angriff enge Parallelen zur Reaktion der Spartakisten auf die World Socialist Web Site auf. [2] Ihr behauptet aber nirgends, die Gründung der WSWS habe eine Veränderung der politischen Linie des Internationalen Komitees beinhaltet. Die World Socialist Web Site wird - wie ihre Kopfzeile ausdrücklich erklärt - vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale herausgegeben. Ihr mögt vielleicht Zweifel über die politische Verbindung zwischen dem IKVI und der World Socialist Web Site hegen, für Tausende ihrer täglichen Leser ist sie dagegen kein Geheimnis. Hinzu kommt, dass die theoretische und programmatische Identität einer revolutionären Tendenz seit den Tagen der Neuen Rheinischen Zeitung gleichbedeutend mit dem Namen ihrer Publikation war. Das gilt für die Neue Zeit der revolutionären deutschen Sozialdemokratie, die Iskra, Wperiod und Prawda der Leninisten, das Bulletin der antistalinistischen Opposition in der Sowjetunion, den Militant und später den Socialist Appeal der amerikanischen Trotzkisten der 1920er und 30er Jahre, den Newsletter der britischen Trotzkisten, die in der Labour Party arbeiteten, und selbst für das Bulletin der Workers League. Wir haben keinen Anlass zur Sorge, weil die World Socialist Web Site von Tausenden von Lesern als authentische Stimme des sozialistischen Internationalismus betrachtet wird.

Eure Behauptung, die WSWS sei irgendwie hinter dem Rücken des IKVI eingerichtet worden, ist offensichtlich absurd. Es gab eine öffentliche Erklärung über die Gründung der World Socialist Web Site, die ihr immer noch aufrufen könnt, falls ihr Interesse habt.[3] Und da ihr schon danach fragt: Vor der Gründung der WSWS gab es tatsächlich eine intensive Diskussion in jeder Sektion des IKVI, die sich über fast ein Jahr hinzog. Wie anders wäre es möglich gewesen, während der vergangenen achteinhalb Jahre den hohen Grad aktiver Unterstützung und Teilnahme durch den Kader der Partei sicherzustellen? Seit der Gründung der WSWS im Januar 1998 sind mehr als 18.000 Artikel von einer internationalen Redaktion veröffentlicht worden, die die kollektive Arbeit eines stetig wachsenden Kaders marxistischer Autoren leitet, die auf der Grundlage der Prinzipien, der Geschichte und der theoretischen Perspektiven des Internationalen Komitees gewonnen wurden. Theoretisch wie praktisch repräsentiert die WSWS damit einen Meilenstein in der Entwicklung des revolutionären Internationalismus. Dass ihr es fertig bringt, vom "Einmotten des organisatorischen Ausdrucks des revolutionären Internationalismus" zu sprechen, während das IKVI eine tägliche Website in 13 Sprachen herausgibt, ist ein Ausdruck eurer politischen Blindheit, verstärkt durch persönlichen Subjektivismus. Die WSWS erscheint in englisch, französisch, deutsch, italienisch, spanisch, portugiesisch, russisch, polnisch, serbokroatisch, türkisch, singhalesisch, tamilisch und indonesisch. Wenn das in euren Augen "im Grunde" das Ende des Internationalen Komitees bedeutet, kann man nur fragen, was ihr dann für echte internationale Arbeit haltet. Vor drei Jahrzehnten, als ihr noch Mitglieder der Bewegung wart, bestand das Innenleben des IKVI aus nicht viel mehr als gelegentlichen Besuchen von Repräsentanten der Sektionen oder befreundeten Organisationen in den Büros der Workers Revolutionary Party in London. Cliff Slaughter, dem Namen nach Sekretär des IKVI, hielt keinerlei regelmäßigen Kontakt zum internationalen Kader. Es gab keine systematische Diskussion, geschweige denn Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Perspektiven des Internationalen Komitees. Insofern eure Auffassung des Internationalismus in der Zeit der extremen Degeneration von Healys Organisation geprägt wurde, ist es für euch ganz einfach unbegreiflich, was die Arbeit in einer Bewegung bedeutet, deren tägliche politische Aktivität die allerengste internationale Zusammenarbeit mit sich bringt.

