Wo bleibt unser Zola?

Ein Roman über das Leben der Arbeiterklasse ist heutzutage die Ausnahme von der Regel. Im 21. Jahrhundert neigt das amerikanische Verlagswesen dazu, seinen thematischen Schwerpunkt auf Fragen zu legen, die die Mittelklasse umtreiben: Themen der Identitätspolitik und pessimistische Themen - denn die Krisen des Kapitalismus haben sich verschärft.

Es ist nicht unbedingt so, dass über das Arbeitsleben keine Bücher mehr geschrieben würden. Eher liegt es an der Verlagsbranche, die nach solchen Büchern nicht gerade sucht.

Ausnahmen gibt es. Der Tod des Schriftstellers Russell Banks Anfang des Jahres war ein echter Verlust. Über John M. Hamiltons Roman „A Hell Called Ohio“ von 2013 haben wir kürzlich geschrieben. Und Tess Guntys Roman „The Rabbit Hutch“ (deutsch: „Der Kaninchenstall“, Juli 2023), der das Leben einer jungen Kassiererin im heruntergekommenen Rust Belt schildert, ist 2022 mit dem National Book Award ausgezeichnet worden.

Emile Zola, 1898 (Foto: Nadar)

Die Angaben darüber, wie viele neue Bücher (Belletristik und Sachbücher) in den USA jährlich veröffentlicht werden, gehen stark auseinander. Man geht jedoch davon aus, dass die Zahl zwischen 500.000 und 1 Million liegt. Hinzu kommen 1,5 Millionen Bücher, die im Selbstverlag veröffentlicht werden. Trotz dieser scheinbar großen Zahl nehmen die etablierten Verlage nur 1 bis 2 Prozent der Romane an, die in einem Jahr fertiggestellt werden.

Anhand der Verkaufszahlen lässt sich berechnen, welche Literaturgattungen besonders beliebt sind. Die Dauerbrenner sind Liebesromane, Krimis/Thriller und Science Fiction/Fantasy. Ebenfalls beliebt sind Bücher für Kinder und Jugendliche und Graphic Novels, bzw. Comics im Buchformat. Laut einer Umfrage von Goodreads.com war das unbeliebteste Genre die literarische Fiktion, also die Kategorie, zu der auch die sozialrealistische Fiktion gehört.

Ernsthafte Belletristik wird also aufgrund der Unpopularität des Genres und der Auswahlkriterien der Verlage und wegen des Drucks, den das Bürgertum auf das Verlagswesen ausübt, nur relativ selten veröffentlicht. Was es gibt, befasst sich vor allem mit den Problemen und Interessen der professionellen Literaturszene.

Im Großen und Ganzen stoßen Romane, die sich aufrichtig mit der Darstellung des täglichen Kampfs von Arbeiterinnen und Arbeitern befassen – vorausgesetzt, solche Romane werden geschrieben – auf erhebliche Hürden, um publiziert zu werden. Die erste solche Hürde ist die Suche nach einem Literaturagenten.

Literarische Torwächter

Agenten sind die Torwächter der Verlagsbranche. Schriftsteller müssen einen Agenten finden, der ihren Roman bei den Verlagen vertritt. Fast kein Roman wird an einen Verlag weitergeleitet, ohne dass er dem persönlichen Geschmack eines Agenten entspricht. Wer also sind diese Literaturagenten?

Ein kurzer Blick auf die Websites der größten und renommiertesten Agenturen im Bereich der Literatur verrät viel über ihre Agenten und die Bücher, die diese vorschlagen. Vielleicht die Hälfte dieser Schiedsrichter des Publikumsgeschmacks sind Leute in ihren 20ern, die gerade ihr Studium der Anglistik oder der vergleichenden Literaturwissenschaft abgeschlossen haben. Diese Agenten, die wie alle anderen Mittzwanziger die Routinearbeit der Branche verrichten, werden mit Anfragen (Vorschlägen) von Schriftstellern überschwemmt. Die besten Chancen haben dabei natürlich die Anfragen, die den Vorlieben der Agenten entsprechen. Und welche sind das?

Wenn man sich die Selbstdarstellungen dieser jungen Agenten (und auch der nicht mehr ganz jungen) ansieht, stößt man immer wieder auf Sätze wie: „Ich habe eine Schwäche für gute Fantasy“, „Ich suche Kinder- und Jugendbücher“, „Ich interessiere mich für Erzählungen mit einer starken weiblichen Hauptfigur“, und: „Mich interessieren frische Neuinterpretationen von Mythologie und Märchen für Erwachsene“. Solche Vorlieben herrschen selbst bei den Agenten vor, die auch „literarische/Buchclub“-Belletristik – also offenbar seriöse Texte – anfragen.

