Verfassungsschutzbericht 2021: Rechtsextremismus dringt in bürgerliche Kreise vor

„Rechtsextremismus und Antisemitismus sind nach wie vor die größte Bedrohung in Deutschland“; Rechtsextreme haben im vergangenen Jahr vielfach „Seite an Seite mit bürgerlichen Demonstranten“ gestanden, die sich „häufig nicht klar von den rechtsextremistischen Mitdemonstranten und ihren Positionen abgegrenzt haben“.

Diese Sätze, mit denen Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Dienstag den Verfassungsschutzbericht 2020 vorstellte, zeigen, wie weit der Rechtsextremismus wieder in sogenannte „bürgerliche Kreise“ vorgedrungen ist. Sie sind umso bemerkenswerter, als Seehofer selbst dies bis vor kurzem strikt geleugnet hat. Als vor drei Jahren bekannte Neonazis und Vertreter der AfD an der Spitze eines rechten Mobs durch Chemnitz marschierten, hatte Seehofer noch erklärt, wenn er nicht Innenminister wäre, hätte er selbst an dem Aufmarsch teilgenommen. Nun stehen die meisten der damaligen Anführer der Demonstration im Verfassungsschutzbericht.

Verfassungsschutzpräsident Haldenwang und Innenminister Seehofer

Der Bericht zeichnet ein bedrohliches Bild. Seehofer sprach von einem „dicken Problem“ und einem „Alarmzustand“. Seehofer gab auch unumwunden zu, dass sich 90 Prozent des Antisemitismus aus dem Rechtsextremismus speise.

Der Verfassungsschutz zählte 2020 33.000 Rechtsextremisten, von denen ein Drittel gewaltbereit sei. Das sind 9000 mehr als vor zwei Jahren. Hinzu kommen 20.000 „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, die der Bericht gesondert zählt, obwohl sie ebenfalls rechtsextreme Standpunkte vertreten und aufgrund ihrer „Waffenaffinität“ ein besonderes „Gefährdungspotenzial“ darstellen.

Erstmals geht der Verfassungsschutz auch auf die zahlreichen rechtsextremen Seilschaften in der AfD und in ihrem Umfeld ein, die er in den vergangenen Jahren standhaft ignoriert hatte.

So bescheinigt der dem „Flügel“ um den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, er habe trotz seiner formalen Auflösung im April 2020 „nach wie vor Wirkungsmacht auf die Gesamtpartei der AfD“ und könne „als parlamentarischer Arm des neu­rechten Netzwerks bezeichnet werden“. Der Flügel sehe „die AfD insgesamt als Partei in der strategischen Rolle einer Fundamen­talopposition“ und trage „die Anliegen der Neuen Rechten in den parlamentarischen Raum“.

Als „rechtsextremistische Akteure der Neuen Rechten“ nennt der Bericht die „Identitäre Bewegung Deutschland“, das „Compact-Magazin“ Jürgen Elsässers, das „Institut für Staatspolitik“ Götz Kubitscheks, der Verein „Ein Prozent“ und die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland“. Obwohl diese Organisationen seit Jahren aktiv sind und ihre rechtsextreme Haltung von vielen Medien dokumentiert wurde, hatte sie der Verfassungsschutz bisher weitgehend ignoriert. Auch jetzt behandelt er sie nur als „Verdachtsfall“.

Die Entdeckung der rechtsextremen Gefahr durch Seehofer und den Verfassungsschutz hat nichts mit Sorge um Demokratie zu tun. Sie befürchten vielmehr, dass die Bevölkerung das Vertrauen in den staatlichen Sicherheitsapparat verliert, der im Zentrum der rechtsextremen Verschwörung steckt. Der Bericht – auch dies ist ein Novum – kommt nicht darum herum, die rechtsextremen Netzwerke im Staatsapparat wenigstens kurz zu erwähnen, weil sie, wie es heißt, „das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Organe“ gefährden.

Unter der Überschrift „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ steht: „In den vergangenen Jahren wurden mehrere Fälle bekannt, bei denen Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Einstellung von Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden vorlagen. Die Fälle reichten von Anhaltspunkten für antisemitische oder fremden­feindliche Haltungen über Chatgruppen, in denen entsprechende Inhalte verbreitet wurden, bis hin zur Beschaffung von Waffen und Munition für die Vorbereitung auf einen sogenannten Tag X.“

Doch der Bericht tut alles, um das wirkliche Ausmaß dieser Netzwerke und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, zu verharmlosen. Er nennt weder Namen noch Zahlen. Als einzige Organisation führt er den Verein „Uniter“ an, erwähnt aber nicht, dass es sich dabei um das sogenannte „Hannibal“-Netzwerk handelt.

