Nachdem sie tagelang geschwiegen oder sich nur sehr zurückhaltend zur Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) geäußert hatten, versuchten sich führende Regierungsvertreter am Wochenende wenig überzeugend als Vorkämpfer gegen rechts und neonazistische Terrornetzwerke darzustellen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte am Samstag auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund, dass der Mord an Lübcke „eine große Aufforderung“ sei, „auf allen Ebenen noch einmal zu schauen, wo es rechtsextreme Tendenzen oder Verwebungen geben könnte“. Man müsse Rechtsextremismus „in den Anfängen bekämpfen, ohne jedes Tabu. Sonst haben wir einen vollkommenen Verlust der Glaubwürdigkeit.“ Der Staat sei „hier deshalb auf allen Ebenen gefordert, und die Bundesregierung nimmt das sehr, sehr ernst“.
Innenminister Horst Seehofer (CSU), der vor wenigen Tagen noch behauptet hatte, dass es im Mordfall Lübcke bisher keine Hinweise auf Komplizen oder eine rechtsterroristische Organisation gebe, erklärte gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, der Rechtsextremismus sei „zu einer echten Gefahr geworden“. Sollten sich die jüngsten Annahmen – es gibt deutliche Hinweise darauf, dass der tatverdächtige Neonazi Stephan Ernst Teil eines Terrornetzwerks mit engen Verbindungen zum Staat ist – bestätigen, sei „die Entwicklung brandgefährlich“. Er wolle „dem Rechtsstaat“ deshalb „mehr Biss geben“ und „alle Register ziehen, um die Sicherheit zu erhöhen“.
Außenminister Heiko Maas (SPD) attestierte in einem Kommentar für die Bild-Zeitung: „Deutschland hat ein Terrorproblem. Wir haben über 12.000 gewaltorientierte Rechtsextreme in unserem Land. 450 von ihnen konnten untertauchen, obwohl sie mit Haftbefehl gesucht werden.“ Man müsse „das Problem bei der Wurzel packen.“ Weltweit warnten „Extremismusforscher davor, dass Hass und Hetze die Hemmschwelle für Gewalt sinken lassen. Dass auf verrohte Sprache irgendwann rohe Taten folgen.“ Seinen Kommentar beendete Maas mit dem Aufruf: „Wehren wir den Anfängen – gemeinsam, jeden Tag und überall.“
Aus dem Munde des sozialdemokratischen Außenministers, der unablässig für die Aufrüstung der Bundeswehr und eine stärkere außen- und militärpolitische Rolle Deutschlands in der Welt trommelt und sich nach den Massenprotesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 noch für ein „Rock gegen Links“-Konzert ausgesprochen hatte, klingen derartige Worte wie blanker Hohn. Das gleiche gilt für Seehofer und alle Vertreter der Großen Koalition. Der Innenminister hatte nach den rechtsradikalen Protesten in Chemnitz im vergangenen Sommer provokativ verkündet, er wäre selbst mitmarschiert, wenn er nicht Minister wäre. Gleichzeitig erklärte er im Stile der AfD: „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land.“
Mit ihren heuchlerischen Lippenbekenntnissen gegen rechts verfolgt die herrschende Klasse ein durchschaubares Ziel. Nachdem der Mord an Lübcke unter Arbeitern und Jugendlichen in Deutschland und international Entsetzen ausgelöst hat und auf enorme Opposition stößt, versucht sie, ihre eigene Verantwortung für den rechten Terror zu vertuschen. Doch es ist eine Tatsache, dass sie die extreme Rechte bewusst aufgebaut und politisch gefördert hat. Dazu gehören die systematische Verharmlosung rechtsextremer Gewalt, der gezielte Aufbau der AfD, die Beschönigung der Verbrechen des deutschen Imperialismus an den Universitäten und die Duldung und Förderung rechtsextremer Terrornetzwerke durch Teile des Sicherheitsapparats.
Besonders deutlich zeigt sich die reaktionäre Rolle der Bundesregierung im Fall des rechtsradikalen Humboldt-Professors Jörg Baberowski. Obwohl dieser für seine Verharmlosung des Nationalsozialismus und seine Flüchtlingshetze im Stil der AfD berüchtigt ist, hat sich die Bundesregierung nur wenige Tage vor dem Mord an Lübcke in einem offiziellen Statement hinter den Professor gestellt, das jede Kritik an seinen rechtsextremen Positionen als Angriff auf die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ bezeichnet.