3. Die internationale Redaktion und die Perspektiven des IKVI

Im vergangenen Jahr unternahm das Internationale Komitee zwei theoretisch und politisch bedeutsame Projekte: Zuerst die Vortragsreihe mit dem Thema "Marxismus, die Oktoberrevolution und die historischen Grundlagen der Vierten Internationale", die vom 14. bis 20. August 2005 in Ann Arbor, Michigan gehalten wurde; und zum zweiten das Treffen der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site in Sydney vom 22. bis 27. Januar 2006. Eure Reaktion auf diese beiden Ereignisse ist eine schonungslose Selbstdarstellung eurer Preisgabe des Marxismus und eurer Feindschaft gegen die politischen Ziele und Traditionen der trotzkistischen Bewegung.

Wir sind nicht überrascht, dass ihr verärgert auf die Berichte und Vorträge reagiert, die bei diesen Treffen gehalten wurden. Trotz eures offiziellen "Protests" gegen das angebliche Unvermögen des Internationalen Komitees, auf eure Dokumente zu antworten, ist euch nicht entgangen, dass die auf diesen Treffen erarbeiteten theoretischen Auffassungen und Perspektiven eine unmissverständliche Zurückweisung eurer Kampagne darstellen, den verwirrten und antimarxistischen Pseudoutopismus Wilhelm Reichs, Ernst Blochs und Herbert Marcuses in die Vierte Internationale einzuschleusen, eures Versuchs, die theoretischen und programmatischen Grundlagen sowie die Klassenorientierung der trotzkistischen Bewegung grundlegend zu verändern. Das meint ihr, wenn ihr schreibt, "der Inhalt der Vorträge und Berichte, die von diesen Versammlung veröffentlicht wurden", signalisierten keine "neue Offenheit für eine kritische Debatte".

Ihr bemerkt über die Berichte, die auf dem Redaktionstreffen gegeben wurden, sie "sind mehr ein vorgetäuschtes als ein wirkliches Perspektivdokument: sie sind weniger eine Anleitung zum revolutionären Handeln, als eine Version von Foreign Affairs mit marxistischer Einfärbung. Sie sind in der Tat Berichte einer Redaktion - d.h. Perspektiven für mehr Journalismus. Die Frage, was zu tun ist, taucht in ihnen kaum auf, abgesehen von den rituellen Schlusserklärungen über die Notwendigkeit, die revolutionäre Partei aufzubauen. Anders ausgedrückt, das Wesentliche einer revolutionären Perspektive fehlt in diesen Berichten, doch genau darüber weigert sich das IK zu diskutieren."

Das ist auch schon alles, was ihr über die auf der Redaktionskonferenz gehaltenen Vorträge zu sagen habt. Keine Analyse des tatsächlich vorgestellten Materials. Eure Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt der Vorträge - die in ihrer Gesamtheit die umfassendste Untersuchung der weltpolitischen Situation darstellen, die seit der Gründung des Internationalen Komitees im Jahre 1953 jemals auf einem seiner Treffen vorgelegt wurde - ist der Schlüssel zum Verständnis eurer eigenen politischen Ziele und eures Klassenstandpunktes.

Betrachten wir den Inhalt des internationalen Redaktionstreffens, den ihr so verächtlich als "vorgetäuschtes Perspektivdokument" verunglimpft. In Wirklichkeit weist ihr die Bemühungen des Internationalen Komitees zurück, auf der Grundlage einer umfassenden und schlüssigen Analyse der politischen und wirtschaftlichen Weltsituation die objektiven Voraussetzungen für die Aussicht auf eine sozialistische Revolution nachzuweisen. Das Vorgehen der internationalen Redaktion bei der Entwicklung internationaler revolutionärer Perspektiven wird am besten verständlich, wenn ich einen längeren Abschnitt aus meinem einleitenden Bericht zitiere:

Jeder ernsthafte Versuch einer politischen Prognose und einer Einschätzung des Potenzials, das die bestehende politische Situation birgt, muss seinen Ausgangspunkt in einem präzisen und akkuraten Verständnis der historischen Entwicklung des globalen kapitalistischen Systems haben.