Dieses Netzwerk, das hunderte Elitesoldaten, Polizisten und Mitglieder von Sicherheitsdiensten vernetzt, Waffen und Munition hortet, Kampftrainings durchführt und sich laut Insider-Aussagen auf einen bewaffneten Umsturz vorbereitet, wurde von André S., einem ehemaligen Ausbilder des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, aufgebaut. Obwohl es darüber umfangreiche Dokumentationen und Bücher gibt, findet sich im Verfassungsschutzbericht dazu kein Wort.

Fast täglich gelangen neue Einzelheiten über das Ausmaß der rechtsextremen Netzwerke im Staatsapparat ans Licht. So gab der hessische Innenminister gestern bekannt, dass sich in seinem Bundesland mindestens 49 aktive Polizisten an Chats mit rechtsextremen Inhalten beteiligt haben, darunter Beamte des Landeskriminalamtes, des Landespolizeipräsidiums und verschiedener hessischer Polizeipräsidien.

Bereits vor einer Woche hatte Innenminister Peter Beuth (CDU) das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Frankfurter Polizei aufgelöst, weil 20 seiner Beamten in diesen Chatgruppen Nazisymbole geteilt und Volksverhetzung betrieben hatten. Mittlerweile weiß man, dass 13 dieser rechtsextremen Beamten in Hanau im Einsatz waren, als dort ein Rechtsextremer neun Menschen erschoss. Die Angehörigen der Opfer hatten sich damals bitter über das Versagen der Polizei beschwert.

Ebenfalls diese Woche wurde bekannt, dass eine in Litauen stationierte Bundeswehreinheit mit einem Lied Hitlers Geburtstag gefeiert hat und durch rassistische Sprüche, rechtsextremistische Äußerungen und sexuelles Fehlverhalten aufgefallen ist.

Der Verfassungsschutz ist selbst Teil der rechtsextremen Netzwerke im Staatsapparat. Die Rolle seiner Beamten und V-Leute im NSU-Terrornetzwerk und beim Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hält er bis heute geheim. Hans-Georg Maaßen, der das Bundesamt für Verfassungsschutz von 2012 bis 2018 leitete und die Auswahl des Personals beeinflusste, ist selbst ein Rechtsextremer. Thomas Haldenwang, sein Nachfolger an der Spitze des Verfassungsschutzes, war fünf Jahre lang sein Stellvertreter.

Kürzlich veröffentlichte Cato, ein Magazin der Neuen Rechten, einen Hetzartikel von Maaßen, der die Einwanderung als „orchestrierte“ Maßnahme zur „Zersetzung unserer Gesellschaften“ bezeichnet. Sie sei Teil einer perfiden Strategie, zu der auch die „Entwurzelung“ von Menschen und die Zerstörung von „Traditionen und Nationalkulturen“ gehöre. Das Volk solle in eine „anonyme, atomisierte Masse“ verwandelt werden, um eine Diktatur zu erreichten. Drahtzieher dieses Unterfangens seien die „vormals sozialistischen Linken“ und die „Wirtschaftsglobalisten“. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete Maaßen deshalb als „Steve Bannon von Thüringen“.

Selbst die Grünen sind in Maaßens Augen Linksextreme. Damit die CDU eine gemeinsame Bundesregierung mit den Grünen bilde, sagte Maaßen der Neuen Zürcher Zeitung, müssten sie „sich von ihren linksradikalen Positionen und ihrer ökosozialistischen Ideologie distanzieren und klarstellen, dass sie sich von der linksextremen Szene abgrenzen“.

Im Fall der Grünen, einer staatstragenden Partei, die in elf Landesregierungen sitzt und sieben Jahre lang den deutschen Außenminister stellte, ist das natürlich Unsinn. Aber die Diffamierung von Gegnern des Kapitalismus, Sozialisten und Kriegsgegnern als „Linksextremisten“ und das Vorgehen gegen sie ist die eigentliche Aufgabe des Inlandsgeheimdiensts, der nicht die Verfassung, sondern die kapitalistische Herrschaft schützt.