Natürlich sind viele dieser Agenten für qualitativ hochwertige Texte und ernsthafte Themen empfänglich, und gute Werke werden auch veröffentlicht. Man kann ihnen auch nicht vorwerfen, dass sie versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Schließlich lässt sich Fantasy gut verkaufen. Aber unabhängig von Besonderheiten der einzelnen Agenten repräsentiert ihr Geschmack im Wesentlichen die Einstellung, die in der oberen Mittelschicht ­­– Leser und Autoren gleichermaßen – zur Literatur vorherrscht. Und dies ist in der heutigen Zeit, einer entscheidenden historischen Epoche, die Suche nach Vorbildern, nach „starken“ Typen, und die Flucht in die Kindheit, die Magie und eine romantisierte Vergangenheit.

Wo es sich in der zeitgenössischen Belletristik um reife Themen und realistische Schauplätze handelt, geht es um Probleme wie Ehebruch, Alkoholismus, Sexismus (um nur einige zu nennen), wobei diese Probleme dann jeweils durch einen „starken“ Protagonisten „überwunden“ werden. Im Zentrum stehen individuelle Zähigkeit, Mut, Entschlusskraft und Improvisationstalent.

Man vergleiche einen solchen Ansatz einmal mit dem Herangehen eines Romans wie „Germinal“ (1885) von Émile Zola an die menschliche Erfahrung. Zola stellt uns eine Bergarbeitergemeinde in Nordfrankreich in fast brutaler Nüchternheit vor, und seine Protagonisten sind weder stärker noch schwächer, als man es unter den gegebenen Umständen erwarten kann. Mehrmals zeigen die Figuren, von denen Zola erzählt, auch individuelle Entschlossenheit, aber die Stärke des Romans, die der Wirklichkeit im Kapitalismus entspricht, besteht gerade darin, dass die Entschlossenheit des Einzelnen eben der Klassenunterdrückung, der Ausbeutung und der entwürdigenden Armut nicht gewachsen ist.

Auch in den Vereinigten Staaten des Jahres 2023 herrscht an solcher Unterdrückung, Ausbeutung und Armut kein Mangel. Viele Arbeiter stehen 12-Stunden-Schichten durch, und der Lohn für ihre gefährliche und entwürdigende Arbeit hält mit der Inflation nicht Schritt. Ganze Heerscharen von Arbeitern sind gezwungen, sich mit Billigjobs im Kleinhandel, in der „Gig“-Ökonomie oder bei Uber, Lieferando und Amazon durchzuschlagen. Wie die WSWS berichtet hat, kehrt im heutigen Kapitalismus sogar Kinderarbeit in erheblichem Maße zurück.

Erstausgabe von „Germinal“ von Émile Zola

Wo, so dürfen wir fragen, bleibt unser Zola? Unser Dickens, unser Tolstoi, oder die Dreisers, Hemingways, Dos Passos und Steinbecks unserer Zeit? In andern Worten: Wo sind die Autoren, die, wenn auch nicht unbedingt Sozialisten, so doch Menschen sind, die erkannt haben, dass die Gesellschaft selbst krank ist und der schonungslosen Kritik bedarf, und dass das Leben der Unterdrückten wertvoll ist und es verdient, dass man sich damit befasst?

Ganz zu schweigen von den Autoren, die, wie Zola, bis zu einem gewissem Grad erkannt haben, dass die Arbeiterklasse potenziell ungeheuer mächtig ist. In „Germinal“ ist die organisierte Arbeiterklasse in mehreren, bewegenden Kapiteln der stärkste Protagonist.

Das Auftauchen eines Zola oder eines Dreiser war nicht einfach eine Frage ihres jeweiligen persönlichen Willens oder ihrer Aufrichtigkeit. Historische Ereignisse und politische Prozesse, einschließlich der Entstehung einer großen sozialistischen Arbeiterbewegung, spielten eine entscheidende Rolle. Die WSWS hat oft über die immense sozialistische Kultur geschrieben, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand. Die komplexe, aber produktive Interaktion zwischen Kunst und Sozialismus war ein dominierendes Merkmal des kulturellen Lebens in den Jahrzehnten, die der russischen Revolution von 1917 vorangingen.

Zola und andere profitierten von einer historischen Periode, in der das Klassenbewusstsein der Arbeiter zunahm. Auf Perioden brutaler Unterdrückung folgten Massenunruhen: Die Pariser Kommune von 1871 ging Germinal nur 14 Jahre voraus. Unter den Arbeitern und in der europäischen Intelligenz breiteten sich sozialistische Ideen aus.