Die Analyse der historischen Entwicklung des Kapitalismus muss die folgende wesentliche Frage beantworten: Befindet sich der Kapitalismus als Weltwirtschaftssystem in einer Aufwärtsbewegung, die ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat, oder befindet er sich im Niedergang und steht vielleicht sogar kurz vor dem Abgrund?

Die Antwort, die wir auf diese Frage geben, hat notgedrungen äußerst weit reichende Konsequenzen, und zwar nicht nur in Hinblick auf die Bestimmung unserer praktischen Aufgaben, sondern ebenso für die gesamte theoretische und programmatische Orientierung unserer Bewegung. Nicht der subjektive Wunsch nach sozialer Revolution bestimmt unsere Analyse der historischen Bedingungen des globalen kapitalistischen Systems. Vielmehr muss sich die revolutionäre Perspektive auf eine wissenschaftlich begründete Einschätzung der objektiven Tendenzen in der sozioökonomischen Entwicklung gründen. Getrennt von den notwendigen objektiven sozioökonomischen Voraussetzungen ist eine revolutionäre Perspektive nichts weiter als ein utopisches Konstrukt.

Wie verstehen wir demnach die gegenwärtige Phase der historischen Entwicklung des Kapitalismus? Betrachten wir zwei Konzeptionen, die im unversöhnlichen Gegensatz zueinander stehen. Die marxistische Position lautet, wie wir wissen, dass sich das kapitalistische Weltsystem im Stadium der fortgeschrittenen Krise befindet - dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914, auf den 1917 die Russische Revolution folgte, einen grundlegenden Wendpunkt in der Weltgeschichte darstellte. Die Erschütterungen in den drei Jahrzehnten zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 zeigten, dass der Kapitalismus keine fortschrittliche historische Aufgabe mehr zu erfüllen hatte und dass die objektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Umwandlung der Weltwirtschaft gegeben waren. Dass der Kapitalismus die Krise jener Jahrzehnte überlebte, war zu einem sehr großen Teil das Ergebnis des Scheiterns und des Verrats von Seiten der Führung der Massenparteien und -organisationen der Arbeiterklasse, allen voran der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften. Ohne ihren Verrat wäre die erneute Stabilisierung des Weltkapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg - die vor allem auf den damals noch beträchtlichen Ressourcen der Vereinigten Staaten beruhte - nicht möglich gewesen. Tatsächlich existierte trotz der Nachkriegsstabilisierung weiterhin eine weltweite antikapitalistische und antiimperialistische Opposition der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen in den ehemaligen Kolonialgebieten, doch ihr revolutionäres Potenzial wurde von den alten bürokratischen Organisationen unterdrückt.

Schließlich machten die Verrätereien und die Niederlagen in den Massenkämpfen der 1960-er und 1970-er Jahre den Weg für eine kapitalistische Gegenoffensive frei. Die wirtschaftlichen Prozesse und technologischen Veränderungen, die die beispiellose globale Integration des kapitalistischen Systems möglich machten, zerstörten die alten Arbeiterorganisationen, die sich auf eine nationalen Perspektive und Politik stützten. Der Zusammenbruch des stalinistischen Systems in der Sowjetunion und in Osteuropa - das sich auf ein bankrottes, antimarxistisches Programm des nationalistischen Pseudosozialismus stützte - war das Ergebnis dieses Prozesses.

Trotz der schnellen territorialen Ausdehnung des Kapitalismus in den 1990er Jahren ist die historische Krise weiterhin vorhanden und hat sich noch verschärft. Die Prozesse der Globalisierung, die sich für die alten Arbeiterorganisationen als tödlich erwiesen, ließen die Widersprüche zwischen dem global integriertem Charakter des Kapitalismus als Weltwirtschaftssystem und der Nationalstaatenstruktur, in der der Kapitalismus historisch entstanden ist und der er nicht entkommen kann, in bislang ungekanntem Maße steigen. Der seinem Wesen nach unlösbare Charakter dieses Widerspruchs - oder zumindest seine "Unlösbarkeit" auf einer fortschrittlichen Basis - drückt sich täglich in der wachsenden Unordnung und Gewalt aus, die die gegenwärtige Weltlage kennzeichnet. Eine neue Periode revolutionärer Unruhen hat begonnen. Das ist in Kürze die marxistische Analyse.