Unter Maaßen hatte der Verfassungsschutz die Sozialistische Gleichheitspartei, die deutsche Sektion der Vierten Internationale, 2018 erstmals als „linksextremistische“ Organisation in ihren Bericht für das Jahr 2017 aufgenommen. Begründet wurde dieser Angriff auf die SGP damit, dass sich ihre Agitation und Programmatik „gegen die bestehende, pauschal als ‚Kapitalismus‘ verunglimpfte staatliche und gesellschaftliche Ordnung, gegen die Europäische Union (EU), gegen vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus sowie gegen die Sozialdemokratie, Gewerkschaften und auch gegen die Partei DIE LINKE“ wende.

Die SGP hat den Verfassungsschutz deshalb verklagt, die Klage kam aber bisher nicht zur Verhandlung. Auch in den folgenden Jahren führte der Verfassungsschutz die SGP wieder in ihrem Bericht auf. Im vergangenen Jahr ersetzte er die oben zitiert Passage durch den Absatz: „Die SGP geht von einem mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden marxistischen Klassendenken sowie einer Propagierung des Klassenkampfes aus. Sie fordert den Sturz des ‚Kapitalismus‘ – nicht allein bezogen auf das Wirtschaftssystem, sondern als Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“

Dieser Absatz findet sich fast wortgleich im neuen Bericht wieder.

Die SGP wird vom Verfassungsschutz also in ihren Grundrechten beschränkt, weil sie – mit legalen und demokratischen Mitteln – gegen ein kapitalistisches System kämpft, das auf der ganzen Welt nur noch extreme soziale Ungleichheit, Umweltzerstörung, Krieg und Diktatur hervorbringt. Der Verfassungsschutz selbst ist ein wichtiger Bestandteil der Diktaturvorbereitungen.

Der Verfassungsschutzbericht bemüht sich an mehreren Stellen, „Linksextremismus“ pauschal mit Gewalt gleichzusetzen – ein fadenscheiniger Vorwand, um gegen jede Art von sozialer und politischer Opposition vorzugehen. So heißt es darin: „Gewalt ist für Linksextremisten seit jeher ein strategisches Instrument. … Aus der totalitaristischen Überzeugung heraus, dass nur die eigene Ideologie gut und richtig ist, werden sämtliche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ignoriert.“

Dem „nicht gewaltorientierten dogmatischen Linksextremismus“ – wozu der Verfassungsschutz auch die SGP zählt – wird vorgeworfen, er sei „trotz fehlender parlamentarischer Relevanz im politischen Meinungsdiskurs durchaus in der Lage, alte und neue Anhänger mit linksextremistischen Themen und Ideologiefragmenten zu indoktrinieren und als geis­tige Wegbereiter dazu beizutragen, den Linksextremismus weiter­hin zum Teil des Alltagsgeschehens zu machen“. Politische Überzeugungsarbeit für ein sozialistisches Programm wird so in „Indoktrination“ und geistige Brandstiftung verwandelt – das klassische Argument jeder Diktatur.

„Linksextremistische Straf- und Gewalttaten“ werden im neuen Verfassungsschutzbericht entsprechend aufgebauscht. Haldenwang sprach bei der Vorstellung des Berichts von „erneut angestiegener Brutalität und Gewaltbereitschaft“ und 34 Prozent mehr linksextreme Gewalttaten. Schaut man den Bericht näher an, handelt es sich dabei vor allem um Auseinandersetzungen mit Rechtsextremisten. Auch Proteste gegen den Bau von Autobahnen und das Abholzen von Wäldern hält der Verfassungsschutz für linksextrem unterwandert.

Die herrschende Klasse verschärft ihren Kampf gegen Linke, weil sie sich auf heftige Klassenkämpfe vorbereitet. Über 90.000 Corona-Tote als Folge der „Profit vor Leben“-Politik, die Zerstörung hunderttausender Arbeitsplätze in der Auto-, Zulieferer- und anderen Industrien, die militärische Aufrüstung und Kriegsvorbereitung lassen sich nicht mit demokratischen Herrschaftsformen vereinbaren.

Die Sozialistische Gleichheitspartei tritt mit einem sozialistischen Programm zur Bundestagswahl an, das sich gegen soziale Ungleichheit, Kapitalismus, Krieg und Diktatur richtet. Wir fordern die Auflösung des Verfassungsschutzes. Wir rufen alle Leser der WSWS auf, den Wahlkampf der SGP und ihren juristischen Kampf gegen den Verfassungsschutz zu unterstützen.

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