Unsere heutige Situation birgt zahlreiche Schwierigkeiten, und nicht die geringsten davon sind die ideologischen Spuren, die die Verbrechen des Stalinismus hinterlassen haben. Aber als Reaktion auf die Angriffe der herrschenden Elite, die Pandemie und die Gefahr von Krieg und Diktatur entsteht in der Arbeiterklasse eine mächtige Bewegung. Diese Bewegung wird unweigerlich dazu beitragen, die Wolken von Skepsis und Pessimismus zu vertreiben. Sie wird das gesellschaftliche Wissen und Denken von sozialistisch gesinnten Künstlern vorantreiben. Wir werden unseren Zola noch bekommen.

Kunst und Identität

Besonders schädlich für die künstlerische und literarische Kultur unserer Gesellschaft ist das neue, inoffizielle Diktum, dass ein Künstler kein Thema wählen, keine Welt darstellen und keinen Protagonisten erschaffen dürfe, der sich in Hautfarbe oder Geschlecht vom ihm selbst unterscheide.

Diese Position wird derzeit von einer egoistischen Schicht der oberen Mittelklasse eingenommen. Das läuft letztlich auf ein Gerangel um die begrenzte Anzahl von Dollars hinaus, die für Kunst, Literatur und Musik ausgegeben werden. „Bleib in deiner Spur“, lautet der gängige Refrain für dieses selbstsüchtige Verbot, und ein beunruhigend großer Anteil ansonsten seriöser Künstler gehorcht ihm feige.

Ein Schriftsteller, mit dem der Autor kürzlich sprach, prahlte mit betonter Bescheidenheit, dass er niemals über eine Gruppe schreiben würde, von deren Unterdrückung er profitiert habe. Und das war keineswegs ein Konzernmanager! Selbst wenn ein solches, über die allgemeine Klassenunterdrückung hinausgehende Unterdrückungsverhältnis bestünde – was im Jahr 2023 eher zweifelhaft ist – dann ist doch der logische Schluss daraus wenig einleuchtend, dass man darüber nicht schreiben dürfe.

Buchumschlag für Theodore Dreisers „Amerikanische Tragödie“, die 1925 in zwei Bänden erschien

Kunst ist immer eine Annäherung, und nie gelingt sie vollständig. Aber wenn sie gut gemacht ist, dann umfasst sie in ihrem Akt des Erforschens und des Mitfühlens sowohl das Anderssein als auch die Identität von Autor, Leser und Subjekt. Das Subjekt vom Künstler zu trennen, bedeutet, das Wesen der Kunst selbst zu leugnen und eine Tätigkeit zu verleugnen, die für das menschliche Sein grundlegend ist.

Émile Zola war kein Bergmann, und er hat vom Kohleabbau profitiert. Aber niemand vor oder nach ihm hat wirkungsvoller und eindringlicher über Bergarbeiter und den Bergbau geschrieben. Als Zola starb, schlossen sich seinem Trauerzug bezeichnenderweise auch Bergarbeiter aus Nordfrankreich an.

„Sensitivity Readers“

Mit dem Aufkommen der Identitätspolitik ist eine neue Form der Zensur im Verlagswesen entstanden. Die neuen Zensoren werden „Sensitivity Readers“ genannt.

Kurz gesagt, fungieren sie als Inquisitoren der Verlagsbranche für die sogenannten Themen Diversity/ Verschiedenartigkeit, Equity/Fairness und Inklusion. Sie durchforschen Manuskripte auf der Suche nach potenziell „anstößigen“ oder „unzutreffenden“ Textstellen.

Sensibilitätsleser sind in der Regel Freiberufler, die sich selbst als Ware zum Verkauf anbieten: wegen ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder anderer körperlicher oder kultureller Eigenheiten, die für die Verlage von Nutzen sein können. Die Verlage ziehen diese Personen in der Regel hinzu, um ein Manuskript zu prüfen, dessen Autor möglicherweise „vom Weg abgewichen“ ist oder auf andere Weise Gefahr läuft, als „problematisch“ gebrandmarkt zu werden.