Was ist die alternative Perspektive? Betrachten wir die folgende Gegenhypothese:

Was die Marxisten, um Leo Trotzkis ausdrucksstarke Sprache zu benutzen, den "Todeskampf des Kapitalismus" nannten, war vielmehr Teil seiner gewalttätigen und lang andauernden Geburtswehen. Die verschiedenen sozialistischen und revolutionären Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts waren nicht nur verfrüht sondern vor allem utopisch. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sollte verstanden werden als die Geschichte vom Kapitalismus, der alle Hindernisse überwand, so dass schließlich der Markt als das überlegene System der Wirtschaftsorganisation triumphierte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Hinwendung Chinas zur Marktpolitik markieren die Höhepunkte dieser Entwicklung. In diesem Jahrzehnt und mit großer Wahrscheinlichkeit auch im kommenden werden wir die rasche Ausdehnung des Kapitalismus in ganz Asien erleben. Das wichtigste Element dieses Prozesses sind die Entwicklung Chinas und Indiens zu reifen und stabilen kapitalistischen Weltmächten.

Wenn diese Hypothese korrekt ist, können wir weiterhin annehmen, dass der Kapitalismus in etwa zwanzig Jahren - in Übereinstimmung mit dem Paradigma von W.W. Rostow - sein "Takeoff"-Stadium in Afrika und dem Nahen Osten erleben wird. Länder wie Nigeria, Angola, Südafrika, Ägypten, Marokko und Algerien (und/oder vielleicht auch andere) werden ein explosives Wirtschaftswachstum erfahren. Im nächsten halben Jahrhundert - vielleicht gerade rechtzeitig zum akademischen Rückblick am 200. Jahrestag der Veröffentlichung von Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Kommunistischem Manifest im Jahre 2047 (in nur 41 Jahren) - wird der globale Triumph des Kapitalismus vollendet und verewigt sein.

Bietet diese Hypothese eine realistische Grundlage, um gegenwärtige globale Prozesse zu verstehen? Wenn sie es täte, bliebe kaum etwas von der revolutionären marxistischen Perspektive übrig. Wir müssten deshalb unsere Besorgnis über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nicht aufgeben. Tatsächlich gäbe es eine Masse von Bedingungen, die Grund zur Besorgnis böten. Wir würden versuchen, ein Programm mit Minimalforderungen zu formulieren, um die Lebensbedingungen der Armen und Ausgebeuteten weltweit zu verbessern. Dies wäre jedoch zumindest teilweise ein Akt sozialer Philanthropie. Denn die ehemaligen Marxisten wären gezwungen, den utopischen Charakter des revolutionären Projekts anzuerkennen - der ihm zumindest in der absehbaren Zukunft anhaften würde. Und sie wären dazu gezwungen, ihr Verständnis der Vergangenheit einer umfassenden Revision zu unterziehen.

Doch ist diese Hypothese eines globalen Triumphes des Kapitalismus realistisch? Ist es angesichts aller vorausgegangener historischen Erfahrung vernünftig, sich eine Konstellation von Bedingungen vorzustellen, die es dem weltweiten kapitalistischen System ermöglicht, die zahlreichen potenziell explosiven Probleme zu lösen oder doch zumindest in den Griff zu bekommen, die bereits am ökonomischen oder politischen Horizont sichtbar sind, noch bevor sie die Existenz der herrschenden Weltordnung selbst bedrohen?

Halten wir es für wahrscheinlich, dass geopolitische und wirtschaftliche Konflikte zwischen den Großmächten im Rahmen des imperialistischen Systems auf der Grundlage von Verhandlungen und multilateralen Abkommen gelöst werden, bevor diese Auseinandersetzungen einen Punkt erreichen oder gar überschreiten, an dem sie die internationale Politik nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen?

Ist zu vermuten, dass Auseinandersetzung über den Zugang zu und die sichere Versorgung mit Rohstoffen, die für die wirtschaftliche Entwicklung von höchster Bedeutung sind - besonders, aber nicht ausschließlich, Öl und Erdgas - ohne einen gewalttätigen Konflikt gelöst werden können?

Werden die unzähligen Konflikte um regionalen Einfluss - wie beispielsweise zwischen China und Japan oder China und Indien um die Vorreiterrolle in Asien - ohne den Rückgriff auf Waffen zu klären sein?