Die World Socialist Web Site hat bereits in früheren Artikeln bemerkt, dass zu Baberowskis rechtsradikalem Umfeld auch die frühere CDU-Politikerin Erika Steinbach gehört, die inzwischen die Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD leitet. Steinbach hat noch in diesem Frühjahr mehrere Angriffe auf Lübcke gepostet, weil sich dieser im Oktober 2015 für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen hatte, und offene Morddrohungen gegen ihn lange nicht von den Kommentarspalten ihres Kontos gelöscht. In ihrer Hetzkampagne stützte sich Steinbach auch auf Baberowski und verbreitete dessen Tiraden gegen Flüchtlinge und „Linksextremisten“ auf Facebook und Twitter.
Der Mord an Lübcke hat alle Warnungen der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) und der WSWS bestätigt. Wir hatten bereits vor fünf Jahren, nachdem Baberowski im Spiegel behauptet hatte, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen, und die Bundesregierung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 das Ende der außenpolitischen Zurückhaltung verkündet hatte, die objektiven Triebkräfte der Rückkehr des deutschen Militarismus und Faschismus analysiert und gewarnt: „Die Propaganda der Nachkriegsjahrzehnte – Deutschland habe aus den ungeheuren Verbrechen der Nazis gelernt, sei ‚im Westen angekommen‘, habe zu einer friedlichen Außenpolitik gefunden und sich zu einer stabilen Demokratie entwickelt – entpuppt sich als Mythos. Der deutsche Imperialismus zeigt sich wieder so, wie er historisch entstanden ist, mit all seiner Aggressivität nach innen und nach außen.“
Unter Bedingungen der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren, akuter Kriegsgefahr im Nahen und Mittleren Osten und wachsender Konflikte zwischen den Großmächten kehrt die herrschende Klasse immer offener und aggressiver zu ihren alten autoritären und faschistischen Traditionen zurück, um die Politik des Militarismus, der inneren und äußeren Aufrüstung und des Sozialkahlschlags gegen den wachsenden Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen. Da sie für ihre reaktionäre Politik keine Unterstützung hat, braucht sie die Methoden des Terrors. Es ist klar, dass sie auf den Lübcke-Mord mit einer weiteren Rechtswende reagieren wird.
So plädierte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, der von allen etablierten Parteien unterstützt wird, jüngst im Spiegel „für eine erweiterte Toleranz in Richtung rechts“ und bestätigte seine pastorale Umarmung der AfD danach in mehreren Interviews. Eine aktuelle Denkschrift der CDU in Sachsen-Anhalt spricht sich offen für eine mögliche Koalitionsregierung mit der AfD aus. Und dies auf der Grundlage eines explizit rechtsextremen Programms. Es müsse „wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen, Sicherheit vor sozialem Absturz mit Sicherheit vor Kriminalität. Der Sehnsucht nach Heimat und nationaler Identität ist durch eine klare Abgrenzung gegen multikulturelle Strömungen linker Parteien und Gruppen entgegenzutreten“, heißt es darin.
Ähnlich wie in der Weimarer Republik nach den Morden an Zentrumsführer Matthias Erzberger, dem liberalen Außenminister Walter Rathenau und anderen Politikern durch rechtsradikale Terrororganisationen wird die Aufrüstung des von Rechten durchsetzen Staatsapparats vor allem dafür genutzt werden, um das Vorgehen gegen „links“ zu verschärfen. Seehofers Ankündigung, sein Ressort werde „die Möglichkeiten ernsthaft prüfen“, ob Demokratiefeinden die Grundrechte entzogen werden könnten, atmet den Geist von 1933.
Dass für die Bourgeoisie auch heute die „Demokratiefeinde“ nicht rechts, sondern links stehen, zeigt der aktuelle Verfassungsschutzbericht der Großen Koalition. Während die AfD und ihr rechtsextremes Umfeld darin lediglich als „Opfer“ angeblicher „Linksextremisten“ Erwähnung finden, wird jede Opposition gegen Kapitalismus, Nationalismus, Imperialismus und Militarismus und gegen die AfD als „linksextremistisch“ und „verfassungsfeindlich“ kriminalisiert.
Die SGP geht rechtlich gegen den Verfassungsschutzbericht vor und stützt sich dabei auf die einzige soziale Kraft, die die Rechtsentwicklung der herrschenden Klasse und all ihrer Parteien stoppen kann: die internationale Arbeiterklasse. Wir werden in den nächsten Wochen unsere Arbeit intensivieren und mit unseren Schwesterparteien in der Vierten Internationale darum kämpfen, die große Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen gegen die rechte Gefahr zu mobilisieren und mit einem sozialistischen Programm zu bewaffnen.