„Ich bearbeite nie direkt den Text“, sagte Helen Gould (Spezialgebiete: Rasse und psychische Gesundheit) vor kurzem dem britischen Guardian. Die Guardian-Autorin Lucy Knight berichtet über das Gespräch: „Wenn man sie bittet, einen Text zu lesen, wird [Gould] ihn lesen, Abschnitte kommentieren, an denen ihrer Meinung nach spezifische Änderungen vorgenommen werden könnten ... und ein allgemeines Feedback geben.“ Knight beruhigt die Leser: „Autoren und Redakteure können dann entscheiden, ob sie ihre Vorschläge annehmen und Änderungen vornehmen, ob sie sie ignorieren oder ob sie um weitere Diskussionen bitten.“

Die Wahrheit ist, dass kein Redakteur heute riskieren wird, einen Verleger, der sein Arbeitgeber ist, dem Vorwurf der „Unsensibilität“ auszusetzen. Und der Autor – immer auf der untersten Sprosse der Leiter – wird sich gezwungen sehen, die Änderungen zu akzeptieren oder auf die Bezahlung für die Arbeit von einem Jahr oder mehr zu verzichten. Das sind die Mechanismen, die im Kapitalismus über Kunst entscheiden.

Der Guardian, ein liberales und „humanitäres“ Sprachrohr des britischen und US-amerikanischen Imperialismus, beharrt darauf, dass dies völlig normal sei. Sensibility Readers seien nichts Neues, denn: „Es war schon immer in Aspekt der Aufgabe von Buchredakteuren, zu bedenken, wie der Text wahrgenommen wird“. Dies ist ein oberflächliches und verlogenes Argument.

Buchredakteure sind im Idealfall sehr gebildete Leute, deren erste Sorge der künstlerischen Qualität und dem sozialen Wahrheitsgehalt eines Werkes gelten sollte. Redakteure wissen, dass Erzähler manchmal unzuverlässig und unvollkommen und zuweilen geradezu widerlich sein können. Sie wissen, dass manche Romanfiguren, genau wie die Menschen, Gedanken hegen, die (in Mark Twains Worten) „den Teufel beschämen würden“. Gute Lektoren wissen, dass es in Wahrheit so manches gibt (sowohl im Kopf als auch außerhalb), was anstößig ist. Doch die Aufgabe des Sensibilitätslesers ist es gerade, solche Texte im Namen der unfähigsten Leser auszumerzen, nämlich derjenigen Leser, die sich durch die objektive Realität beleidigt fühlen und sie deshalb nicht sehen wollen.

Wer der Kultur die Identitätspolitik der oberen Mittelschicht auferlegt, handelt wie ein Zensor und Philister. Dies ist reaktionär, denn die Identitätspolitik und die Sprache der „Beleidigung“ und „Sensibilität“ richtet sich letztlich gegen die Arbeiterklasse und ihre demokratischen Rechte. Begriffe wie „Beleidigung“ und „Sensibilität“ sind nebulöse Abstraktionen. Sie unterliegen einer breiten, um nicht zu sagen schädlichen Auslegung. Heute gilt es vielleicht als beleidigend, jemanden als „fett“ zu bezeichnen, aber in Zukunft könnte auch gelten, dass Fragen der Klasse, des Klassenkampfs und des Sozialismus „verstörend“ und beleidigend sind. In der Tat werden in den USA und weltweit Antikriegserklärungen und -versammlungen von ukrainischen Nationalisten als „unsensibel“ bezeichnet.

Das heißt, die Identitätspolitik ist nicht nur ein Karrieresprungbrett für Teile des Kleinbürgertums. Sie dient auch als Instrument zur Unterdrückung der Arbeiterklasse.

„Blackout“-Aufführungen von Stücken, bei denen Nicht-Schwarze im Theater nicht willkommen sind (wie z. B. eine 2021 in Harvard inszenierte Neuauflage von „Macbeth“), zeugen von einer virulent anti-intellektuellen und kunstfeindlichen Entwicklung. Weitere Beispiele sind die aktuelle rechte Verbotsorgie von Büchern und die russlandfeindliche Absage einer geplanten Aufführung der „Leningrader Sinfonie“ des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch durch die New Yorker Philharmoniker. Diese üble Tendenz verleugnet wahre Kultur, indem sie die Menschen nach Hautfarbe, Nationalität und Religion spaltet.

Aber der Kapitalismus belastet die Arbeiter – alle Arbeiter – über ihre Belastbarkeit hinaus, und die Streiks und Proteste, an denen sie sich zunehmend beteiligen, ignorieren diese künstlichen Trennlinien und heben sie auf. In dem unbeständigen Umfeld intensiver Reaktionen und anwachsender Militanz kann die Kunst, die sich mit der Lebensrealität der Arbeiterklasse – aller Arbeiter – befasst, nicht mehr lange unterdrückt werden.

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