Ist es wahrscheinlich, dass die Vereinigten Staaten weiterhin Defizite in Billionenhöhe anhäufen können, ohne dadurch die Weltwirtschaft in ihren Grundlagen zu destabilisieren? Und kann die Weltwirtschaft ohne bedeutende finanzielle Turbulenzen die Folgen einer größeren Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten verkraften?

Werden die Vereinigten Staaten bereit sein, ihre hegemonialen Ansprüche aufzugeben und eine gleichmäßigere Verteilung der globalen Macht unter den Staaten akzeptieren? Werden sie bereit sein, auf der Grundlage von Kompromissen und Zugeständnissen Boden an ihre wirtschaftlichen und potenziell auch militärischen Rivalen abzutreten, sei es in Europa oder in Asien?

Werden sich die Vereinigten Staaten großzügig und friedlich mit dem wachsenden Einfluss Chinas abfinden?

Und was die soziale Frage betrifft: Wird das rasante Anwachsen der sozialen Ungleichheit in ganz Nordamerika, Europa und Asien weiter anhalten, ohne bedeutende und auch gewaltsame soziale Konflikte hervorzubringen? Lässt sich aus der politischen und sozialen Geschichte der Vereinigten Staaten ableiten, dass die amerikanische Arbeiterklasse für weitere Jahre und Jahrzehnte ohne erheblichen und erbitterten Protest die anhaltende Abwärtsspirale bei den Löhnen und Lebensbedingungen hinnehmen wird?

Solche Fragen müssten beantwortet werden, bevor man zu der Schlussfolgerung gelangen kann, dass der Weltkapitalismus in ein neues Goldenes Zeitalter der Ausdehnung und Stabilität eingetreten ist.

Diejenigen, die alle oben gestellten Fragen bejahen, vernachlässigen sträflich die Lehren aus der Geschichte.

Im Laufe der kommenden Woche werden wir uns diesen Fragen widmen.

Abschließend legte ich kurz die analytische Methode dar, derer sich die Internationale Redaktion bedient:

Die Hauptaufgabe, der wir uns in der kommenden Woche widmen, besteht darin, die wichtigsten Bestandteile der sich rasch entwickelnden Krise des weltweiten kapitalistischen Systems zu umreißen und zu beschreiben.

Lenin schrieb im Jahre 1914: "Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile [...] ist das Wesen (eine der ‘Wesenheiten’, eine der grundlegenden, wenn nicht die grundlegende Besonderheit oder Seite) der Dialektik."

In Übereinstimmung mit dieser theoretischen Herangehensweise werden die Berichte, die wir hören, die Entwicklung der globalen Krise von verschiedenen Seiten und Blickwinkeln aus beleuchten.

Meinen einleitenden Bemerkungen folgten:

1. Nick Beams’ Bericht über den Zustand der kapitalistischen Weltwirtschaft, der die momentane Konjunktur in Zusammenhang mit der entscheidenden und vielschichtigen Rolle der Vereinigten Staaten während des zwanzigsten Jahrhunderts stellte.

2. James Cogans Analyse der "Konsequenzen des US- Kriegs gegen den Irak". (in englisch)

3. Barry Greys Bericht über "Die Bush-Administration und den Niedergang des Weltkapitalismus".

4. Patrick Martins Untersuchung über "Die soziale und politische Krise der USA und die Wahlkampagne der SEP 2006". (in englisch)

5. John Chans Studie über "Die Bedeutung Chinas für den Weltsozialismus".

6. Ulrich Ripperts Bericht über "Die Sackgasse des europäischen Kapitalismus und die Aufgaben der Arbeiterklasse".

7. Julie Hylands Beitrag über "New Labour und der Niedergang der britischen Demokratie".

8. Bill Van Aukens Bericht über die "Perspektiven für Lateinamerika".

9. David Walshs Einschätzung über "Künstlerische Probleme in der gegenwärtigen Situation".

10. Richard Hoffmans Analyse über "Demokratische Rechte und die Angriffe auf die Verfassungsmäßigkeit". (in englisch)

11. Wije Dijas’ Bericht über "Südasien und der politische Bankrott von bürgerlichem Nationalismus und Stalinismus". (in englisch)

12. Richard Tylers Untersuchung zu "Afrika und die Perspektive des internationalen Sozialismus". (in englisch)

13. Jean Shaouls Analyse über "Das Zionistische Projekt".

Ihr habt über keinen dieser Vorträge, die auf dem Treffen der internationalen Redaktion gehalten wurden, etwas zu sagen. Auf die Frage, die ich im Eröffnungsbericht der Konferenz gestellt habe, gebt ihr keinerlei Antwort. Ihr sagt auch nicht, ob ihr den Analysen der Referenten zustimmt oder nicht. Genosse Nick Beams gab eine verständliche Übersicht über die Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft, in der er besonders das innere Ungleichgewicht dieses Weltsystems betonte - mit all seinen weitreichenden Implikationen für die Beziehungen der Imperialisten untereinander und für den internationalen Klassenkampf. Die Ergebnisse dieser Analyse bilden in entscheidendem Maße die Grundlage der Perspektiven des IKVI. Was ist der Grund für euer Stillschweigen zu diesem Bericht? Genosse Cogans Bericht war dem derzeit bedeutendsten Einzelereignis auf internationaler Ebene gewidmet: Der amerikanischen Besetzung des Irak. Euer Dokument bezieht sich mit keinem Wort auf diesen Bericht und wirft die Frage des Kriegs überhaupt nicht auf. Ginge ich die Liste der Vorträge weiter durch, würde sich stets dieselbe Frage stellen: Warum sprecht ihr nie einen Aspekt der in diesen ausführlichen Berichten dargelegten politischen Analysen des IKVI konkret an? Euer Stillschweigen kann nicht durch bloße Gleichgültigkeit erklärt werden. Dahinter verbirgt sich eine vollkommene Zurückweisung der marxistischen Auffassung von Perspektiven, die bemüht ist, das revolutionäre Handeln auf eine möglichst korrekte und präzise Analyse der objektiven Welt zu basieren.

Für euch ist das schlichte Zeitverschwendung. Ihr glaubt nicht, dass Vorträge, wie sie auf der Redaktionskonferenz gehalten wurden, in irgendeiner Weise mit der Entwicklung dessen in Verbindung steht, was ihr für "sozialistisches Bewusstsein" haltet. Was ihr unter diesem Begriff versteht, unterscheidet sich - wie wir weiter unten im Einzelnen erklären werden - grundlegend von der Auffassung revolutionären Klassenbewusstseins, die die Werke der besten Vertreter des Marxismus inspirierte. Ihr wollt, dass sich das Internationale Komitee nicht vorrangig mit Politik und Geschichte beschäftigt, sondern mit Psychologie und Sexualität, wie sie in den Werken Wilhelm Reich und Herbert Marcuses dargestellt werden. Letztere bilden für euch die Grundlage für die Entwicklung von "sozialistischem Bewusstsein" und "sozialistischem Idealismus". Daher lässt euch die vom Internationalen Komitee geleistete Arbeit völlig gleichgültig. Sein Bemühen, ausgehend vom Studium der historisch gewachsenen sozio-ökonomischen und politischen Widersprüche des Kapitalismus als Weltsystem eine internationale revolutionäre Perspektive zu erarbeiten, wurzelt in einer marxistischen politischen Tradition, die euch völlig fremd geworden ist.

Wird fortgesetzt

[1] Genosse Steiner hat die Bewegung im September 1978 verlassen, Genosse Brenner im Januar 1979. [zurück]

[2] Die Robertson-Gruppe schrieb im März 1998: "Die neue Website der SEP, die sich vermittels der nebulösen ‚großartigen Gedanken’ von David North rasch ausdehnt, ist die letzte auf einem wachsenden Müllhaufen virtueller Phantasiewelten, in denen selbstdarstellerische, kleine graue Männer mit gigantischen Egos und dubioser Politik Revolution spielen können... Dass sie vorgeben, das Abladen einiger Dokumente im Cyberspace sei ein Ersatz für den harten Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei - in der wirklichen Welt und unter wirklichen Menschen -, untermauert den abgrundtiefen Zynismus und Humbug, für den die Northisten berüchtigt sind." [zurück]

[3] http://www.wsws.org/en/special/about.html [zurück]

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